In Cristina Lucas’ Videoarbeit Touch an Go (2010) sieht man ältere Menschen, wie sie im Vorbeigehen an einem alten Industriegebäude in Liverpool, einer verlassenen Textilfirma mit dem Namen Europleasure International Ltd, lustvoll-wütend einen Stein in eines der zahllosen Fenster werfen. Eine zweite Kamera registriert den Einschlag der Steine, das Zersplittern der Fenster im Inneren. Es sind ehemalige ArbeiterInnen, die da Steine werfen, das Unternehmen hat den Standort aufgelöst.
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In den letzten Monaten haben die „alten“ Medien – Feuilleton, Radio, Fernsehen – die sozialen Medien des Web 2.0 als gefährliche Gegenmacht im Staate entlarvt, haben sie in vielfältigen Analysen als Hort der Enthemmung, zugleich der Gleichschaltung ihrer NutzerInnen angeklagt. Nun, mit dem Sieg Donald Trumps, sind sie die offiziellen Gewinner der Wahl, in ihren Foren wurde aus dem einseitigen, zivilisationsfeindlichen Weltbild der Populisten eine politische Form geschaffen, die die Wählerschaft verblendete, überzeugte, die, permanent verstärkt, etwa durch die automatischen Replikationsmodi der Bots, es schaffte, die Wende in den Köpfen (oder doch nur den „Herzen“?) zu instaurieren. Jedoch hatten auch die Wahldesigner der Clinton-Kampagne Social-Media-basiert auf ihre WählerInnen eingewirkt und ihre Spaltung der Welt in Gut und Böse beworben, wenngleich mit weniger Erfolg. Die tatsächliche Wahlentscheidung wurde, so die beinahe einstimmige Diagnose, von Facebook, Twitter etc. vorbereitet, gelenkt und umgesetzt. Natürlich haben die Wahlhelfer Trumps diese Medien zu ihrem Vorteil nutzen können, doch das wahre „Böse“ findet sich, gleich einem deus ex machina, in diesen selbst: „Trump ist das Produkt von Social Media. Er wäre ohne die totalvernetzte Echtzeit-Kommunikation niemals ein ernstzunehmender Kandidat geworden“, so die Süddeutsche Zeitung. Diese ermutigen, ja zwingen die UserInnen geradezu, ihren „Anstand“, ihre demokratische Gesinnung aufzugeben und sich einfachen, regressiven und aggressiven Triebwünschen hinzugeben. Also auf diejenigen einzuschlagen, die, als vom Staat vermeintlich zu Unrecht Unterstützte, das eigene Leben bedrohen, die Arbeitsplätze, die Geschlechteridentität oder die eigene „Rasse“. Das eigene Lebens- und Liebesmodell also. Ohne die wildwüchsige, nicht von der normativen Ordnung der Gesellschaft kontrollierbare Gegenwelt des Internets und seinen sozial-asozialen Plattformen wäre der Aufstieg eines solchen, die Werte zerstörenden, entsublimierten Primitivismus wie derjenige der Trumps dieser Welt nicht möglich gewesen. Mit abgrundtiefem Unverständnis wird nachgefragt, warum moderne Menschen denn einen solchen unmodernen Clown wählen konnten. Gleiches findet sich in allen westlichen Gesellschaften wieder, die rundum, gleichsam aus ihrer Mitte, vom Populismus und seinen sogenannten „postfaktischen“ Ideologien bedroht werden. Auch ein Erdogan, ein Orbán, ein Strache oder die AFD, sie alle scheinen sich mit ihren Online-Alter-Egos in perfider Eintracht gegen alles „Gute“ zu verbünden. Oder doch nur gegen einen allgegenwärtig regierenden Mangel, einen Mangel an nationaler Identität, an Sitten und Werten, an Geschlechterdifferenz, an Arbeitsplätzen, an Einkommen, an nicht vom Establishment diktierten Lebensformen?
