Heft 1/2016


New Materialism

Editorial


Neue Materien, neuer Materialismus? Inwiefern lassen sich in der Kunst, die sich seit jeher mit Aspekten der Stofflichkeit und Objekthaftigkeit befasst, dezidiert „neomaterialistische“ Ansätze ausmachen? Geht mit der fortwährenden Befragung des Objekthaften, des Status der spezifischen Gegenständlichkeit von Kunst, auch eine theoretische Verschiebung einher?
Und wie ließe sich diese Verschiebung beschreiben, selbst für den Fall, dass daraus kein neuer „Ismus“ ableitbar ist? Zumindest in der Theoriewelt war in den letzten Jahren eine verstärkte Hinwendung zu solch neomaterialistischen, realistischen bzw. objektorientierten Ansätzen zu beobachten.
Die Gründe dafür mögen vielfältig sein, ein gemeinsamer Ausgangspunkt liegt aber zweifellos darin, dass dem „Immateriellen“ (oder der „Entmaterialisierung“), lange Zeit mit ein Hauptcharakteristikum (post-)konzeptueller Kunst, nicht mehr uneingeschränkt getraut wird. Vielfach wird dagegen argumentiert, dass kein auch noch so „immaterielles“ Phänomen ohne eine – zumindest minimale – materielle Basis auskommt.
Mehr noch: Gerade das Forcieren von konzeptuellen (oder semiotischen) Zusammenhängen würde im Gegenzug auch die Ausprägung neuer materieller Verhältnisse befördern, wie dies etwa die immer flächendeckendere Verbreitung des Semio- oder Infokapitalismus unter Beweis stellt.
All diesen neomaterialistischen, teils auch divergierenden Theorien ist zudem gemein, dass sie sich vom Paradigma des Linguistic Turn radikal zu verabschieden versuchen. Stellte diese historische Wende die höchst legitime und notwendige Abkehr vom Materialismus alter Prägung dar, so scheint heute – auch im Zuge des Inflationärwerdens solcher „turns“ – das Pendel wieder in die andere Richtung auszuschlagen.
Selbst im Bereich der Digitalkultur, Inbegriff eines auf Information und Zeichenhaftigkeit basierenden Felds, befasst man sich seit geraumer Zeit verstärkt mit der Beschaffenheit „digitaler Materien“ bzw. der daraus resultierenden „neuen Materialität“: einer umfassender gedachten, medialen Stofflichkeit, die diese Kultur als Ganzes charakterisieren soll; mehr zumindest als die bekannten Prädikate wie Flüchtigkeit, Verflüssigung oder eben Immaterialität dies tun.
In dieser Ausgabe wird den Grundzügen, dem Geltungsbereich und der Haltbarkeit solcher neomaterialistischer Neupositionierungsversuche nachgegangen. Ein weitläufigeres Bezugsfeld spannt beispielsweise Rosi Braidotti auf, die den Neomaterialismus immer schon als Teil des Posthumanimus ansieht. Letzterer bezeichnet ein über den „Anthropos“ – sprich das menschliche Subjekt als alleinige Bezugsgröße – hinausgehendes Denken, das auf die Gleichwertigkeit allen Lebens (Zoe) abzielt. Welche konkreteren politischen Implikationen sich daraus ableiten, kommt bei Braidotti ebenso zur Sprache wie die Schwierigkeiten, die sich der Umsetzung dieses Denkens angesichts der verbreiteten globalkapitalistischen Netzwerkideologie stellen.
Eine handfeste Auswirkung dieser Ideologie – und welche „schmutzigen“ Materialitäten diese hervorbringt – untersucht Yvonne Volkart. Es geht dabei um den Abfall unserer Hightechkultur, der nicht einfach verschwindet, sondern meist auf monströsen Deponien in Ländern, die man früher „Dritte Welt“ genannt hat, landet. Volkart führt aus, inwiefern dieser Technomüll nicht nur als Inbild neuer Materialität betrachtet werden kann, sondern durchaus auch als stoffliche Basis für kritische Kunstprojekte taugt. Dass der solcherart verstandenen Objektwelt stets auch eine spezifische Widerständigkeit und Hartnäckigkeit eignet, ist der
Ausgangspunkt von Marina Vishmidts theoretischen Überlegungen.
Vishmidt sieht den neuen Materialismus vor allem darin Kontur annehmen, dass die Ästhetik der Nicht-Identität (wie man sie von Adorno her kennt) auf spekulativere, auch „relationale“ Materien miteinbeziehende Zusammenhänge ausgeweitet wird. Etwas, das sie in der performativ filmischen Kunst von Grace Schwindt idealtypisch am Werk sieht.
Derlei Neufokussierung auf Materialfragen und Stofflichkeitsaspekte kommt in vielerlei Beiträgen dieser Ausgabe zur Sprache (so etwa auch im Hinblick auf die Kunstpraktiken von Simon Denny oder Kerstin Brätsch & Debo Eilers). Eine Reihe von theoretischen Interventionen bzw. Einsprüchen“ gegenüber vorherrschenden Theorieansätzen rundet dieses Spektrum ab. Gegen die Vereinnahmung des Spekulativen Realismus durch einen scheint’s hegemonialen Neomaterialismus macht sich Suhail Malik prophylaktisch stark. Joshua Simon und Gerald Raunig dagegen versuchen, ein Denken des „Dividuums“ (im Gegensatz zum modern-neuzeitlichen Individuum) angesichts gegenwärtiger ökonomischer bzw. marktkapitalistischer Verhältnisse voranzutreiben. Lev Manovich schließlich lokalisiert die heutige Kulturindustrie vorrangig in Datenströmen und deren Zirkulation – eine neue Form von Materialität, der, so Manovichs provokante These, nur durch eine möglichst ideologieneutrale Medienanalytik beizukommen ist.
Eine Brücke zu aktuellen Entwicklungen in Sachen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen schlägt Dietrich Heißenbüttel. Seine Bestandsaufnahme vielfältigster Kunstprojekte, die sich dieser Thematik widmen, läuft unter anderem auf die Einsicht hinaus, dass hier auch neue, teils noch ungedachte Körpermaterialitäten mit auf dem Spiel stehen.
Von verschiedenen Seiten her widmen sich die Beiträge dieser Ausgabe einem gemeinsamen, uns wohl noch länger beschäftigenden Fragenkomplex: inwiefern idealistische, diskursive oder primär zeichenhafte Denkanteile in materialistisch ausgerichteten Ansätzen jemals zur Gänze überwindbar sind. Sie fragen aber auch, vielleicht noch spannender, inwiefern hier Kunst und Theorie neue, bislang unbekannte Koppelungen einzugehen in der Lage sind.