Heft 4/2017 - Global Limits


Sphären des Aufstands (Teil eins)

Vorschläge zur Bekämpfung der Zuhälterei über das Leben

Suely Rolnik


„Immer geht es darum, das Leben dort, wo es gefangen ist, zu befreien – oder es doch in einem unsicheren Kampf zu versuchen.“
(Gilles Deleuze/Félix Guattari, 1991)1

„Die Aufzehrung der Rohstoffe ist vermutlich deutlich weniger fortgeschritten als die Aufzehrung der subjektiven Ressourcen, der vitalen Ressourcen, die unsere Zeitgenossen erfasst hat. Wenn man sich so sehr darin gefällt, ausführlich die Verwüstung der Umwelt zu beschreiben, dann auch, um den ungeheuren Verfall der Innerlichkeiten zu verschleiern. Jede Ölpest, jede verödete Steppe, jedes Aussterben einer Art ist ein Bild unserer zerschlissenen Seelen, unserer Absenz von der Welt, unserer intimen Unfähigkeit, sie zu bewohnen.“
(Unsichtbares Komitee, 2014)2

Die Welt krümmt sich vor Krämpfen und wir mit ihr. Wir sind von Unbehagen eingenommen, von einem Mix an Gefühlen. Einmal ist da die Furcht vor der finsteren Landschaft, geschaffen durch den Aufstieg der reaktiven Kräfte überall, deren Tenor von Gewalt und Bestialität uns an die schlimmsten Momente der Geschichte erinnert. Gleichzeitig stehen wir, perplex, vor einem anderen Phänomen: den neuesten finanziellen und neoliberalen Entfaltungen des kapitalistischen Regimes, das sein koloniales Projekt zur „globalitären“3 Verwirklichung bringt – die weltweite Übernahme zu ihren letzten Konsequenzen treibt.
Auf den ersten Blick scheint uns die Gleichzeitigkeit dieser beiden Phänomene paradox, was unser Verständnis unscharf werden lässt und uns verwirrt: ist doch der neoliberale Modus Lichtjahre entfernt von der archaischen Beschränktheit der grobschlächtigen Kräfte des Neokonservatismus. Es sind dies radikal unterschiedliche Symptome reaktiver Kräfte, produziert in unterschiedlichen Zeiten, die jetzt in unserer Gegenwart zusammenkommen. Aber, nach einem kurzen Schrecken verstehen wir, dass der Neoliberalismus diese groben Subjektivitäten an der Macht braucht, um für ihn die schmutzige Arbeit der Zerstörung zu übernehmen, von allen demokratischen und verfassungsrechtlichen Errungenschaften, um ihre bloße Vorstellung aufzulösen und um ihre ProtagonistInnen von der Bildfläche verschwinden zu lassen – auch Linke aller Art, aber nicht nur. Und weil für die besagten Subjektivitäten keine moralischen Schranken gelten, erfüllen sie ihre Aufgabe mit einem hohen Grad an Gewalt und in einer überwältigenden Geschwindigkeit – wenn wir einen ihrer Angriffe bemerken, ist der nächste bereits erfolgt. Die Ausübung dieser Aufgabe verschafft ihnen ein perverses narzisstisches Wohlgefallen, das ans Pathetische reicht. So wird, auf möglichst effiziente Weise, der Grund bereitet für den Fluss des transnationalen Kapitals, endlich frei von Störungen.
Zur Perplexität und zur Furcht kommt noch eine tiefe Frustration hinzu, über die jüngsten stufenweisen Auflösungen verschiedener linker Regierungen weltweit, besonders in Lateinamerika – was nicht durch Zufall gleichzeitig geschieht, führt dies doch zum Aufstieg der temporär vereinten reaktiven Kräfte des Neokonservatismus und Neoliberalismus. Diese Frustration ruft traumatische Erinnerungen an die Revolutionen des 20. Jahrhunderts und ihre unheilvollen Ausgänge wach. Unsere Subjektivität wird in Alarmbereitschaft versetzt, wie wenn eine bestimmte, gefährdende Stufe der Knappheit von lebensnotwendigen Mitteln erreicht ist. Das sind traumatische Situationen, denen wir entweder erliegen (pathologische Reaktion, die zur Depotenzialisierung führt) oder die unseren Horizont erweitern und uns Wege zur Dechiffrierung der Gewalt finden lassen, um diese zu bekämpfen (Reaktion der potência vital, die Lebenskraft erhält). Wenn wir nicht erliegen, erkennen wir, unter anderem, dass die Projekte der Linken immer gegen eine unverrückbare Hürde stoßen, die es zu problematisieren gilt, um so die Bedingungen für ihre Überwindung zu schaffen.
