Heft 3/2015 - Netzteil


Raumsehen in Stereo

Zu den Aussichten eines experimentellen 3D-Kinos

Christian Höller


Er habe absolut kein Interesse, einen Film in 3D zu machen, meinte der japanische Avantgardefilmer Takashi Ito bei einem Publikumsgespräch auf den diesjährigen Oberhausener Kurzfilmtagen. Itos imposantes, knapp 40-jähriges Schaffen war vom Festival mit einer Retrospektive bedacht worden, zugleich sollten unter dem etwas verschmitzten Motto „Das Dritte Bild“ die Möglichkeiten eines experimentellen 3D-Kinos aufgezeigt werden. Wobei die Engführung von Avantgardetradition und stereoskopischem Filmexperiment nur bedingt gelingen wollte. So war Itos Box (1982) eher unfreiwillig auch in einem der 3D-Programme gelandet, wo er sich augrund seiner elaborierten Machart zwar mühelos behaupten konnte, zugleich aber auch wie ein störrischer Fremdkörper wirkte. Box ist ebenso wie Itos anderer früher „Klassiker“ Spacy (1981) aus zig Einzelfotografien gefertigt, die kunstvoll ineinander verschachtelt völlig neue Raumkonstrukte erschaffen – im Fall von Box ein dynamisches Tableau aus Architektur- und Landschaftsaufnahmen, das sich auf der Oberfläche eines rotierenden Würfels entfaltet.
Inwiefern dies mit dem Prozess des stereoskopischen Raumsehens (dem Inbegriff von 3D) zusammengeht, blieb indessen unbestimmt. Man könnte hier sogar entgegengesetzte Vektoren am Werk sehen: Geht es bei 3D doch darum, dass das Gehirn aus zwei unterschiedlichen, für jedes Auge entsprechend gefilterten Bildern einen durch und durch illusionistischen Raumeindruck zusammensetzt, der in der „natürlichen“ Wahrnehmung (auch der eines Filmbildes) so nicht gegeben ist. Demgegenüber zielen die Raumanalysen des Avantgardefilms meist darauf ab, die Illusion einer einheitlichen, glatten Raumsicht auseinanderzunehmen, ja ihre Konstruiertheit anschaulich zu machen. Hier die Synthese zu etwas für das Auge im Prinzip Unsichtbarem, dort die Auftrennung des synthetisierenden Sehens bzw. die Sichtbarmachung seiner elementaren Bauteile. Letzteres wieder an den Prozess des 3D-Sehens rückzukoppeln, wurde jüngst etwa von Jean-Luc Godards Adieu au langage (2014) als durchaus zukunftsweisende Option erprobt. Godards Auffrischung des Verfahrens mag mit ein Anlass für die großflächigere Suche nach dem „Dritten Bild“ gewesen sein. Leider wurden die zusammengetragenen Fundstücke dieser Vorgabe aber nur vereinzelt gerecht.
In Summe bildeten die sechs Programmblöcke die seit einigen Jahren wieder erstarkte 3D-Konjunktur etwas zu willfährig ab. Erfuhr doch der stereoskopische Film, nach jahrzehntelangem Exil in IMAX- und anderen Spektakelzusammenhängen, nicht zuletzt deshalb eine Wiederbelebung, um räumliche Vorgänge noch echter, sprich überwältigender erscheinen zu lassen. Naturphänomene, Tanz- und Actionszenen – all das, was man geradezu klischeehaft mit 3D verbindet, hatte auch der Oberhausener Themenschwerpunkt en masse zu bieten, und zwar ohne tiefgründigeres, dialektisches Augenzwinkern. Als kontraproduktiv erwies sich zudem, dass der für jedes Programm gewählte Themenfokus (Wirklichkeitsanmutung, Raumabtastung, Oberflächenwirkung etc.) durch die darunter subsumierten Werke fortwährend aufgeweicht wurde, etwa durch das Miteinbeziehen von Filmen wie Itos Box oder Christine Noll Brinkmanns Die Urszene (1981), was insgesamt von einer konzentrierteren Auseinandersetzung mit den 3D-immanenten Potenzialen eher ablenkte, anstatt diese zu befördern.