Vielleicht mag sich ja einer der Gründe für die defätistische Wahrnehmung der alten Medien in dem – nun schon seit Jahren zu beobachtenden – grandiosen Scheitern der professionellen Wahlprognosen finden, die für die Medien ja stets auch ein Trumpf waren, vor der Realität bzw. der Zukunft bereits ein Wissen um diese zu haben und damit selber die Stimmungen aufzuheizen, Blindschüsse abzugeben, pseudomotivierte Erregungsszenarien zu propagieren. Offensichtlich sind es nur die Gewinner selber, die es immer schon wussten und nur eines wollten, „faire mentir les sondages“, so François Fillon, „die Umfragen Lügen strafen“. Und damit auch die Verfahrensweisen der alten Medien. Die verblüffenden Wahlausgänge entwerten die medial ausgeschlachteten Prognosen radikal und offenbaren, dass das „Wahlvolk“ nicht mehr zur Gänze zu durchschauen bzw. in seinen Meinungen, seinem Verhalten zu objektivieren ist. Andere „Kräfte“ entscheiden nunmehr Wahlen mit.
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Im Frühjahr 1973 führt Raymond Bellour in Paris ein Gespräch mit Gilles Deleuze und Félix Guattari, das erst letztes Jahr veröffentlicht wurde. Thema ist der von beiden 1972 publizierte Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. In dem Gespräch wird folgende Unterscheidung relevant: „Es gibt zwei Politiken des Begehrens, eine faschistische, paranoische, kapitalistische, bürgerliche, reterritorialisierende Politik, jene, die referenziert, koordiniert, territorialisiert.“ Und eine zweite, die, „wenn etwas zusammenbricht, flüchtet, sich zugleich einlässt“, gerade keine Objekte hervorbringt, ohne Referenz, ohne Kontext ist. „Die flieht, fließt.“ Das Fließen als Politik des Begehrens setzt eine apersonale, nicht-proprietäre, objektlose Logik voraus.1
Zunächst überrascht, dass eine faschistische und eine bürgerliche Politik ein Gemeinsames teilen, beide sind territorial fixiert, bringen Objekte hervor, die zwingend zu referenzieren sind, sie arretieren die Verhältnisse, lassen sie erstarren. Und da ist noch eine andere Politik, die eben das Gegenteil tut und deren Modus der flux, also das Fließen, Strömen, Fliehen ist. Übertragen auf das Netz lässt sich diese zweite Politik des Begehrens plausibel vergegenwärtigen. Die Anlagen des Web 2.0 ermöglichen eine Beteiligung, eine Anwesenheit aller an allem, was im Netz an kollektiven Produktionsszenarien angeboten wird. Diese Beteiligungen – auf Facebook oder Twitter etwa – verpflichten jedoch den Einzelnen zu einem nicht-proprietären Gebrauch, einer bindungslosen Zugehörigkeit, zu bloß temporären Ermächtigungsritualen innerhalb der zur Verfügung stehenden Dienste, Applikationen, Nutzungsmodi. Es sind gerade diese limitativen Strukturen, denen nicht-normative, nicht-instituierende Potenziale innewohnen.
Twitter ist kein Objekt, auch Tweets sind keine Objekte, die jemand zum Eigentum hat. A priori gilt, dass alle von UserInnen getätigten Eintragungen, Einlassungen ihre Wirkungen bloß proximativ entfalten, also in Annäherungen, Andeutungen, nicht als Setzung oder Deutung. Sie bleiben vorläufig, flatterhaft, volatil, kontingent, atomisiert. Da sehr viele das Gleiche tun, ist der semantische Wert der einzelnen Message gering im Vergleich zu seiner Signalwirkung: Viele „geben ein Zeichen“, etwa der Unangepasstheit, der Unzufriedenheit, der Wut. Diese Artikulationen und Sprechweisen sind innerhalb der Eigenlogik des Mediums instabil, wissen um ihre „Selbstauslöschung“ (exemplarisch dafür ist Snapchat), ihre AutorInnen sind nicht zu einer Identitätsansage verpflichtet, alles ist in Schwebe, verändert sich. Und auch wenn alle scheinbar das Gleiche wollen und sie das oftmals ordinär, ohne Hemmungen tun, so ist das Schreien wichtiger als sein Motiv, oder besser noch der Nachhall des Schreiens, denn die Netzforen sind Resonanzräume, Echoräume, in denen sich die Stimmen der vielen auf eigentümliche Weise verstärken. Aus dieser Perspektive können die Handlungsfelder des Netzes auch von einer Politik des Begehrens aus beschrieben werden, die sich bürgerlichen oder auch faschistischen Territorialidentitäten und Objektfixierungen widersetzt. Ihr depersonalisierter Ausdruck ist ihr Fließen, ihr Fliehen. Ein Fliehen, das – „vogelfrei“ – die BenutzerInnen gar nicht erst zur Sublimierung auffordert, ihnen aber auch keinen abschließenden Genuss für ihre Taten, eine Befriedigung verspricht, ist es doch der Akt selber, der stets von Neuem wiederholt werden will. Auf diese Weise wird das Begehren, hier auf die rohe und „rechte“ Widerständigkeit in den sozialen Netzen bezogen, in der Schwebe gehalten; um sich schlagen, ohne aber das Objekt zu treffen, in gewisser Weise ein Schattenboxen ohne Territorium, ein deterritorialisiertes Wüten.
