Heft 1/2016 - New Materialism


Die Materie des Posthumanen

Kontexte und Ausblicke des neuen Materialismus

Rosi Braidotti


Paradigmen wechseln nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern. Das gilt mit Sicherheit für das Aufkommen das Neomaterialismus: Das war keine plötzliche Abkehr von der linguistischen Wende, sondern ein langsamer Prozess, der nach und nach an Fahrt aufnahm. Im Zentrum dieses Veränderungsprozesses steht für mich der monistische vitale Materialismus der Philosophie von Deleuze, der jahrzehntelang ziemlich an den Rand gedrängt worden war. Obwohl Foucault prognostiziert hatte, das Jahrhundert würde eines Tages deleuzianisch sein, waren klassische DeleuzianerInnen sich nicht sicher, welches Jahrhundert das sein würde. Ende der 1990er-Jahre jedoch wurde der Betonung des rationalen und transzendentalen Bewusstseins – einem der Grundpfeiler des anthropozentrischen Humanismus – mit einer fundierten neospinozistischen, relationalen Sichtweise des Subjekts begegnet. Das Interesse an linguistischen und semiotischen Repräsentationsprozessen schwand allmählich, die Aufmerksamkeit wandte sich zunehmend Konzepten wie radikaler Immanenz, Materialismus, Affektivität, Vitalpolitik und Postanthropozentrismus zu. Demgegenüber hatte sich die nomadische feministische Theorie schon seit Ende der 1980er-Jahre auf das Konzept des „körperlichen Materialismus“ gestützt. Mit dem Wechsel ins neue Jahrtausend kam man jedoch übereinstimmend zur Ansicht, dass es notwendig sei, die materiellen Strukturen des Menschen in einer Weise neu zu denken, die diesen von der Vorstellung jeder originären Repräsentationsmatrix befreien würde, ganz gleich, ob es sich dabei um Logozentrismus, Phallozentrismus oder die Dialektik der Anerkennung, basierend auf der Abstraktion des sogenannten „Anderen“, handelt. Die Dialektik wurde abgelöst durch Rhizomatik und Prozessontologien, nicht nur unter Berufung auf Deleuze, sondern auch auf Whitehead, Wittgenstein und andere.
Diese Änderung des Bezugsrahmens stellt keine drastische Abkehr von der Vergangenheit dar, legt jedoch eine radikale Überprüfung konzeptueller und methodischer Prioritäten nahe. So wird beispielsweise das Konzept der Verkörperung auf der Grundlage von Deleuzes Relektüre des spinozistischen Monismus neu definiert. Der feministische Neomaterialismus unterstreicht die sexualisierte Beschaffenheit und radikale Immanenz der Machtverhältnisse, die das Subjekt als eingebundene und verkörperte, affektive und relationale Entität begreifen. Macht wird neu definiert als komplexe strategische Situation, die nicht nur negativ oder eingrenzend ist (potestas), sondern auch affirmativ oder produktiv (potentia) – Einengung und Ermächtigung als zwei zusammenhängende Facetten des gleichen Prozesses der Machtverwicklung.
Die Verlagerung hin zu einer monistischen Ontologie, wie sie durch die Rückkehr zur Philosophie Spinozas ausgelöst wird, führt auch zu einer Überwindung der klassischen Opposition zwischen Materialismus und Idealismus zugunsten einer dynamischen Ausprägung von „materialistischem Vitalismus“, „dynamischer Materie“ (vibrant matter) oder relationaler Vitalpolitik. Diese Begriffe beruhen auf der Vorstellung, dass Materie, auch der konkrete Anteil menschlicher Verkörperung, intelligent und sexualisiert ist und darüber hinaus auch technologisch vermittelt wird. Wie Vicki Kirby sagt: Eine „originäre Humanizität“ gibt es nicht.
