Heft 4/2015


Kiev, Moscow and Beyond

Editorial


Kaum ein Krisenherd hat Europa in den letzten Jahren mehr zu erschüttern begonnen als der russisch-ukrainische Konflikt. Sieht man von den aktuellen Ereignissen in Sachen Flüchtlingspolitik einmal ab, hat sich an der östlichen Außengrenze der Europäischen Union ein desaströses Szenario entwickelt: auf der einen Seite jene, die sich mehr zum offiziellen Europa hingezogen fühlen; auf der anderen jene, die ihre eigenen Gebietsansprüche, koste es, was es wolle, geltend machen. Wie unvereinbar die Lage ist, zeigt allein schon, dass keine Einigkeit in der Wortwahl besteht: Was die einen als Unabhängigkeitsstreben ansehen, wird von der anderen Seite als unilaterale Aggression betrachtet und umgekehrt.
Kaum ein anderer kultureller Zusammenhang ist im Zuge dieser Auseinandersetzung einer derartigen Zerreißprobe ausgesetzt wie jener, der sich, historisch weit zurückreichend, über weite Teile Osteuropas erstreckt: von Kiew über Moskau bis in Regionen weit darüber hinaus. Wiederholte politische Absetz- und Vereinnahmungsbewegungen mit eingeschlossen, herrscht hier eine hochkomplexe Gemengelage vor, in der oftmals bewusst über das zweifellos existierende Moment des Gemeinsamen hinweggegangen, ja dieses aus politisch-ideologischen Gründen negiert wird.
Die Ausgabe Kiev, Moscow and Beyond nimmt die diesjährige (insgesamt zum zweiten Mal stattfindende) Kiew Biennale als Ausgangspunkt, um diesen Kontext kritisch zu reflektieren: Mehr als zwei Jahre in Vorbereitung wurde die Biennale immer wieder aufgrund der Kriegs- und Politwirren verschoben, bis sie Anfang September 2015 – gegen vielerlei Widerstände –eröffnen konnte. The School of Kyiv (http://theschoolofkyiv.org), so der Titel der von Hedwig Saxenhuber und Georg Schöllhammer kuratierten und gemeinsam mit dem unabhängigen Research-Kollektiv VCRC (Visual Culture Research Centre) organisierten Schau, ist entlang verschiedener Schulen strukturiert und umfasst folgende Schwerpunktthemen: Realismus, Landschaft, Bild und Evidenz, Vertreibung, Einsamkeit, „entführtes“ (abducted) Europa. In all diesen Schulen, die Ausstellungen und Diskursreihen gleichermaßen beinhalten, geht es verbindend um die Frage, wie sich ein gemeinsamer, Differenzen überbrückender Reflexionsraum schaffen und aufrechterhalten lässt. Ein womöglich instabiler, temporärer Raum, der nichtsdestotrotz über die ausgefahrenen Bahnen politisch propagierter Barrieren hinausreicht bzw. sich konstruktiv vom Status quo abhebt.
Die Beiträge dieser Ausgabe wirken aktiv an der Ausgestaltung dieses Diskursraums mit. Da ist zunächst, unumgänglich im vorliegenden Zusammenhang, die Politik Putins, die auf westlicher Seite ebenso große Rätsel aufgibt, wie sie häufig missverstanden wird. Stephen Holmes und Ivan Krastev analysieren Putins Machtgebaren, indem sie ein Moment in die Debatte einbringen, das bislang meist übersehen wurde: Könnte diese Politik, so die zentrale Frage ihres Essays, womöglich daraufhin angelegt sein, das Verhalten des Westens zu spiegeln, ja diesem seine liberale Maske vom Gesicht zu reißen? Wie surreal dieses aggressive Dagegenhalten, das primär auf eine Demontage des „anderen“ abzielt, alltagskulturell unterfüttert ist, legt Marci Shore in ihrem Beitrag dar. Shores ausführliche Besprechung von Peter Pomerantsevs Russlandstudie Nichts ist wahr und alles ist möglich macht deutlich, wie sehr sich die Koordinaten herkömmlicher Politik- und Realitätsverständnisse unter dem Regime Putin zu verändern begonnen haben. „Alles ist PR“, heißt es bei Shore mottohaft, wobei oft nicht klar ist, welche Werbezwecke in dieser abgründigen „Realityshow“, wie Pomerantsev das nennt, genau verfolgt werden.
Über die großräumigeren (politischen und kulturellen) Landschaften Osteuropas räsonieren Owen Hatherley und Agata Pyzik. Etwas weiter ausholend bzw. in die Zeit der Sowjetunion zurückblickend, fragen sie, was aus dem Vermächtnis bzw. der nach 1989 allseits angestrebten Überwindung des Realsozialismus geworden ist. Hatherleys und Pyziks Erläuterungen zeigen aus teils persönlicher Perspektive auf, wie wenig das Erbe der Zeit vor 1989 samt und sonders abgeschüttelt werden kann, dass zugleich aber auch das, was danach kam, schwer zu wünschen übrig ließ. Dass dazu auch die missliche Lage zählt, in der sich die Ukraine und Russland – gerade im Verhältnis zueinander – heute befinden, kommt in weiteren Beiträgen explizit zur Sprache. Yuri Leiderman, aus Odessa stammender Künstler, geht in die Ära vor der Separation zurück und legt dar, was ukrainische und russische KünstlerInnen stets miteinander verbunden und was sie zugleich immer auch voneinander unterschieden hat. Auch Leidermans aktuelle Arbeit, für die Kiew Biennale produziert und hier in Auszügen präsentiert, setzt an diesem Punkt an. Ein künstlerischer Umzug durch Odessa wird darin zum Brennpunkt, an dem sich die politischen und vor allem separatistischen Phantasmagorien der Gegenwart brechen.
Für einen Raum des Gemeinsamen plädieren auch Haim Sokol und Larissa Babij. Sokol, indem er an jene Traumata anknüpft, denen Menschen jüdischer Herkunft sowohl in Russland als auch in der Ukraine stets ausgesetzt waren; Babij, indem sie die Produktionen der ukrainischen Gruppe TanzLaboratorium zum Ausgangspunkt nimmt, um über die wechselseitige Anerkennung unterschiedlicher nationaler oder ethnischer Zugehörigkeiten, und sei es nur auf einer Theaterbühne, zu reflektieren.
Hier wie in den übrigen Beiträgen dieses Hefts verdichtet sich eine Fragestellung, die von der School of Kyiv über die Biennale hinaus ausgeworfen wird und die uns zweifellos weiter beschäftigen wird: nämlich wie ein konstruktiver Dialog zwischen Kunst und Zivilgesellschaft aussehen könnte, im Zuge dessen intellektuelle und künstlerische Austauschprozesse in einem größeren Rahmen wirksam werden könnten.