Zuerst müssen wir erkennen, dass diese Hürde sich nicht einfach außerhalb des Territoriums der Linken4 befindet, also äußerlich existiert. Sie befindet sich auch – vielleicht primär – im Inneren des eigenen Territoriums, von wo aus nur die makropolitische Sphäre zu erreichen ist. Das ist die Sphäre einer Welt der herrschenden Formen und ihrer Existenzweisen: die gefestigten Orte und Funktionen auf der sozialen Landkarte, ihre Codes und die etablierten Verhältnisse zwischen ihnen bzw. ihren jeweiligen Repräsentationen. Da die Linke nur in dieser Sphäre agiert, bleibt ihr Territorium in den Formen der dominanten Welt gefangen – dem kolonial-kapitalistischen5 Regime, in dem sie ihren Ursprung hat. In der linken Tradition orientieren sich Aufstand und Perspektive an demselben Regime, das sie (wir) überkommen möchte(n). So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass sie immer in einer Art traurigen Reproduktion stecken bleiben und es nicht gelingt, dieses Regime zu bekämpfen.
Keine Frage, dort, wo die Linke agiert, im Inneren dieses Regimes, ist ihre Position die gerechteste: Auf verschiedene Arten, in verschiedenen Graden und mit verschiedenen Zielen visiert sie eine weniger asymmetrische Verteilung an – nicht nur im Bereich des Politischen, sondern auch im Sozialen und Ökonomischen – wie ein Staat, der mehr Gleichberechtigung unterstützt. Auch wenn dieser Kampf unverzichtbar ist und einen unbestreitbaren Wert besitzt, besteht sein Problem darin, dass er die mikropolitische Sphäre außen vor lässt: die Sphäre der Formation des Unbewussten im sozialen Feld, der eine bestimmte, dominierende Politik der Subjektivierung und des Wunschs entspricht, ohne die sich kein einziges Regime erhalten ließe, da die verschiedenen Regime erst auf dieser Ebene zu ihrer existenziellen Konsistenz finden.
Selbst dann, wenn die Linke verschiedene Existenzweisen in Betracht zieht, tut sie das nur aus makropolitischer Perspektive. Sie begreift die Unterdrückten, auf deren Seite sie kämpft, als identitäre Entitäten, die sie zwar vom relationalen Raster des kollektiven Lebens ableitet, sie dann aber darin festhält und so ihre Transmutationskraft neutralisiert. Und wenn es um Gruppierungen der benachteiligten Bevölkerung geht, die sich nicht der Kategorie „Arbeiter“ – der für sie vorherbestimmte Ort der Vorstellung – unterordnen lassen, dann neigt die Linke dazu, diese zu fetischisieren oder gar zu „folklorisieren“ oder „musealisieren“ und sie so an einen identitären Ort auf der offiziellen Karte der Demokratie zu verweisen, der ihnen den Zugang zu zivilen Rechten erlauben soll. Was sie zu dieser Handlung bewegt, ist der beklemmende Wunsch, die „Inklusion“ besagter Gruppierungen auf ihrer Karte zu verzeichnen, was aber letztlich zu ihrer Unterwerfung unter die dominanten Formen der Subjektivierung führt (was zum Beispiel beim Abkommen mit den Indigenen Bevölkerungen in Brasilien der Fall ist). Damit büßen wir die Möglichkeit ein, das relationale Raster zwischen den vorrangigen Existenzweisen zu besetzen und mögliche transfigurative Effekte zu nähren, welche die herrschende Kartografie obsolet werden ließen. Noch beunruhigender ist, dass, wenn solche neuen Formen der Existenz im Prozess des kollektiven Lebens zum Vorschein kommen, diese von der Linken tendenziell ebenfalls in identitäre Einheiten eingeschlossen werden (dies ist etwa gegenüber jenen Bewegungen der Fall, die heute die Beziehungen von Geschlecht, Sexualität, Rasse aufrühren). Damit werden die in diesen aufständischen Bewegungen ablaufenden Prozesse der Singularisierung neutralisiert, ihr Überlebenstrieb, der zur Transmutation der dominanten Subjektivitätspolitik und, daraus resultierend, zur Veränderungen der individuellen und kollektiven Existenzformen drängt – sprich ihre mikropolitische, aufständische Kraft. Obwohl einige linke Strömungen diese Bewegungen anerkennen, reduziert ihre Lesart sie tendenziell auf die Frage der Ungleichheit und verschiebt damit den Fokus von Aufstand zu Klassenkampf.