Ganz bei sich bzw. mit am gelungensten abgehandelt fand sich die Thematik in Lucy Ravens Installation Curtains (2014). Ravens anschauliche Dekonstruktion des 3D-Verfahrens (noch dazu des als minderwertig angesehenen anaglyphischen) basiert auf einer simplen Idee: Eine Raumansicht wurde einmal von links (mit Blaufilter) und einmal von rechts (mit Rotfilter) mit der Kamera abgefahren; projiziert werden beide gleichzeitig, und zwar so, dass sie sich, von entgegengesetzten Richtungen her, langsam zu überlagern beginnen. Kommen sie zur Deckung, schaltet die Wahrnehmung ruckartig in den 3D-Modus, um sich anschließend, während des Auseinanderdriftens der Bilder, nur unwillig davon zu lösen bzw. sporadisch auch räumlicher Desorientierung ausgesetzt zu sein. Besser auf den Punkt bringen lässt sich der im stereoskopischen Film wesentlich mitbeteiligte, meist jedoch zu verbergen versuchte Konstruktionsakt kaum. Verblüffend einfach wird so das technische Prinzip ersichtlich, das, Schicht für Schicht, ein „anderes“ räumliches Sehen zuallererst ermöglicht.
Dass die in Curtains verwendeten Einstellungen typische Arbeitsstätten von Hollywood-Postproduktionsfirmen zeigen, tut dabei ein Übriges. Wird doch der industrielle Fertigungsprozess, der den handelsüblichen 3D-Spektakeln zugrunde liegt, kaum je einem öffnenden Blick unterzogen. So wie auch die grundlegende Technik des stereoskopischen Films, ausgenommen bei Godard und wenigen anderen, kaum je für das freie Auge exponiert wird. Der Amerikaner Tim Garaghty macht dies in seinem Film Something Might Happen (2014) gleichsam zum Programm. Beiden Augen werden, ermöglicht durch die zwei unterschiedlichen Filter, komplett verschiedene Bilder, in diesem Fall Landschaftsaufnahmen, dargeboten. Am Rest „scheitert“ notgedrungen das Gehirn, weil sich daraus schlichtweg kein synthetisches Raumbild herstellen lässt. „Ghosting“ nennt sich dieses Irritationsmoment, bei dem ständig ein hartnäckiges Zweitbild in der Vision herumspukt und solcherart demonstriert, dass im Gesehenen womöglich mehr mit am Werk ist als das tatsächlich vom Auge oder Gehirn Erkannte.
Arbeiten wie jene von Raven oder Garaghty, die das 3D-Verfahren analytisch auseinandernehmen, waren in der Schau jedoch rar. Es dominierten technisch hochgezüchtete Tanz-, Natur- und Fantasy-Filme bzw. hypertrophe Musikclips, die allesamt ein wenig an die euphoriegetriebenen Leistungsschauen elektronischer Kunst erinnerten. Dabei bietet sich 3D bestens für eine optisch-konzeptive Fragmentierung herkömmlicher Erzählmuster an. Sebastian Buerkner hat in seiner Arbeit The Chimera of M. (2013) genau das im Sinn. Buerkner inszeniert die Wiederbegegnung dreier Menschen als gezielt mit unterschiedlichen Raumtiefen operierendes Setting aus Objektwahrnehmungen, Erinnerungsresten und Einbildungselementen. Die konzise in den Filmtext gewobenen Dialogfragmente steigern den in dieser Überlagerung angelegten Unentscheidbarkeitsaspekt: Befindet man sich in einem abstrahierten Realraum, in einem opak gewordenen Erinnerungspalast, in einem schimärenhaften Raumkonstrukt oder in einem Gemisch aus allen dreien? Der Film schafft es, dies über seine gesamte Dauer nicht preiszugeben.
Dass 3D nicht notwendig nur der Intensivierung illusionistischer Bildanmutung dient, sondern durchaus auch auf deren Gegenteil abzielen kann, wird an den in Oberhausen gezeigten Arbeiten von Johann Lurf deutlich. Twelve Tales Told (2014) etwa lässt die Logos und Signations großer Hollywoodstudios gleichsam Amok laufen und ihren eigenen (sinnlosen) Sternenkrieg austragen. Noch unheimlicher nimmt sich Embargo (2015) aus, der sich scheint’s dokumentarisch an den Außenwänden und Abzäunungen österreichischer Waffenfirmen entlangtastet. Die sich abschottenden „secret spaces“ erlangen in 3D eine geradezu paradoxe Präsenz – geisterhaft, sich verräumlichend, greifbar werdend, letztendlich aber doch verschlossen, sich entziehend.
Genau in derlei Sichtbarwerdung, die das herkömmliche Filmbild gleichermaßen übersteigt wie unterläuft, könnte das wahre Potenzial künftiger 3D-Experimente liegen.

61. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, 30. April bis 5. Mai 2015; www.kurzfilmtage.de