Die Frage nach der Materialität ist eine der Grundfragen der Kunst. Immer geht es dabei auch um das Rauschen, die Eigendynamik des Mediums, um Sinn als körperlich-materielles Ereignis jenseits purer Information. Mit dem Ankommen des Anthropozän-Diskurses in Kunst und Geisteswissenschaften vor ein paar Jahren hat sich das Denken über Materialität zugespitzt. Mehrere Ausstellungen, Konferenzen, Forschungsprojekte und Publikationen haben sich in jüngster Zeit dem Menschgemachten unserer Welt gewidmet. Während das Anthropozän-Projekt am Berliner HKW in Berlin, sein Nachfolgeprojekt Technosphere, The Anthropocene Monument in les Abattoirs, Toulouse, oder Research on the Anthropocene an der Universität Aarhus die Begrifflichkeit ins Zentrum stellten, fragten Ausstellungen wie Hall of Half-Life (steirischer herbst 2015), the afterglow (transmediale 2014) oder nature after nature (Fridericianum Kassel 2014) nach unseren Hinterlassenschaften. Und immer mehr geht es einfach um Mineralien, etwa Salz auf der Istanbul Biennale 2015, Seltene Erden in der Ausstellung Rare Earth bei TBA21 Wien oder Phosphat bei Technosphere. Am grundlegendsten erscheinen die Projekte, wenn sie die „technologische Bedingung“ unserer Umwelt, unsere „naturecultures“ oder „medianatures“ zur Disposition stellen.1
Die Hyperobjekte kontaktieren uns
Beim Besuch der Ausstellung BodenSchätzeWerte – Unser Umgang mit Rohstoffen an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich ergab sich ein aufschlussreiches Gespräch mit der Aufsicht. Sie hatte sich anerboten, eine Führung zu machen. Die Szenografie und Thematik waren betont sachlich, es ging um Chancen und Probleme der aktuellen Lage. Dann, beim Thema mögliche Ressourcen aus dem Weltall bzw. dem Handy angelangt, meinte die Führerin nebenbei, dass das ganze Gerede über zu Ende gehende Rohstoffe nicht ganz stimme. Sie besuche eine Vorlesung, in der deutlich gemacht werde, dass unser Planet ausreichende Ressourcen hätte. Der Zugang sei eben manchmal schwierig und der Abbau lohnte sich finanziell (noch) nicht. Aber die Geschichte hätte gezeigt, dass der Mensch immer wieder Vorkommen entdeckt und innovative Abbaumethoden entwickelt hätte. Dem hielt ich entgegen, dass die Geschichte auch gezeigt hätte, dass der Mensch in rund 150 Jahren dezimiert hätte, was sich zuvor über Jahrmillionen sedimentiert hatte. Vielleicht könnten wir noch kurz so wie bisher weitermachen, aber was dann? Darauf meinte sie, dann stellt man das eben künstlich her. Es ist doch alles einfach Chemie.
Aufschlussreich war das Gespräch insofern, als Materialitäten tatsächlich auch eine Frage der Chemie sind. Natürlich stehen dabei neuartige Verbindungen im Mittelpunkt, aber wie die Geschichte zeigt, ging es immer auch um die Partialisierung und Segmentierung jener Mischungen, die auf der Erde bereits vorhanden sind. Die ganze Erdkruste ist Chemie, darstellbar als Periodentabelle der Elemente. Und vor der Chemie, da war die Alchemie. Doch der Stein der Weisen oder das Perpetuum mobile sind bis heute nicht erfunden worden. Trotz der Erfindung neuer Materialitäten ist es unmöglich, aus Blei Gold zu machen oder aus wenig viel. Nicht einmal die Energie der Sonne lässt sich ohne Aufwand anzapfen, auch wenn man mit dem großflächigen Umstieg auf Sonnenenergie viele Energieprobleme lösen würde. Warum muss man den Meeresboden unter der ehemaligen Antarktis umpflügen, wenn Erdöl künstlich zu haben ist? Künstlich heißt letztlich: auf der Basis raffinierter Rohstoffe. Die Erde selbst ist der Rohstoff, den wir brauchen, um irgendwann einmal ins Weltall abzuhauen. Und Chemie, Geologie oder Physik sind jene Wissenschaften von der Erde, die entstanden sind, als man begann, sie im großen Stil auszubeuten. So gesehen ist das „Künstliche“ auch „Natur“.