Ein materiell eingebundener und verkörperter, affektiver und relationaler Ansatz definiert alte binäre Gegensätze wie Natur/Kultur oder menschlich/nicht-menschlich neu und bereitet so den Weg für ein nicht-hierarchisches und gleichberechtigteres Verhältnis zu bzw. zwischen den Arten. Damit einher geht eine inklusive, postanthropozentrische Sicht der Subjektivität, die nicht-menschliche AgentInnen einschließt. Es besteht also eine Verbindung zwischen neomaterialistischen Vitalsystemen und der Verdrängung des Anthropozentrismus, genauer gesagt der Eröffnung posthumaner Perspektiven innerhalb einer monistischen Ontologie.

Posthumane Wende
Die posthumane Wende basiert auf der Konvergenz von Posthumanismus und Postanthropozentrismus. Letzterer kritisiert die universalistische Haltung der Vorstellung vom „Menschen“ als vermeintlichem „Maß aller Dinge“, Ersterer die Hierarchie der Arten und das Postulat der menschlichen Außergewöhnlichkeit. Obwohl die posthumane kritische Theorie sich aus verschiedenen Quellen speist und sich nicht auf ein einzelnes oder lineares Ereignis reduzieren lässt, kristallisiert sie sich im Hinblick auf neomaterialistische Prämissen, rhizomatische Methoden und die Relation des/der Nicht-Menschlichen heraus. Neue Diskurse über menschliche/nicht-menschliche Interaktion mit Tieren oder „technologisch andere“ erscheinen als Ergebnis einer kritischen Neubetrachtung dessen, was für das materialistische Denken oder den „materie-realistischen“ Feminismus als „Materie“ zählt.
ÖkofeministInnen waren die VorreiterInnen einer materialistischen Umweltpolitik in Form von Aktivismus für Vegetarismus und Tierrechte sowie geozentrierte Perspektiven, doch geht ihre Entwicklung jetzt in Richtung einer posthumanen Ethik und radikalem veganen Aktivismus. Mittlerweile werden in den Queer Studies transkörperliche, poröse Grenzen zwischen Menschen und Nicht-Menschen bzw. den von Eva Hayward sogenannten „transspeciated selves“, also „speziesübergreifenden Ichs“, postuliert. Diese radikalen postanthropozentrischen Theorien holen das Beste aus der monistischen Ontologie heraus und plädieren für eine absolute Gleichberechtigung sämtlicher Spezies, womit sie einer ökofeministischen, queeren Perspektive neuen Nachdruck verleihen.
Die politischen Implikationen sind angesichts der technowissenschaftlichen Struktur der globalen Ökonomie beträchtlich. Dies beruht auf der neuen Konvergenz zwischen zuvor differenzierten Technologiezweigen wie Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und Kognitivwissenschaft. Die technowissenschaftliche Ökonomie umfasst Forschung und Interventionen an Tieren, Saatgut, Zellen und Pflanzen sowie an Menschen, was bedeutet, dass der heutige Kapitalismus nicht nur in die wissenschaftliche und ökonomische Kontrolle und Kommodifizierung alles Lebenden investiert, sondern auch davon profitiert. Der Kapitalwert besteht heute in der Informationskraft der lebenden Materie selbst, festgehalten in Sammlungen biogenetischer, neuronaler und medialer Daten, die begrenzte Entitäten und Körper in ihr Vitalsubstrat zerlegen, im Sinne von Energieressourcen, Vitalkapazität oder genetischen Dispositionen. „Datamining“ beinhaltet in erster Linie die Profilerstellung zur Identifizierung verschiedener Typen oder Eigenschaften, um sie als strategische Ziele für Kapitalinvestitionen oder aber als Risikokategorien zu kennzeichnen.