Es ist die Beschränkung der Sicht- und Handlungsweisen der Linken auf die makropolitische Sphäre, die verantwortlich ist für ihre Hilflosigkeit gegenüber den Herausforderungen der Gegenwart. Die gehäuften Erfahrungen des auf diese eine Sphäre reduzierten Aufstands, die wiederholte Frustration über die traurigen Ergebnisse, die dies hervorruft, all das ist es, was uns heute – zusammen mit der Perplexität und der Furcht unter den gegebenen Umständen –die unverrückbare Grenze des Territoriums der Linken gewahr werden lässt. Doch angesichts der schieren Gewalt gegen das Leben, in all seinen Variationen, formt sich hier und dort neuer Aufstand. Aufstände, für die das Paar rechts/links keinen ausreichenden Operator mehr darstellt, um die Figuren im Spiel zu umreißen und ein Ziel des Kampfs zu bestimmen. Sind es nicht genau diese Aufstände, die überall zum Vorschein kommen und die uns an den neuen Widerstandsbewegungen überraschen? Vor allem in den jüngeren Generationen, vor allem an der Peripherie, unter Schwarzen, Indigenen, Frauen und LGBTs? Ist es nicht das, was uns – trotz der Schwierigkeiten, es zu dechiffrieren und zu benennen – fasziniert an diesen Bewegungen und die Macht hat zu verhindern, dass wir nicht der melancholischen und fatalistischen Lähmung erliegen, in die uns die anfangs erwähnte finstere Landschaft versetzt hat, die uns heute umgibt? In diesen Territorien, die bereits von manchen bewohnt werden, noch im Prozess ihrer eigenen Formierung, findet eine effektive Veränderung der Perspektive statt. Sie erweitert unser Sichtfeld und lässt uns einen Blick auf die mikropolitische Sphäre erhaschen. Aber wie gehen wir mit der Gewalt des kolonial-kapitalistischen Regimes in diesem Zusammenhang um?

Der Missbrauch der Lebenskraft
Was, mikropolitisch gesehen, das kolonial-kapitalistische Regime charakterisiert, ist die Zuhälterei über das Leben, die Ausbeutung der schöpferischen und verändernden Kraft des Lebens, Essenz und Bedingung seiner Beharrlichkeit, höchstes Ziel und ethischer Grund des Lebens. In dieser Sphäre verkörpert der Missbrauch des Lebens, seine kolonial-zuhälterische Entwürdigung, die dem Regime eigene Matrix. Es ist die Lebenskraft aller Elemente, der gesamten Biosphäre, die enteignet und korrumpiert wird: die Erde, die Luft, das Wasser, der Himmel, die Pflanzen, die Tiere und die menschliche Spezies. Bei den Menschen hat diese Geiselnahme besondere Eigenschaften, denn in ihr materialisiert sich die Lebenskraft auf besondere Art und Weise, in schöpferischen Prozessen, die die Multiplizierung von Möglichkeiten beinhaltet, und Prozessen der Entscheidungsfindung. Aus diesem Grund hat Freud der Lebenskraft des Menschen den Namen „Trieb“ gegeben, um ihn vom Instinkt zu unterscheiden. Wenn es einerseits unsere Besonderheit ist, die Möglichkeiten zur Transmutation der Formen der Welt erweitern zu können, wann immer das Leben es erfordert, dann macht dies, andererseits, unsere Spezies auch zur Einzigen, die in der Lage ist, dies zu verhindern. Und wenn das geschieht, dann ist der Effekt die Depotenzialisierung des Lebens, die Unterbrechung seines keimenden Prozesses, was zur Zerstörung der Quellen der natürlichen Lebensenergie führt – und beim Menschen die subjektiven Ressourcen für seine Erhaltung mit einschließt.