Während sich die nicht unkritische Studentin an die Versprechen der technokratischen Verdrängungsideologie krallt, spüren andere die dunklen und widerständigen Seiten der Materie. Denn die Materie und die Körper erleben trotz der Digitalisierung eine Intensivierung: Permanent wird der Körper über Medientechnologien affiziert, steht er in Bereitschaft für die eine Nachricht. Alltägliche Handlungen wie Kommunikation, Arbeiten oder Einkaufen werden über scheinbar immaterielle Medien verrichtet, die aus Mineralien, Plastik und Energie bestehen und einen gewaltigen Verschleiß generieren.2 Weil nichts ohne Ressourcen und deren Zirkulation zu haben ist. Und diese Körper, diese Gemische und Reste drängen sich uns auf, lassen uns nicht in Ruhe. „Intimität wird das neue Schlüsselwort werden“, schreibt Timothy Morton, „es wird kein ‚weg‘ geben, wohin wir etwas werfen können.“3 Plastik etwa war für Roland Barthes in den 1950er-Jahren noch ein Mythos, „weniger eine Substanz als vielmehr die Idee ihrer endlosen Umwandlung“4. Dies war ganz im Sinne des Linguistic Turn und des Strukturalismus, als man sich von der überkommenen Konzentration auf die Substanz ab- und der Frage nach den Bedeutungen zuwandte. „Diese Spur einer Bewegung“ (Barthes), sprich Plastik, sammelt sich heute nicht nur in Fischen oder Vögeln oder im Great Pacific Garbage Patch (wo man ihn ja mit innovativer Technologie absaugen könnte, soeben sind erste vielversprechende Versuche dazu gemacht worden). Nein, Plastik kehrt auch zu seinen Erfindern zurück. Schon wurde Plastik im menschlichen Körper nachgewiesen oder lässt sich zeigen, dass der Sandstrand von Hawaii zu 40 Prozent aus Plastikkörnern besteht. Plastikspur, Plastikbewegung: Diese „neue“ Materialität ist also doch „Substanz“, aber sie ist auch „Mythos“, denn was, wenn nicht die ewige Wiederkehr in Variationen zeichnet einen Mythos aus? „Das stellt die höchste philosophische Ironie dar. Gerade in jenem Moment, in dem wir glaubten, wir hätten uns von den abgestandenen, statischen, aristotelischen Objekten endlich befreit und sie durch Systeme, Prozesse, Abläufe und Milieus ersetzt, da kommen sie auch schon zurück, kräftiger und größer denn je.“5 Was Timothy Morton hier beschreibt, nennt er „Hyperobjekte“ – „Dinge, die wir selbst geschaffen haben […] Hyperobjekte sind reale Dinge, die, in Zeit und Raum verteilt, massiv auftreten.“6 Besonders große oder dauerhafte Effekte wie die Klimaerwärmung oder atomare Strahlung definiert er als „Objekte“, um deren Hartnäckigkeit, Dynamik und Verschiedenartigkeit gegenüber dem Menschen, der sie mit verursacht hat, begrifflich herauszustreichen.
Möglicherweise ginge es auch ohne diesen objektorientierten Ansatz, um Überlegungen über die sozialen Implikationen und Handlungsoptionen in einer komplizierten und heruntergewirtschafteten Welt der Widergängermaterialien anzustellen. Aber die rhetorische Reduktion des Dynamisch-Komplizierten auf ein Ding, das konventionell unterhalb der Hierarchie des Menschlichen angesiedelt und mit der Warenwelt verknüpft ist, übt seinen Reiz auf Morton aus. Auch an anderer Stelle arbeitet er gerne mit Neologismen. Tiere nennt er „strange strangers“, um der Falle hierarchischer Dualismen zu entgehen. Dasselbe gilt für den Begriff „Natur“, den er zugunsten des „mannigfaltigen Vielen“ meidet. Denn „Natur“ wird Morton zufolge in erster Linie von jenen, die „Normalität“ erzwingen wollen, verwendet und nützt beispielsweise dem Kampf für Biodiversität nicht.
