Heft 3/2016 - Netzteil


Musik nach dem Internet

Medium oder Botschaft, oder Medium und Botschaft?

Adam Harper


Kunst und Musik thematisieren vermehrt das Internet, wofür sich langsam der Ausdruck „Post-Internet“ einbürgert. Dadurch wird das gewählte Medium nicht nur selbstbezüglich, sondern auf gewisse Weise auch selbstkritisch. Problematisch dabei ist bloß, dass das Internet nicht nur allumfassend und dominant ist, sondern auch historisch, gesellschaftlich und physisch in permanenter Veränderung begriffen ist. Das macht es auch so schwierig festzustellen, wo es eigentlich aufhört, ganz zu schweigen davon, seine Auswirkungen, seine Ideologien oder Ästhetiken im Kulturbereich abstrakt zu benennen. Daher muss man sich in der Beschreibung immer auf vorläufige und äußerst relative Einzelfälle beschränken. Weil das Internet nun einmal die analogen Tonträger und die CD als einfachste Form der Musikverbreitung weit hinter sich gelassen hat, muss sich besonders die Musikszene mit ihm und seinen Auswirkungen auseinandersetzen. Insofern ist es naheliegend, das Internet als Medium du jour mit dem Internet als Ästhetik du jour gleichzusetzen. Musik im Internet wird somit zu Musik über das Internet.
So wird es auch meist in der Vaporwave verstanden – jener Subkultur, die, was Digitalisierung, Veröffentlichungen, Rezeption und Fanzahl betrifft, wahrscheinlich Rekordhalter ist, da sie fast ausschließlich online stattfindet. Vaporwave hat einen ganz speziellen Look, der an die Computer-, Shopping- und Firmenkultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts angelehnt ist. Vaporwave-Musik zum Beispiel schnappt sich unter anderem den glatten Studiopop der Zeit und verarbeitet ihn zu Loops, die zumeist verlangsamt oder mit unheimlichen Soundeffekten verfremdet werden. Ähnlich wie beim Revival von Lounge-Musik und der „Space-Age-Bachelor-Pad-Music“ der 1990er-Jahre besteht der Appeal dieser Musik in ihrer archaischen Kitschigkeit, greift man doch etwa auf Töne wie den Einschaltklang von Windows 95 zurück, der in Dutzenden von Vaporwave-Stücken vorkommt.

Wenn aber Vaporwave „Post-Internet“ ist, warum ist dann sein häufigstes Symbol die klassische Marmorstatue? Wahrscheinlich läge man nicht ganz falsch, diese abbröckelnden menschlichen Formen als Kommentar auf das alte Internet zu sehen oder auch als bösen Seitenhieb auf die Repräsentation von Menschen durch Daten. Die einfachere Erklärung aber ist, die Statuen als attraktives Motiv aus 1980er-Jahre-Interieurs zu verstehen. Die Vorliebe von Vaporwave für Einkaufszentren wiederum könnte man als Affirmation des Kapitalismus lesen, doch letztlich wird der Stil von jener Camp-Exotik und Archaik dominiert, die den Underground und die Gegenkulturen schon seit Generationen faszinieren, was auch an der Obsession von Vaporwave für Hi-Tech aus Japan deutlich ablesbar ist. Vaporwave handelt also mehr „vom“ Internet, als das Lounge-Revival „von“ der Musikkassette oder der CD handelte. Und doch kann ihre Botschaft nicht ausschließlich auf das Medium reduziert werden.
Die Ansicht, das Internet sei nunmehr alleiniger Motor der Kultur, scheint besonders schwer auf den zwischen 1980 und 2000 Geborenen zu lasten, die als egomanische Narzisse oder „digitale Eingeborene“ diffamiert werden, deren Gehirne schon vollständig an das Internet gekoppelt seien. Diese Menschen seien so etwas wie verkrüppelte und unschuldig degenerierte Opfer der modernen Technikhybris oder grausame Cyborgs, die drohen, ihren Eltern den Garaus zu machen, weil deren Glaube an das Echte und Bescheidene besonders obsolet sei. Wie schon Generationen von Punks davor spiegeln diese „Millennials“ aber auch die auf sie projizierten negativen Dinge zurück, und zwar mit einer Ambivalenz, die zwischen Lust und Groll schwankt.
Egal wie satirisch oder affirmativ, kommen die berühmtesten AgitatorInnen für dieses Image der „Millennials“ eindeutig vom Plattenlabel PC Music. Einer seiner spannendsten Acts ist Hannah Diamond, besonders wegen der subtilen Beschwörung ihrer eigenen Authentizität, die mehr als überzeugend rüberkommt. Das Video zu ihrer Single „Hi“ zeigt, wie sich die Sängerin auf einem Bett räkelt und ihre Internetgeräte bedient. Dazwischen sieht man sie in Zeitlupenaufnahme als gefeierten Star, was als echtes Phantasma oder aber auch als reine Fiktion gedeutet werden kann. Das Video ist eine Satire auf den Hitparadenpop der neoliberalen Ära, und es scheint, als suhle sich Diamond nur deswegen in ihrem Erfolg, um den von ihr erwarteten Narzissmus pflichtbewusst zu rechtfertigen, ob nun auf Instagram oder auf dem roten Teppich (was ohnehin zusehends eins wird). Dabei geht es im Liedtext um Einsamkeit und Zurückweisung am anderen Ende der digitalen Leitung: „I don’t wanna be alone in my bedroom, writing messages you won’t read … writing messages, on the internet …“ Einerseits ist „Hi“ ein campy Popsong über die moderne Technik, ganz ähnlich wie Dee D. Jacksons „Automatic Lover“ aus dem Jahr 1978 oder Zapps „Computer Love“ von 1985. Andererseits aber geht es um das bange Scheitern, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, und die Angst davor, den „Millenials“ könne mehr – oder schlimmer noch: weniger – Bedeutung zukommen, als sie selbst glauben. Das Internet wäre dann eines der zahlreichen Vehikel für diese Botschaft, nicht aber die einzige Ursache.