Die Kapitalisierung lebender Materie bringt eine neue politische Bioökonomie hervor, die Melinda Cooper „Leben als Überschuss“ nennt. Die damit einhergehenden diskursiven und materiellen Techniken der Bevölkerungskontrolle unterscheiden sich von den demografischen Methoden, mit denen sich Foucault in seinem Werk zur biopolitischen Gouvernementalität intensiv beschäftigte. Heutzutage werden „Risikoanalysen“ nicht nur von gesamtgesellschaftlichen oder nationalen Systemen, sondern auch von Bevölkerungsgruppen in der globalen Gesellschaft durchgeführt. Wenn man bedenkt, dass das Leben kein exklusives Vorrecht der Menschen ist, führt die Tatsache, dass Informationsdaten heute das wahre Kapital darstellen, zu einer paradoxen Form des Postanthropozentrismus aufseiten eines Markts, der mit dem Leben selbst handelt – welches nicht länger das exklusive Vorrecht des Menschen ist.
Solcherart verwischt die opportunistische, profitorientierte Ökonomie des biogenetischen Kapitalismus die Unterscheidung zwischen dem Menschen und anderen Spezies: Saatgut, Pflanzen, Tiere und Bakterien passen in diese Logik des kommodifizierten Konsums ebenso wie verschiedene Substrate des menschlichen Organismus und verdrängen so die Einzigartigkeit des „Anthropos“. So sind beispielsweise genmanipuliertes Gemüse, Pflanzen und Tierorganismen genauso real wie das Human Genome Project. Große transnationale Unternehmen wie Monsanto haben sich genetische Saat- und Körnerzüchtungen patentieren lassen und diese ehemals „natürlichen“ Entitäten dadurch in Privateigentum verwandelt. UmweltaktivistInnen wie Vandana Shiva bezeichnen diese Praktiken als „Biopiraterie“. Ein weiteres Beispiel stammt aus der Roboterindustrie, die zusammen mit der Kognitionswissenschaft an der Klonung verschiedener sensorischer und neuronaler Fähigkeiten und Funktionen arbeitet. Geklont werden die Sinne zahlreicher Tierarten und des Menschen. Dabei kommt dem Geruchssinn des Hundes, dem Radar der Fledermaus und dem Echolot des Delfins der gleiche Stellenwert zu wie dem Sehen und der Fingerfertigkeit des Menschen. Wertet man die Spezies nicht nach der anthropozentrischen Hierarchie der Wesen, sondern nach ihren eigentlichen Fähigkeiten, so entsteht eine Art Bioegalitarismus. Fortschrittliche Ökonomien haben diese grundlegende Idee verstanden und die Wende zum kognitiven Kapitalismus vollzogen – allerdings ordnen sie diesen der politischen Ökonomie des Profits unter und recodieren ihn so auf negative Weise.

Zoe-zentrierter Egalitarismus
Die posthumane Wende findet innerhalb eines solchen Kontexts statt, widersetzt sich aber in der kritischen Version, wie ich sie vertrete, der politischen Ökonomie des fortgeschrittenen Kapitalismus. Begleitet wird dieser kritische Modus vom zunehmenden öffentlichen Bewusstsein des Klimawandels und der Angst davor im Zeitalter des sogenannten „Anthropozän“. Während die Literatur über das Aussterben und das Spektakel der Katastrophe immer beliebter wird, entwickeln sich monistische neomaterialistische Theorien in Richtung eines produktiveren „ökosophischen Ansatzes“. Dieser wurde von Félix Guattari eingeführt und beschäftigt sich mit den ethischen Folgen der monistischen Ontologie und des Natur-Kultur-Kontinuums, um die komplexe Interaktion sozialer, psychischer und natürlicher Faktoren bei der Konstruktion einer Ökologie multipler Zugehörigkeit besser verstehen zu können. Mit anderen Worten, ein vital-materialistischer Ansatz macht es unmöglich, ökologische Degradierung von menschlicher Aktivität, sozialer Interaktion und geistigen Gewohnheiten zu trennen: All das hängt ökophilosophisch zusammen. Nicht nur wird die menschliche Subjektivität neu definiert als erweitertes relationales Selbst, das nicht-menschliche Andere einschließt, sondern es erfolgt auch eine Öffnung hin auf die Vitalkraft des Lebens – etwas, das ich als Zoe bezeichnet habe. Der Zoe-zentrierte Egalitarismus bildet den ethischen Kern der kritischen posthumanen Wende: Er ist eine materialistische, säkulare und generative Antwort auf die opportunistische Transspezies-Kommodifizierung des Lebens gemäß der Logik des fortgeschrittenen Kapitalismus, den Donna Haraway kürzlich als „Kapitalozän“ bezeichnet hat.