Wenn wir anerkennen, dass Künstlichkeit „Natur“ ist, dass die „Materie vibriert“ oder dass elektronische Medien „Geologie“ sind,7 dann brauchen wir Natur als Gegenbegriff wirklich nicht mehr. Solange wir aber meinen, dass die Natur ein Bedienungsladen für die Menschen ist, kann es durchaus Sinn machen, den Begriff strategisch einzusetzen. Donna Haraway hat das so formuliert: Wir können die Natur nicht nicht denken, aber wir müssen ein anderes Verhältnis dazu entwickeln. Eines, das nicht auf Ausbeutung gestützt ist. Während sie auf die „Companion Species“ setzt, spricht Morton von der „radikalen Koexistenz“. Solche philosophischen Vorschläge über den Einbezug nicht-humaner Entitäten kontern einer sich breitmachenden Lähmung. Der Anthropozän-Diskurs stützt sich nämlich stark auf die Annahme, dass das Ökosystem global dermaßen aus dem Ruder gelaufen ist, dass lokale Interventionen oder individuelle Verhaltensänderungen nichts mehr nützen, außer vielleicht ein paar technokratischen Großlösungen.
Was heißt etwas wie Koexistenz nun bezogen auf die hier aufgeworfene Frage nach den neuen Materialitäten? Meint dies die Materialien und Diskurse jenseits von Hierarchien und Ausbeutungsverhältnissen? Oder sind es im Gegenteil gerade solche, die diese Verhältnisse sichtbar machen? Die die aktuellen Widersprüche, etwa zwischen Virtualität und Materialität, Auflösung und Reterritorialisierung besonders radikal auf den Punkt bringen. Und was ist mit den neuartigen Plastikinseln und -sedimenten, mit Luft- und Wassergemischen und den auftauenden Einzellern? Sie alle sind neue Materialitäten, Cyborgs, Mischungen von Natur und Technik, artefaktische Gebilde zwischen Materialität und Diskurs, Verdichtungen des Kapitalismus und dessen Brechungen. Es sind Hyperobjekte, die uns, so Morton, „kontaktieren“:8 Ihre unmenschliche Langlebigkeit kündet von der Möglichkeit, dass das menschliche Zeitalter irgendwann zu Ende geht.
Drecksgeschichten
Ein Projekt, das die Problematik des „digital rubbish“9 bzw. „den kapitalistischen Mythos der Immaterialität der Computertechnologie“ medienästhetisch überzeugend herausarbeitet, ist Louis Hendersons Kurzfilm All That Is Solid (2014). Der Film spielt in Ghana, das bis 1957 eine englische Kolonie war und bezeichnenderweise Goldküste genannt wurde. Traurige Berühmtheit hat die weltgrößte Schrottsammelstelle Agbogbloshie in Ghanas Hauptstadt Accra erlangt; illegaler „e-waste“ aus Europa und den USA wird dort unter erbärmlichsten Bedingungen zerlegt, das Plastik verbrannt, die wertvollen Metalle herausgenommen und weiterverarbeitet. Diese schrecklichen Bilder haben uns in den letzten Jahren immer wieder heimgesucht. Auch Henderson verdrängt sie nicht, kostet sie aber auch nicht aus, wie dies etwa die Fotografen Pieter Hugo oder Nyaba Leon Ouedraogo machen, deren Müllbilder eine/n angesichts dieser Katastrophe ziemlich ratlos zurücklassen. Mittelpunkt des Films ist der Computerbildschirm des Künstlers, auf dem archivierte Bilder, Filme, Texte, Google-Suchanfragen und -übersetzungen zu sehen sind: „This film takes place in between a hard place, a hard drive, and an imaginary, a soft space – the cloud that holds my data. And in the soft grey matter, contained within the head.“ Die Materie, das ist neben der Festplatte und dem Computerschrott offenbar auch das Gehirn, zwar nur eine graue Masse, aber, um mit Jane Bennett zu sprechen, „vibrierend“, etwas, das „all das Feste“ in Bewegung setzen könnte.