Eines der schwierigsten und zugleich einflussreichsten Alben zum Thema Internet ist Holly Herndons Platform (2015). Der Titel verweist auf Webseiten, die Content hosten, wodurch angedeutet wird, dass das Album ebenso eine Art Podest ist. Die zweite Bedeutung von Platform ist natürlich Bahnsteig – ein Ort also, von dem man zu einer Reise aufbricht. Wie schon in früheren Veröffentlichungen bezieht sich Herndon auf den Körper und verarbeitet seine Spuren zu so etwas wie dem aktuellen musikalischen Äquivalent des Kubismus. Die Hörenden und auch die Musikerin selbst nehmen sich der unmöglichen oder zumindest unendlich schwierigen Aufgabe an, aus den digitalen Spuren eines Körpers und seines Bewusstseins eine zusammenhängende Person zu rekonstruieren. Das Video zum Song „Chorus“ – der Name erinnert verdächtig an das Motto „dem Chor predigen“, wie er der Funktionsweise von Twitter nachgesagt wird, oder an ständige Pöbeleien im Hintergrund – verwendet dreidimensional gescannte Bilder von Computerbildschirmen, als würde die digitale Technik an dieser Schnittstelle (nicht ganz erfolgreich) versuchen, ihre menschlichen NutzerInnen zu verstehen. Hier geht es weniger um die Reduzierung der Botschaft auf das Medium als vielmehr darum, ein oft allzu unsichtbar scheinendes Interface zu erforschen. Als wolle sie den Körper und seine Lust wieder neu verorten, thematisiert Herndon die bekannte „Autonomous Sensory Meridian Response“ (ASMR): Dabei handelt es sich um einen Internethype für beruhigende Stimmen, die im Song „Lonely at the Top“ zu einem stummen und gestresst wirkenden Kapitalisten sprechen.
Ich würde diesen Trend zur bildlichen und narrativen Darstellung der digitalen Welt – jener Pseudophantasmen also, die sich unter den Namen Cyberspace oder Virtual Reality ständig weiterentwickeln – dennoch nicht als „Post-Internet“ bezeichnen, denn diese Welt geht weit über das Internet im engeren Sinn hinaus. Letztlich sind es ganz bestimmte Netzwerke, die sich als medialer Schleier über alles im Alltag und in der Kultur legen. Dazu gehören eben ganz bestimmte Dinge wie Computerschnittstellen, elektronisch generierte Sounds, Smartphones, Tablet-Computer, Simulationen („Hyperrealität“), Computerspiele, Kybernetik, künstliche Intelligenz, Polizei- und Militärpräsenz, Marketing, Werbung, Kommodifizierung und Konsum – und eben auch eine eigene „Hi-Tech-Ästhetik“. Von weiter weg betrachtet stellen diese Bilder und Geschichten indes nur erste, äußerst limitierte Beschreibungen eines Mediums dar, dessen immense soziale, kulturelle und kreative Möglichkeiten erst zögerlich zur Kenntnis genommen und diskutiert werden. Die Auswirkungen des Internets sind viel zu weitreichend, um auf einen Namen oder ein paar typische Merkmale reduziert werden zu können. Solange die Musik in dieser Hinsicht nicht zynisch oder reaktionär wird, spielt sie jetzt und auch in Zukunft wohl eine Schlüsselrolle bei diesem Abenteuer.

 

Übersetzt von Thomas Raab