Wenn die marxistische Tradition, die aus dem industriellen Kapitalismus entstanden ist, die Erkenntnis gebracht hat, dass die Enteignung der menschlichen Lebenskraft, begriffen als Arbeitskraft, die Quelle der Kapitalakkumulation ist, dann führt uns die neue Version des Kapitalismus zu der Einsicht, dass sich diese Enteignung nicht auf die eine erwähnte Domäne reduzieren lässt. In seiner neuen Form nährt sich das Regime aus dem Trieb, und zwar direkt an seiner Quelle: Aus dem schöpferischen Impuls selbst sollen neue Existenz- und Kooperationsformen geschaffen und die Forderungen des Lebens in neuen Daseinsformen konkretisiert werden, was die Formen der Gegenwart und ihre Werte grundlegend verwandelt. Von seinem ethischen Ziel6 abgelenkt, wird der Trieb nun durch das Regime geleitet, die Welt nach seinen Entwürfen zu entwerfen: die Akkumulation von wirtschaftlichem, politischem, kulturellem und narzisstischem Kapital. Kurzum, der Missbrauch der Lebenskraft erzeugt ein Trauma, das die Subjektivität dazu führt, den Forderungen des Triebs gegenüber taub zu werden, was den Wunsch korrumpiert und darauf hinausläuft, anstatt durch den lebenserhaltenden Trieb geleitet nun vielmehr gegen ihn selbst vorzugehen. Aus solch einer Politik des Wunschs entstehen Szenarien, in denen das Leben zusehends verkommt, bis zu dem Grad, an dem heute das einzelne Überleben bedroht ist. Genau das ist die Gewalt des kolonial-kapitalistischen Regimes in der mikropolitischen Sphäre: eine Grausamkeit, die charakteristisch für die perverse Politik des Wunschs ist, unterschwellig, raffiniert und unsichtbar, also nicht wahrzunehmen. Wie bei der Grausamkeit des Zuhälters ist es schwierig, den Missbrauch zu erkennen oder ihm gar zu widerstehen, zumal er durch Verführung operiert: Die Beute wird in seinen Bann gezogen und lässt sich – den Zuhälter tendenziell idealisierend – vom eigenen Wunsch missbrauchen.

Unheimlich: Das unumgängliche Paradoxon der subjektiven Erfahrung
Ich schlage vor, die dem besagten Regime eigene Dynamik als das „kolonial-kapitalistische Unbewusste“ zu bezeichnen. Ihr Hauptmerkmal ist die Reduzierung der Subjektivität auf die Erfahrung als Subjekt. Aber woraus besteht diese Erfahrung?
