Heft 3/2017 - Lektüre



Helmut Draxler:

Abdrift des Wollens. Eine Theorie der Vermittlung

Wien (Turia + Kant) 2016 , S. 73 , EUR 32

Text: Pascal Jurt


„Die Sprache der Veränderung ist heute gnadenlos geworden.“ Mit diesem Satz beginnt Helmut Draxlers Abdrift des Wollens. Eine Theorie der Vermittlung, und der Autor meint damit vor allem den „Imperativ des Wollens als Kern der Rhetorik einer ebenso verheißenden wie mobilisierenden Veränderung“. Der Begriff der Vermittlung als Ausgangspunkt des Buches – ein Allgemeinbegriff für ganz unterschiedliche reformistische, pädagogische, therapeutische, beratende und kuratorische Praktiken – drängte sich Helmut Draxler, Leiter der Abteilung Kunsttheorie an der Wiener Universität für angewandte Kunst, in seinem eigenen institutionellen Alltag auf, wo permanent reformiert, verändert, optimiert oder vermittelt wird, ohne dass man dabei an ein Ende gelangt.
Die sich „rapide ausbreitenden konkreten Praktiken von Reform, Kommunikation, Erziehung, Therapie, Beratung, Mediation“ begreift Draxler nicht als einen dynamisierenden Impuls, sondern als „konstitutiv scheiternde Vermittlungsformen“. Skeptisch weist er auf die imaginäre bzw. phantasmatische Aufladung politischer Ansprüche hin sowie auf die Lösungsgewissheiten eines naiven Voluntarismus, der sich häufig nicht klar von radikal individualisiertem Ausdrucksbegehren abgrenzen lässt.
Draxlers Fokus liegt auf dem, was er "Abdrift des Wollens" nennt – dem, was sich entgegen unseren Absichten vollzieht. Mit Lacan bezeichnet er dieses Abdriften auch als das Symbolische. Bewusst verwendet er mit dem Begriff der Abdrift nicht ein übertheoretisiertes psychoanalytisches Konzept wie etwa das Unbewusste oder die Spaltung, sondern einen neologistisch-nautischen Begriff. Es geht ihm um die Frage, wie Politik überhaupt innerhalb der symbolischen Ordnung möglich ist. Ebenso zentral ist die Frage, ob man die Bedingungen des politischen Sprechens und Handelns als Hindernisse für den wahren Selbstausdruck begreifen soll oder besser als notwendige Voraussetzungen, um sich überhaupt politisch artikulieren zu können.
Abdrift des Wollens hat zum Ziel, die Vielfalt des Begriffs der Vermittlung auf ein gewisses einheitliches Muster rückzubeziehen, nämlich darauf, dass Vermittlung stets verschiedene Positionen impliziert, die unterschiedlich akzentuiert sein können. Zunächst ist dies eine Position der Unmittelbarkeit, auf die sich die Vermittlung richtet. In der Moderne gilt diese innerweltliche Unmittelbarkeit im Wesentlichen als Verkörperung von autonomen, authentischen oder originellen Seinsweisen. Eine weitere Position, die Draxler ausmacht, ist die des Mangels, die der Vermittlung bedarf, weil es an solchen Qualitäten des Autonomen oder Authentischen mangelt. Vermittlung zielt nach Draxler auf eine Überwindung des Mangels, auf ein Erreichen der Unmittelbarkeit und die Aufhebung von Differenz. Tatsächlich sollte Vermittlung aber genau diese Differenz ernst nehmen und als Erstes Zuschreibungen von Unmittelbarkeit und Mangel vornehmen. Nichts sei per se mangelhaft, und trotzdem müsse alles zunächst als mangelhaft beschrieben und formuliert werden, um dann schließlich politisch artikulierbar zu werden. Die dritte Position bildet für Draxler jene der Vermittlung selbst.
In Jean-Jacques Rousseaus Roman Émile (1762) zeigt sich nach Draxler „exemplarisch die Abdrift dieses Imaginären und die Etablierung der drei Subjektpositionen [Unmittelbarkeit, Mangel und Vermittlung; Anm. d. A.] in Form von pädagogischen Beziehungen und Nicht-Beziehungen“. Hier werde auf Unmittelbarkeitspositionen hin erzogen, die mangelhafte Position des Begehrens und Wollens des Erziehers Jean-Jacques, Rousseaus Alter Ego, werde hingegen kaum reflektiert. Man erfahre in Émile nicht, was der Tutor eigentlich wolle und warum er etwas tue: „Unschuldig sind in diesem Modell nicht die Kinder Émile und Sophie, sondern deren erwachsener Begleiter, denn wir erfahren nichts über dessen Beweggründe, warum dieses vermittelnde Ich des Lehrmeisters ein anderes Ich zum wahren Ich werden lasse bzw. welches Vergnügen sich dahinter verbirgt und welches Ungenügen am eigen Selbst.“
Das Beispiel belegt, dass letztlich gar keine Vermittlung gelingen kann, sondern stets nur ihre eigenen Ausgangsbedingungen produziert werden, indem sie Zuschreibungen von Fülle, Unmittelbarkeit und Mangel vornimmt. Mit der zentralen These des Buches, Vermittlung werde selbst zum Problem, dem durch noch mehr Vermittlung begegnet werden müsse, plädiert Draxler dafür, dass weder dem Kult des Unmittelbaren noch der tendenziell bürokratischen Programmatik des endlosen Vermittelns nachzugeben sei. Man müsse sich vielmehr den eigenen Unmittelbarkeiten bzw. der eigenen Unaufgeklärtheit in unterschiedlichen Formen von Praxis aussetzen. Praxis wird dabei nicht als Lösung eines theoretischen Problems, sondern als deren Bedingung verstanden.
Der dichte Essay, der oft versucht, in einem aporetisch-paradoxal formulierten Ton der abstrakten Redeweisen und Zeitdiagnosen des Vermittlungsbegriffs habhaft zu werden, muss sich indessen die Frage gefallen lassen, wie emanzipatorisch-transformatorische Kraft gedacht werden kann. Denn selbst die beste aller Kritikformen scheint von Mängeln behaftet, während abstrakte Selbstreflexion, auch der eigenen Machtfaktoren, folgenlos bleibt. Die im Essay zentrale Dialektik von Unmittelbarkeit und Mangel besticht durch ihre Folgerichtigkeit und durch den konsequenten kritischen Impuls; gleichzeitig fragt man sich, ob der Argumentation nicht letztlich etwas Zirkuläres eignet, das nicht über die genannte Dialektik hinausführt.