In diesem Zusammenhang kennzeichnet das Aufkommen des Neomaterialismus eine neue Allianz zwischen den „beiden Kulturen“ der Geistes- und der Naturwissenschaften. Ein monistisches Verständnis von „Leben“ als symbiotisches System wechselseitiger Abhängigkeit verändert auch die Natur-Kultur-Debatte bzw. die Sichtweise der menschlichen Interaktion mit dem, was zuvor als „Materie“ bezeichnet wurde und jetzt als Kontinuum eines selbstorganisierenden Vitalsystems betrachtet werden kann. Auf dieser Grundlage findet eine Abkehr der neomaterialistischen Theorie von den sozialkonstruktivistischen Methoden und dekonstruktivistischen politischen Strategien des Poststrukturalismus hin zu einem differenziellen Werden und der Aktualisierung transversaler Allianzen statt.
Der materialistische vitalistische Feminismus, der sich auf eine dynamische monistische politische Ontologie stützt, definiert den Körper neu als unkörperliche, komplexe Assemblage aus Virtualitäten, die Sexualität als konstitutives Element umfasst: Man ist immer schon sexualisiert. Ein postanthropozentrischer feministischer Ansatz macht deutlich, dass körperliche Materie im Menschen wie auch in anderen Spezies immer schon sexualisiert und gemäß multipler Heterogenitäten differenziert ist. Sexualität wird als generative ontologische Kraft betrachtet, die menschliche wie nicht-menschliche AgentInnen umfasst. Als solche lässt sie sich innerhalb der dichotomen Betrachtungsweise von Gender als sozialem Konstrukt der Differenz zwischen den Geschlechtern nicht adäquat definieren. Vielmehr sollte man dazu übergehen, sie als deterritorialisierende Kraft im Hinblick auf geschlechtliche Identität und Institutionen anzusehen.

Sexueller Monismus
In Bezug auf feministische Politik heißt dies, dass wir Sexualität ohne Geschlechter neu denken müssen, beginnend mit einer vitalistischen Rückkehr zur polymorphen und Freud zufolge „perversen“ (im Sinne einer spielerischen und nicht-reproduktiven) Struktur der menschlichen Sexualität. Dies bedeutet auch, die generativen Kräfte weiblicher Verkörperung, die von FeministInnen bisher nicht ausreichend beurteilt wurden, anzuerkennen. Dem neomaterialistischen feministischen Ansatz zufolge ist Geschlecht lediglich ein historisch kontingenter, binärer Mechanismus zur Erfassung der multiplen Potenzialitäten des Körpers mitsamt ihrer generativen oder reproduktiven Fähigkeiten. In diesem historisch kontingenten „Erfassungsapparat“ des Geschlechts jedoch eine Art transhistorische Machtmatrix zu erblicken, wie von der Queer-Theorie in linguistischer bzw. sozialkonstruktivistischer Tradition (vgl. Judith Butler) vorgeschlagen, ist schlichtweg ein Irrtum. Sexualität mag sehr wohl in einer Geschlecht-Gender-Binarität verhaftet sein, lässt sich aber nicht darauf reduzieren. Der Erfassungsmechanismus ändert nichts an der Tatsache, dass der Sexualität sowohl bei Menschen wie bei Nicht-Menschen transversale, strukturelle und vitale Konnotationen anhaften. Als Lebenskraft stellt Sexualität eine nicht-essentialistische ontologische Struktur für die Organisation menschlicher Affektivität und menschlichen Verlangens dar. Demgegenüber beschränkt sich eine sozialkonstruktivistische Sichtweise auf die Beschreibung eines soziologischen Prozesses begrenzter Identitätsbildung, berücksichtigt dabei aber nicht die tief greifende Struktur der Sexualität. Dem neomaterialistischen, monistischen Gegenargument zufolge existiert Sexualität sowohl vor als auch nach jeder Identitätsbildung; sie ist eine konstitutive Kraft, die immer schon vorhanden ist und dem Geschlecht vorausgeht, wiewohl sie sich mit diesem bei der Konstruktion disziplinierter und funktionaler Subjekte im Zuge der Ausbildung eines binären biopolitischer Regimes überschneidet bzw. verbindet.