Vermutlich hatten viele der 59 Millionen Trump-WählerInnen, BefürworterInnen und Follower gar kein Objekt, kein Wunsch- oder Liebesobjekt namens „Trump“ vor Augen. Eine Vielzahl der 59 Millionen weiß verlässlich, dass ihre Lebensverhältnisse sich sicherlich nicht ändern, verbessern werden nach der Wahl, die Ungleichheit notwendiger Teil des sie ausschließenden demokratisch-kapitalistischen Systems ist, sie die VerliererInnen bleiben werden, egal wer Präsident ist. Sie möchten einfach nur einzeln und im Fliehprozess als Masse in einen temporären Zustand puren Selbstwahrnehmungsbegehrens kippen. Das gelingt ihnen mit der von den sozialen Medien entworfenen und angebotenen „Außenwelt“, einer von den Systemen entkoppelten Außenwelt, einem Freiraum jenseits der Restriktionen des Alltags, der Institutionen. Eine „Versammlung der Unversammelten“ (Sloterdijk), der Namenlosen, ja der Nicht-Identitären wird im Web 2.0 möglich, völlig entzogen den moralischen und juristischen Regelsystemen. „Sie“ kommen also von außen, erregen sich, fließen von einem Tweet, einem Statusupdate zum nächsten, fliehen durch die endlosen Korridore der Plattformen. Nicht ihre subjektive Befindlichkeit, ihr Begehren nach dem „guten Leben“ und ein Abstoßen des schlechten gelebten Lebens und dessen VerursacherInnen, des Establishments, ist der Grund ihrer Teilhabe an den sozialen Medien, sondern ihr Wunsch, ihr Antrieb ist jener einfache und nachvollziehbare nach den von diesen Medien angebotenen Resonanzräumen, sich als lebend und handelndallererst wahrzunehmen. Während wir, in alter Manier, am Normativen – demokratischer Grundsätze, der Aufklärung, des Guten – festhalten, festgezurrt auf unseren Plätzen, die einzunehmen wir verpflichtet sind, sollten sich die Institutionen als für unser Fortkommen günstig erweisen. [Dies alles zu „wissen“, setzt keine intellektuelle Empathie voraus, sondern bloß eine „produktive Intuition“ (Kracauer) in die innere und historische Zerrissenheit demokratischer Gefüge. Und eine Einsicht in den „Vitalismus“ der sozialen Medien, realpolitisch bedenklich, spekulativ vertretbar, so mein Eindruck. Auch arbeitet die beschriebene Deterritorialisierung, das objektlose Fließen in einem permanenten Spannungszustand gegen die Beharrungskräfte jener anderen Politik des Begehrens, die daran interessiert ist, die Ströme umzulenken, die Fliehkräfte zu reterritorialisieren, das Web-Plasma zu kerben, Objektbindungen hochaffektiv zu reinszenieren, die sozialen Medien also dienstbar zu machen für eine Ideologie unvereinbarer Gegensätze, der Polarisierung und Ausschließung. Beide, die molare Form der Institutionen und die molekulare Form neuer Subjektivierungsweisen, sind interdependent.]
