Unvoreingenommen kann man Alle Pferde des Königs nicht lesen. Dazu gibt es zu viel an Information neben, vor und hinter diesem Roman. So ist bekannt, dass Michèle Bernstein als Mitglied der Situationistischen Internationale die Kasse der Gruppe aufbessern wollte, und seltsamerweise schien Ende der 1950er-Jahre ein Roman ein geeignetes Instrument dafür zu sein. Der Plan war, dem Publikum mehr von dem geben, wonach es vorher schon verlangt hatte, mehr Françoise Sagan, viel Sommer und gebräunte Haut, behagliche Französismen, Jazzplatten, und das als Künstlerroman und ins Repertoire einer kleinformatigen Libertinage verpackt. Da das flüssig geschrieben war und erzählerisches Geschick zeigte, ging die „kleine Operation in Sachen Zweckentfremdung“ (Roberto Ohrt) auf. Bernsteins Roman war kommerziell erfolgreich.
Schon in den ersten Zeilen lernt das Paar Gilles und Geneviève die jungenhafte Carole kennen, später kommen Bertrand und Helène dazu. Dabei wird die freundlich dahinfließende Genießbarkeit der sich entwickelnden libertinen Situation von einer aggressiven Jugendlichkeit punktiert. Die Neigung zu kühlen Urteilen weist außerdem auf die situationistische Grundierung der Szenerie hin. Die Hauptfiguren wollen „weder Ästheten noch Dilettanten“ sein, beschäftigen sich „mit der Verdinglichung“ oder reisen in andere Städte, um „einen Skandal“ zu machen; außerdem laufen auch sie nachts gerne mal durch die Stadt. Und so wird der Roman auch immer wieder, nicht unliterarisch, zum Reflexionsmedium seiner selbst. Gilles: „Es gibt Spielregeln … Romane und Bilder werden nach Rezepten komponiert, die gerade genehm sind. Dennoch erwirbt man sich gewisse Verdienste, wenn man sich die Klischees seiner Epoche auf vernünftige Weise zunutze macht.“
Doch trotz der offensichtlich „vernünftigen“ Nutzung dieser Spielregeln und Klischees ging man innerhalb der SI über Alle Pferde des Königs, wie Ohrt in seinem Buch Phantom Avantgarde erwähnt hat, mit Stillschweigen hinweg. Vor diesem Hintergrund wirkt die erzählerische Auswirkung von Perspektivierung, hier als geschlechtliche Belegung des „Ich“ omnipräsent, wie eine Entschädigung. Zwar ist es nicht unbedingt so, dass Bernstein (langjährige Ehefrau von Guy Debord) in einschlägigen Darstellungen der SI unter den Tisch fallen würde, ausführlich erwähnt wird sie jedoch ebenfalls nicht. Es ist ein bisschen wie auf den Fotos von SI-Zusammenkünften: Es ist immer gerade eine Frau mit drauf. In Alle Pferde des Königs wird diese Präsenz zudem durch anfangs nur durchschimmernde, später offener präsentierte gleichgeschlechtliche Anliegen betont, wobei nicht entscheidbar ist, ob es sich dabei um die inauthentischen Darstellungen der inauthentischen Erfahrung einer „sexuellen Politik“ handelt oder ob man es mit einem libertinären Übertretungswunsch zu tun hat.
Jedenfalls kommt es gegen Ende des Romans gewissermaßen zu einer sadistischen Wende. Zurück in Paris wird hart durchgegriffen, und die verschiedenen Geliebten werden ausgemustert. Damit will Geneviève sich und Gilles beweisen, was für eine gute Schülerin seiner Lehren der Kälte sie war. Die Erzählerin legt so ihrerseits offen, dass Choderlos de Laclos’ Gefährliche Liebschaften eines der literarischen Modelle war, daher wechselt sie auf den letzten Seiten auch ins Genre des Briefromans. Eine verstoßene Geliebte (die „langweilige“ Helène) schreibt an den „selbstsicher gelassenen“ Bertrand, der diesen Brief an Geneviève und Gilles weitergibt, die darin über sich lesen können: „Das sind schwachsinnige Leute von der Sorte, die es überall gibt … Diese beiden ziehen ihren Vorteil aus dem Anschein von Intelligenz, so wie es die Steinreichen mit ihrem Geld tun. Doch was verbirgt sich hinter den krassen Widersprüchen ihres Lebens? Nichts als ein gähnender Abgrund schlechten Geschmacks.“
Selbst in dieser grob selbstironischen Passage zeigen sich die Spiele der Täuschung klarer, als das im Rest dieses Romans sonst üblich ist. Wenn hier also vielleicht auch eine „vernünftige“ oder parodierende Zweckentfremdung am Werk war, so vermisst man in Alle Pferde des Königs doch zumindest eine gewisse Frische von Modernität, wie sie sich zum Beispiel manche Filme der Nouvelle Vague lange erhalten haben. Anders gesagt: Das Frische dieses Romans wirkt seltsam generisch, da es auf Motiven beruht, die auch heute noch die Stereotypien der „Stimmung“ dieses Orts und dieser Zeit abgeben könnten.
Allerdings hat Bernstein die Schrauben im Jahr darauf etwas angezogen, indem sie einen weiteren Roman herausbrachte. Unter dem Titel Die Nacht erzählte sie darin die Geschichte von Alle Pferde leicht erweitert ein zweites Mal, versetzte den Text allerdings ins Futur I und II und in die dritte Person Singular. Diese spätere Parodie des vorherigen Pastiches wirkt heute, selbst ungelesen, vom Methodischen her reizvoller, als sich Alle Pferde liest. Aus der Ich-Perspektivierung wurde in Die Nacht: „Geneviève wird sich gefragt haben“, „anstandshalber werden wir aufgestanden sein müssen und gefrühstückt haben“ oder: „Romane und Bilder werden nach Rezepten komponiert werden, die genehm sein werden“. Eigentlich schade, dass diese beiden Bücher nicht Rücken an Rücken erschienen sind.