Soziokulturell besteht für den Menschen, der von seinem Imaginären geprägt ist, die Funktion des Subjekts darin, uns dahingehend auszustatten, die Formen, die Codes und die relationalen Dynamiken der Gesellschaft, in der wir leben, dechiffrieren zu können. Eine solche Dechiffrierung erfolgt durch die Praxis der Erkenntnis, die durch unsere Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Gefühls (psychologische Emotionen) ermöglicht wird, welche wiederum durch die soziokulturellen Repertoires gekennzeichnet sind, die das Subjekt und seine Sprache strukturieren. Wir assoziieren das, was wir wahrnehmen, und fühlen mittels Repräsentationen und projizieren diese zurück auf das Wahrgenommene, was uns erlaubt, es zu klassifizieren und zu erkennen, um so Sinn zu generieren. In dieser Sphäre der sensorischen und gefühlsmäßigen Erfahrung wird das Andere als ein externer Körper erlebt, getrennt vom Subjekt, verbunden über die Kommunikation, basierend auf der Teilhabe an einer gemeinsamen Sprache. Es ist in der Erfahrung des Subjekts, dass Gewohnheiten gebildet werden, die uns ein Gefühl der Vertrautheit geben. Das ist die makropolitische Sphäre des menschlichen Lebens; sie zu bewohnen ist für das gesellschaftliche Leben wesentlich. Das Problem des Regimes des kolonial-kapitalistischen Unbewussten ist die Reduzierung der Subjektivität auf genau dieses Subjekt, was die immanente Erfahrung unserer Bedingung als lebendige Wesen ausschließt – dessen, was außerhalb des Subjekts ist – und dessen Konsequenzen für das Leben höchst unheilvoll sind.
In unserer Verfasstheit als Lebende werden wir konstituiert durch die Effekte und die vielfältigen und variablen Beziehungen der Kräfte des lebendigen Fließens der Welt, die alle singulären Körper durchqueren, welche sie zusammensetzen, und so einen einzigen Körper aus ihnen machen, in ständiger Variation, egal, ob der Körper darüber Bewusstsein hat oder nicht. Wir können solche Effekte als Affekte bezeichnen. Es handelt sich dabei um eine extra-personale, extra-sensorische und extra-sentimentale Erfahrung: extra-personal, denn wir sind die variablen Effekte der Kräfte der Welt, die unsere Körper immer wieder neu zusammensetzen (hier gibt es keine personale Kontur); extra-sensorisch, weil sie über Affekte zustande kommt, was etwas anderes ist als Wahrnehmung; und extra-sentimental, weil sie über die lebendige Emotion zustande kommt, was sich von der psychologischen Emotion unterscheidet. Gewöhnlich nennen wir die extra-kognitive Art der Dechiffrierung, unsere Fähigkeit zur Einschätzung der Affekte, „Intuition“. Allerdings ist dieser Begriff in unserer Kultur so vorbelastet – aus Verachtung gegenüber all dem, was nicht der rationalen Ordnung des Subjekts entspricht –, dass ich vorschlage, ihn zu ersetzen, und zwar durch den Begriff „Wissen/der Körper“7, oder „Wissen/des Leben“, sprich ein ökoethologisches Wissen. Anders als bei der Kommunikation wird die Beziehung zum Anderen in dieser Sphäre durch Empathie vermittelt. Es gibt hier keinen Unterschied zwischen erfahrendem Subjekt und äußerem Objekt, wie es in der zuvor beschriebenen Erfahrung des Subjekts der Fall ist. Im Unterschied dazu lebt in der dem Subjekt äußeren subjektiven Erfahrung das Andere effektiv innerhalb unseres Körpers, es bewohnt uns durch seine Effekte. Empathie entsteht im Verhältnis zu den Affekten, zur lebendigen Präsenz des Anderen. Indem wir unseren Körper bewohnen, werden wir durch die Kräfte der Welt befruchtet und generieren Embryonen anderer Welten in virtuellem Zustand. Diese bewirken in uns ein Gefühl des Befremdens, anders als das der Vertrautheit, das uns durch unsere Erfahrung als Subjekt zuteilwird.