Der Einsatz von Social Bots während des Wahlkampfs eröffnet noch einen weiteren Ausblick, und zwar auf jene „algorithmically controlled accounts that emulate the activity of human users but operate at much higher pace (e.g., automatically producing content or engaging in social interactions), while successfully keeping their artificial identity undisclosed.“2 Die Anwesenheit, die unverschämte Expansion und Wirkung dieser „non-human actors“ war natürlich bekannt, darüber wurde – idiosynkratisch – informiert, publiziert. Doch obwohl ihnen scheinbar eine Manipulation der WählerInnen gelang, gab es keine juristischen Eingriffe (im Vergleich dazu wirken schwache Kleber auf Wahlkarten wie aus vormodernen Zeiten). Dem ungeachtet bieten diese „gemeinen“ Automaten, Roboter einen Idealtypus zur Beschreibung der, dem „Unfassbaren“ zugeneigten „human actors“ in ihrem politischen Verhalten. Den Bots gelingt automatically und at much higher pace ein stream of support, sie strömen permanent auf alle Twitter-, Hubot-, Facebook-Accounts ein, sind ungemein fleißig im Verstreuen klarer, sinneinfacher Botschaften, retweeten und verfolgen UserInnen mit bestimmten Profilen, sie sind maßlos, gefräßig, wahl- und gefühllos, hocheffizient, mikropolitische Fließobjekte im Micro-Blogging der 140-Zeichen-Welten. Also Vorbilder für all jene, die genauso, à rebours, ihre Meinungen, Wünsche bekannt machen wollen, genauso politically incorrect sein möchten wie das gleichnamige berüchtigte 4chan-Board Politically Incorrect (/pol/), das seine Bots zugunsten von Trump losschickte.
Man verweist gerne darauf, dass sich der Einzelne (aber selbstverständlich nicht ihre Kritiker) in einer Art „kognitiver Wirklichkeitsblase“ befindet, dem sogenannten Daily Me; die einseitige Filterung der Information bewirke einen monothematischen Zufluss an Daten, die nichts weiter tun, als die bisherige Meinung verstärken, bestätigen und das eigene Weltbild absolut setzen. So dass man stets nur mit sich selbst die Welt verhandelt. Tatsächlich sind die vielen Einzelnen auf sich selber zurückgeworfen, handeln ohne Aussicht auf Gewinn. Sie sehen keine Repräsentation ihrer politischen Interessen, dabei sind es ja weniger „Interessen“, die gewahrt sein wollen, als vielmehr Empfindungen der Isolation, der Verknappung, der Wünsche nach einer gesicherten Existenz, die laut werden. Jedenfalls ist nicht anzunehmen, dass sie auf Wahrheitssuche auf Twitter oder Facebook sind, aber sich dieser Plattformen vielleicht für ein momentanes Aufbegehren bedienen: Our feeds crack the world.
„Es ist eine unglaubliche Illusion, davon auszugehen, dass die Leute eine Identität haben, an ihren beruflichen Funktionen kleben ... Sie sind vollkommen orientierungslos, verstört, verängstigt. Sie fließen. Sie machen den Eindruck einer Fixierung, gefangen in einer Konstellation, aber sie leben in Kontakt mit einer Menge an Intensitätssystemen, die sie durchlaufen.“3
Cristina Lucas hat ArbeiterInnen der vom Konzern aufgelassenen, weil „global“ unrentablen Textilfirma Europleasure International Ltd in Liverpool einen filmischen, transgressiven Möglichkeitsraum angeboten. Politisch bewirken werden die vielen Steine und die zerbrochenen Fenster nichts, doch im kleinen Akt und Affekt des Steinewerfens selber mag ein wenig „Schwindel der Freiheit“ spürbar sein, Verhältnisse nicht nur erdulden zu müssen, sondern auch ein wenig vandalieren zu können.
1 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Entretien sur l’Anti-Oedipe avec Raymond Bellour, in: Gilles Deleuze, Lettres et autres textes. Édition préparé par David Lapoujade. Paris 2015, S. 198–239, Übersetzung Marc Ries.
2 Alessandro Bessi/Emilio Ferrara, Social bots distort the 2016 U.S. Presidential election online discussion; http://firstmonday.org/ojs/index.php/fm/article/view/7090/5653.
3 Deleuze/Guattari, Entretien sur l’Anti-Oedipe, a.a.O.