Zunächst scrollt vor dem schemenhaften Hintergrund von Agbogbloshie auf Wikipedia die koloniale Geschichte der Goldküste herunter, bis sich ein Fenster mit einer dunklen Hand einblendet, auf der drei kleine Goldnuggets liegen. Nächste Einstellung: Mise en abyme dieses Fensters, mehrfach hintereinander reproduziert; dazu wird über das Schmelzen von Goldbarren unter der Kontrolle der Engländer gesprochen. Die heutige Zeit überlagert sich mit der kolonialen Vergangenheit. Immer noch wird Gold – besagte Nuggets – verkauft, immer noch geht das recht primitiv vor sich, wie die nachfolgenden Bilder zeigen, wo Gold aus dem Sand herausgewaschen wird. Die Stimme ist wütend, die Engländer hätten das Gold nach London abtransportiert. In diese Mise en abyme aus Hand und Nuggets sowie dem herumliegenden Schrott in Agbogbloshie blendet sich das Logo der iCloud ein, der Computerscreen wird zum Screen eines iPhone bzw. iPad – fröhliches Fotografieren und Herumschicken der Bilder. Dazu das Voice-over eines Werbers, der über die Entstehungsidee der Cloud erzählt und dass die meisten Menschen denken würden, die Cloud sei eine Festplatte in den Wolken. Bildwechsel: kaputte Schaltungen, Einblendung eines Werbefilms über die Datencenter von Google mit der Feststellung, dass die Daten der Clouds in diesen Centern gespeichert würden.
Henderson arbeitet mit filmischen Überlagerungen und Parallelisierungen des Gegensätzlichen: der Werbefantasie mit der materiellen Abfallrealität, der Kolonialzeit mit der heutigen oder der rasanten Fahrt in eine leuchtende, 3D-animierte Goldmine und dem abrupten Ankommen in einer dieser simplen Goldstaubminen heute. Auf dem Bildschirm sind viele Fenster geöffnet. Die Unvereinbarkeiten und Gegensätze stehen nebeneinander, die automatisierte Desktop-Ästhetik rahmt das händische Schaffen in Afrika und umgekehrt. Deutlich wird, dass Ghana – die ehemalige Goldküste –, gerade weil ein Teil davon zur Schrottmine verkommen ist, immer noch eine Goldmine für die Europäer ist. Es handelt sich um „a strange system of recycling, a sort of reverse post-colonial mining whereby the African is searching for metals in the materials of Europe“, schreibt Louis Henderson im Trailer.
All That Is Solid lautet der Titel, womit auf die Materialität dieses Schrotts wie auch der Serverfarmen der Cloud verwiesen wird. Aber es ist auch ein Zitat aus dem Kommunistischen Manifest von Marx und Engels: „Alles Stehende und Ständische verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ Der Film endet mit Bildern von schwarzem Rauch brennender Kabel in Agbogbloshie, Bildstörungen, immer undeutlicher und abstrakter, bis nichts mehr zu sehen ist – verdampft vielleicht. Hendersons offenes, gestörtes Ende bietet keine Perspektive im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung, die die Überwindung des Kapitalismus vor Augen hat. Und doch klingt etwas davon an, in diesen zerbrochenen Materialien, diesem Rauch und diesen „Glitches“.
Mit der Verdrängung der Materialität der Daten, verursacht durch die Verlagerung des Abfalls an Orte wie Agbogbloshie, sowie deren unvermeidbarer Rückkehr befasst sich auch Behind the Smart World – artistic strategies to deal with resurfacing data. Es ist dies ein vielschichtiges, prozessual angelegtes Projekt von KairUs (Andreas Zingerle und Linda Kronman) in Zusammenarbeit mit der Linzer Netzwerkinitiative servus.at. Ausgangspunkt waren 22 ausrangierte oder kaputte Festplatten, die KairUs in Agbogbloshie gekauft hatten. Mittels Open-Source-Software zur Datenwiederherstellung gelang es ihnen, den Inhalt von sechs Festplatten lesbar zu machen, und dies, obwohl die meisten von den BesitzerInnen gelöscht worden waren. Diese Daten bzw. Festplatten gaben sie zur Weiterverarbeitung an neun KünstlerInnen weiter – Emöke Bada, Lilian Beidler, Joakim Blattmann, Simon Krenn, Fabian Kühfuss, Marit Roland, Matthias Urban, Michael Wirthig und Pim Zwier. Bei von ihnen organisierten ArtLabs werden die jeweiligen Zwischenstände besprochen, die Endprojekte sollen am 25. Mai im Rahmen des Art Meets Radical Openness Festivals 2016 in Linz ausgestellt und diskutiert werden. Behind the Smart World macht deutlich, dass Daten, ihre Verarbeitung und Speicherung immer einer materiellen Grundlage wie beispielsweise einer Festplatte bedürfen; dass Daten deswegen nicht einfach zum Verschwinden gebracht werden können, sondern auch den Privatbereich eminent tangieren. So fanden KairUs auf den beiden Festplatten, die sie selbst weiterbearbeiteten, „sensibles“ Material. In einem Fall konnte sogar der ehemalige Besitzer aus England samt aktueller Adresse und Freundeskreis über Facebook und LinkedIn aufgespürt werden. Im anderen Fall deuten die wiederkehrenden Fotografien von zwei weißen weiblichen Webcam-Models mit unterschiedlichen Profilen in verschiedenen Dating-Portalen sowie weitere Indizien auf organisierte männliche Heiratsschwindler aus Afrika hin.