Mit anderen Worten, für monistische FeministInnen ist das Geschlecht eine Art Herrschaftsform, die, wie ich in meinem Buch Transpositions ausgeführt habe, von Prozessen des „Minoritär-Werdens“, „Frau-Werdens“, „Tier-Werdens“ bzw. Unwahrnehmbar-Werdens unterlaufen wird. Dabei handelt es sich um transformative Aktualisierungen der multiplen, immer schon sexualisierten Körper – das, was wir vielleicht einmal werden können. Der Monismus weist den Weg zu „tausend Plateaus“, auf denen sich sexualisierte biologische und zoologische Diversitäten ausbreiten. Anders gesagt, wenn wir herausfinden wollen, was posthumane sexualisierte Körper werden können, müssen wir mit multiplen Intensitäten experimentieren – wobei das Lebens als Zoe, sprich auch nicht-menschlich zu betrachten ist. Da das phallozentrische Geschlechtersystem die Komplexität menschlicher Sexualität in einem binären Schema erfasst, die Bildung heterosexueller Familien privilegiert und uns buchstäblich alle anderen möglichen Körper stiehlt, wissen wir nicht mehr, wozu unsere sexualisierten Körper fähig sind. Daher müssen wir die Idee der relationalen Komplexität wiederentdecken, die Sexualität in ihrer humanen, nicht-humanen und posthumanen Form kennzeichnet.
Solche affirmativen Experimente mit dem, was sexualisierte Körper tun und werden können, sollten jedoch keineswegs zu dem Schluss führen, dass der Kampf um politische Emanzipation und Gleichberechtigung vorbei ist. In der globalisierten Ökonomie haben neue gesellschaftliche Verhältnisse der Exklusion und Marginalisierung traditionelle Machtverhältnisse fortgeführt und abwertende Differenzierungen bekräftigt. Auf geopolitischer Ebene werden extreme Formen polarisierter sexueller und geschlechtlicher Differenz gegeneinander ausgespielt, was zu kriegerischen und durchaus auch geschlechtsspezifischen Visionen eines „Kampfes der Kulturen“ zwischen dem Westen und dem Rest der Welt führt, in dem es angeblich um die Rechte von Frauen und LGBT-Personen geht. Sexueller Nationalismus hat sich zum Spielball zeitgenössischer internationaler Beziehungen und zu einem zentralen Anliegen von feministischer und Queer-Politik entwickelt.

Neomaterialistische Politik
In politischer Hinsicht bringt der monistische Neomaterialismus eine andere Art von Aktivismus und eine nicht-dialektische Politik humaner und posthumaner Befreiung hervor. Diese setzt voraus, dass politische Handlungsmacht nicht kritisch im negativen Sinne dialektischer Gegensätze sein muss, sondern auf Affirmation und dem Streben nach „Gegenaktualisierungen“ des Virtuellen beruhen sollte. Die aktivistische Einbeziehung von Zoe hat eine planetarische Dimension, die nicht nur die kontinuierliche Auseinandersetzung mit herrschenden Normen und Werten beinhaltet, sondern auch eine Politik des gemeinsamen Erarbeitens nachhaltiger Alternativen.
Eine materialistische Politik, die auf posthumanen Differenzen aufbaut, zielt auf ein potenzielles Werden, das stets auch nach Aktualisierung verlangt. Sie ist immanent und pragmatisch, auch wenn sie sich häufig in komplizierter Sprache ausdrückt. Das Minoritär- oder Nomadisch-Werden ist insofern eine Art von „Gegenaktualisierung“, als es danach strebt, Prozesse der Subjektbildung zu unterstützen, die nicht den herrschenden Normen entsprechen. Diese „Gegensubjektivitäten“ bilden sich im Zuge einer kollektiv geteilten Praxis heraus und begünstigen die Ausformung dessen, was noch nicht da ist – ein „fehlendes Volk“ (Deleuze). Die Bildung einer Gemeinschaft rund um die gemeinsamen Affekte und Konzepte des Minoritär-Werdens ist der Schlüssel zu einer nomadischen, transformativen Politik. Sie verkörpert die affirmative, ethische Dimension des Posthuman-Werdens als Geste der kollektiven Selbstwerdung bzw. wechselseitigen Bestimmung. Sie ruft eine Gemeinschaft auf den Plan, die weder negativ durch eine gemeinsame Verwundbarkeit zusammengehalten wird noch durch die Schuld tradierter kommunaler Gewalt oder die Melancholie unbezahlbarer (ontologischer) Schulden, sondern vielmehr durch das mitfühlende Eingeständnis ihrer Abhängigkeit von multiplen Anderen. Nur dass die meisten davon im Zeitalter des Anthropozän schlichtweg nicht mehr anthropomorph sind.
Dieser Perspektivenwechsel hin zu einem Zoe- oder geozentrierten Ansatz erfordert eine Änderung unserer Auffassung davon, was es bedeutet, menschlich zu sein, und zwar auf der Basis fundierter Analysen der anhaltenden Machtverhältnisse und rassifizierten Ungleichheiten. Die Aushöhlung menschlicher Handlungsmacht durch Netzwerksysteme und die allgegenwärtige Mediatisierung dürfte auch der Grund für die Defizite der wirtschaftlichen Globalisierung und ihrer strukturellen Ungerechtigkeiten einschließlich der zunehmenden Verschuldung sein. Die „globalen Obszönitäten“ eines Wirtschaftssystems, das auf „Biopiraterie“ beruht, wie Vandana Shiva es nennt, erzeugen eine Form von „nekropolitischer“ Gouvernementalität, die auf technologischer Kriegsführung und Antiterrormaßnahmen basiert.
Angesichts der Tatsache, dass der Begriff „human/menschlich“ nicht neutral ist, sondern auf bestimmte Privilegien und Berechtigungen verweist, sollten wir das „Posthumane“ nicht versehentlich mit einem Außerhalb-der-Macht-Stehen gleichsetzen. Eine nomadische Politik der Affirmation erfordert das sorgfältige Aushandeln neuer „Assemblagen“, sprich transversaler Allianzen. Nimmt man die Philosophie der radikalen Immanenz, des vitalen Materialismus und der feministischen „politics of location“ ernst, so kann dies nicht in der abstrakten Idee einer „neuen“ Panhumanität liegen, die von einer gemeinsamen Verwundbarkeit oder Überlegenheit der Spezies zusammengehalten wird. Vielmehr brauchen wir eingebundene und verkörperte, relationale und affektbasierte Kartografien der neuen, aus der derzeitigen geopolitischen und postanthropozentrischen Ordnung resultierenden Machtverhältnisse. Klasse, Rasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung, Alter und körperliche Befähigung sind mehr denn je signifikante Merkmale dessen, was wir als „menschlich“ betrachten. Ein Zoe- bzw. geozentrierter Perspektivenwechsel erfordert auch einen Paradigmenwechsel in Bezug auf unser Verständnis von Menschsein bzw. was es bedeutet, posthuman zu werden. Voraussetzung dafür ist allerdings eine grundlegende Analyse herrschender Machtverhältnisse und rassistisch begründeter Ungleichheiten. Der posthumane Weg ist weder unitär noch linear, ja womöglich ist darin sogar ein Vielzahl potenziell widersprüchlicher Projekte am Werk.

Übersetzung aus dem Englischen: Anja Schulte

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