Dieses Zur-Disposition-Stellen der Materialität von Medien und Daten ermöglicht es, auf spielerische Weise über deren Herkunft und Weiterleben nachzudenken. Durch das gemeinsame Abarbeiten von Schrott geht die Frage nach der Verantwortung unseres Umgangs mit Computern und Daten gewissermaßen in Handeln über. Man realisiert, dass die Wege und Transformationen von elektronischem Material auch nach ihrem „Ableben“ nicht zu Ende sind. Schließlich sind die vielen Metalle, die in Computern stecken, gar nicht abbaubar, sondern werden uns überleben.10 Wie bei All That Is Solid bleiben auch in Behind the Smart World die Referenzen an „e-waste“ und Datenüberwachung nicht in einer Betroffenheitsrhetorik stecken, vielmehr erscheinen sie als notwendiger Teil einer Spurensuche bezüglich der Verwicklungen unserer Electronica. Diese blendet die unangenehmen Ergebnisse der Recherche nicht aus, sondern sucht sie mittels kreativer Strategien und unter Einbindung weiterer Akteure zu bewältigen.
Mediengeologien
Der große „digital rubbish“ fällt jedoch nicht nur bei der Entsorgung, sondern auch bei der Gewinnung und Verarbeitung der Rohstoffe an. Besonders miniaturisierte Hochleistungselektronik frisst besonders viele Rohstoffe.11 Neodym beispielsweise ist eine gefragte „seltene Erde“, bei deren Abbau nicht nur – wie stets beim Bergbau – Unmengen an Boden verschlissen werden, sondern auch Radioaktivität entsteht.
Das Projekt Rare Earthenware (2015) von Unknown Fields Division hat diesen Aspekt auf eindrückliche Weise materialisiert: Ausgestellt, etwa zuletzt im Rahmen der Schau GLOBALE: Infosphäre am ZKM Karlsruhe, sind drei unterschiedlich große Tonvasen, dazu läuft ein Kurzfilm.12 Dieser verfolgt die Reise der KünstlerInnen zurück an den Ursprung dieses Tons bzw. den Produktionsweg eines Computers von seiner Ankunft im Containerhafen in England zurück bis zur Tagebaumine in der Mongolei, wo ein Mann, nur mit einem Mundschutz gesichert, im puren Gift hockt. Der Ton, aus dem die Vasen modelliert sind, ist nichts anderes als der radioaktive Schlamm, der dort anfällt, ihre Größen entsprechen der Menge an Schlamm, die bei der Neodym-Extraktion für ein Smartphone, einen Laptop und eine Batterie für ein Elektroauto anfällt. Das ästhetische Arrangement basiert demnach auf dem Proportionalverhältnis von Dreck und Radioaktivität. Während die Vasen in ihrer scheinbar statischen Materialität leise vor sich hinstrahlen, besticht der Film durch seinen Trick, nicht nur die Warengeschichte rückwärts laufen zu lassen, sondern auch die darin gezeigten Menschen oder Wagen. Das Rückwärtslaufen scheinbar natürlicher Produktionsvorgänge und die Hervorkehrung des (Radio-)Aktiven der Materie machen deutlich, dass die Zusammenhänge in der buchstäblichen Bedeutung des Worts „pervers“ sind und anders als bisher ablaufen müssen.
Projekte wie dieses machen deutlich, dass sämtliche künstlichen bzw. künstlerischen „neuen Materialitäten“ Denkfiguren sind. Es sind medialisierte und materialisierte Verdichtungen von Realität und ihrer Reflexion oder wie man auch sagen könnte, Koppelungen von Theorie und Praxis. Sie stellen nicht nur die Frage nach der Herkunft und Zukunft der in sie involvierten Materien und Waren, sondern auch nach der in sie involvierten Wesen und Kräfte, das heißt der menschlichen und nicht-menschlichen Akteure, Produktivkräfte und Zeiten.
Doch solche artefaktischen Materialitäten entfalten ihre Wirkung nur dann, wenn sie als Denkmöglichkeiten in Bezug auf unser aktuelles Sein und nicht als Entwürfe neuer Lebensformen genommen werden. Pinar Yoldas’ hybride Plastikwesen für die Installation An Ecosystem of Excess (2014) können als solche akuten Verdichtungen des Jetzt interpretiert werden. Entstanden sind diese Kreaturen im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Great Pacific Garbage Patch und den Entdeckungen, die eine Ozeanforscherin machte: nämlich dass gewisse mikrobiologische Systeme Adaptionen an die Plastikumgebung vornehmen. Auch Yoldas’ bunte Wesen haben Plastikteile inkorporiert und einen Metabolismus entwickelt, der produktiv mit Plastik umgeht. Wer überleben will in einer lebensbedrohenden Umgebung, muss sich anpassen. Das könnte die restriktive Lesart dieser Arbeit sein – tatsächlich sind Mutation und Anpassung weder eine Frage der freien Entscheidung noch im Rahmen der Lebenszeit eines komplizierteren Lebewesens möglich. Interessanter erscheinen diese Organismen, wenn wir sie als mögliche Konsequenz der aktuellen Entwicklung betrachten: als Wesen, die wir einmal sein werden, in einer Welt, in der alles zugemüllt ist.
Dass sich in einer Welt voller gigantischer Wünsche und miniaturisierter Elektrogeräte die Möglichkeiten für alle vermindern statt vergrößern, dies ist eine der großen Erkenntnisse, die die Auseinandersetzung mit neuen Materialitäten bringt. Vielleicht werden in Zukunft ein paar wenige ins All fliegen, doch die meisten werden wohl dableiben und im eigenen Müll nach Gold suchen müssen. Auch das ist Chemie.
1 Vgl. Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Berlin 2011. Zum Projekt Technosphere siehe www.hkw.de. Von „naturecultures“ spricht Donna Haraway und meint dabei deren Interferenzen und Dynamiken. Jussi Parikka verwendet den Begriff „medianatures“ (vgl. Parikka (Hg.), Medianatures. Living Books About Life 2011 sowie ders., A Geology of Media. Minneapolis 2015) und meint damit, dass Medien wesentlich aus Rohstoffen bzw. Mineralien bestehen.
2 Vgl. Parikka, A Geology of Media.
3 Timothy Morton, Zero Landscapes in den Zeiten der Hyperobjekte, in: GAM.07, Grazer Architektur Magazin, Zero Landscape, 2011, S. 81.
4 Roland Barthes, Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964, S. 79.
5 Morton, Zero Landscapes, S. 82; vgl. auch Timothy Morton, Hyperobjects. Minneapolis 2013.
6 Morton, Zero Landscapes, S. 84.
7 Vgl. Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham 2010 sowie Parikka, A Geology of Media.
8 Morton, Hyperobjects, S. 201.
9 Siehe dazu die erhellende, auch theoretisch fundierte Untersuchung von Jennifer Gabrys, Digital Rubbish: A Natural History of Electronics. Minnesota 2011.
10 KairUs verweisen in Bezug auf „Untödlichkeit“ auf Jussi Parikkas Begriff der „Zombie Media“. Dem Aspekt der Untödlichkeit etwa eines Smartphones geht auch das Schweizer Nationalfonds-Forschungsprojekt Times of Waste nach (Flavia Caviezel, Mirjam Bürgin, Anselm Caminada, Adrian Demleitner, Marion Mertens, Andreas Simon, Yvonne Volkart; www.ixdm.ch/portfolio/times-waste; 2015–2017). Ich möchte mich an dieser Stelle bei den KollegInnen für Erkenntnisse und Diskussionen danken, ohne die dieser Text nicht möglich gewesen wäre.
11 Vgl. dazu die Recherchen für Times of Waste.
12 Vgl. www.theguardian.com/environment/gallery/2015/apr/15/rare-earthenware-a-journey-to-the-toxic-source-of-luxury-goods.