Das Unbehagen des Paradoxons und der Wunsch zu handeln
Die Erfahrungen des Subjekts (das Personale) und des dem Subjekt Äußeren (das Extra-Personale) erzeugen folglich zwei völlig unterschiedliche Empfindungen: das Vertraute und das Fremde. Diese funktionieren gleichzeitig und untrennbar voneinander, aber nach ungleichen Logiken und Zeitlichkeiten. Es besteht keinerlei Möglichkeit der Synthese oder Übersetzung zwischen ihnen; ihre Beziehung ist durch ein im Grunde unumgängliches Paradoxon gezeichnet. Denn die Welten-Embryonen setzen die Lebenskraft in Bewegung, um zu keimen, und bringen das Leben dazu, sich in anderen Welt-Formen zu verwirklichen. Sie entstehen nicht aus Opposition gegenüber den herrschenden Formen, sondern durch die Affirmation eines Werdens, das ihren dauerhaften Bestand zugleich gefährdet. Destabilisiert durch die paradoxe vertraut-befremdliche, unheimliche Erfahrung, findet sich die Subjektivität in einem Spannungsverhältnis wieder: zwischen jener Bewegung einerseits, die sie im Hinblick auf den Erhalt des Lebens dazu drängt, sich in keimender Kraft in neuen Formen zu materialisieren; und andererseits einer Bewegung, die sie zur Konservierung der herrschenden Formen drängt, in denen sie selbst temporär materialisiert ist und in der sie sich selbst in ihrer Erfahrung als Subjekt wiedererkennt.
Das Unbehagen, das aus der Spannung zwischen Fremdem und Vertrautem und aus den beiden Bewegungen der paradoxen Erfahrung resultiert, funktioniert wie ein Alarm, der den Wunsch beschwört zu handeln, um ein vitales, emotionales und existenzielles Gleichgewicht zurückzufordern, ein Gleichgewicht, das erschüttert ist durch die Emergenz der einen, neuen Welt und die Auflösung der herrschenden Welten. Die ewige Verhandlung zwischen diesen beiden Bewegungen ist dem Wunsch auferlegt. Genau an dieser Stelle werden die Politiken des Wunschs definiert – von den aktivsten zu den reaktivsten. Was sie unterscheidet, ist die Art der Verhandlung zwischen den beiden Bewegungen, die der Wunsch in seinem Handeln privilegieren wird. Diese Entscheidung ist keineswegs neutral, denn aus ihr leiten sich verschiedene Richtungssetzungen des Triebs ab, die unterschiedliche Formierungen des Unbewussten im sozialen Feld bedingen, und die einen höheren oder weniger hohen Grad der Affirmation des Lebens in sich tragen. Das ist das Schlachtfeld der mikropolitischen Sphäre.

Das kolonial-kapitalistische Unbewusste
Bei den vom kolonial-kapitalistischen Unbewussten beherrschten Subjektivitäten, die auf ihre Erfahrung als Subjekt reduziert sind, herrscht eine reaktive Mikropolitik vor: Die Bewegung zur Konservierung der Formen, durch die sich das Leben in der Gegenwart materialisiert, tendiert dazu, sich durchzusetzen, alleinig. Denn, dissoziiert von ihrer lebendigen Verfassung, unwissend gegenüber der eigenen, beharrlichen Lebens- und Veränderungsdynamik (dem Trieb, beim Menschen) erlebt die Subjektivität den Druck der Welten-Embryonen als Gefahr – als Gefahr des eigenen Auseinanderfallens, als Einbruch ihres existenziellen Felds. Denn „diese eine Welt“, die das Subjekt bewohnt und durch die es strukturiert ist, wird wie die „einzige und absolute Welt“ erlebt. Unter diesen Umständen klammert sich der Wunsch, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, an etablierte Formen, die er zu konservieren sucht, koste es, was es wolle. Und je größer die Destabilisierung, umso vehementer verbarrikadiert sich die Subjektivität hinter dem bereits Errichteten und verteidigt es mit Zähnen und Nägeln, bereit, den Verbleib durch einen hohen Grad an Gewalt zu sichern.
Damit also der Wunsch – und der Trieb, dessen Sprachrohr er ist – sich (genüsslich) der Zuhälterei hingeben kann, bedarf es der Trennung der Subjektivität von ihrer lebendigen Verfassung. Eine solche Hingabe manifestiert sich in Form der Umwandlung der triebhaften schöpferischen Kraft in bloße Kreativität, die den Status quo neu ordnet und neue Szenarien für die Akkumulation von Kapital erzeugt. In Krisensituationen äußert sich das in der Investition des Triebs in kollektive Bewegungen, die die Erhaltung des Status quo fordern, wie im Fall des schwindelerregenden Aufstiegs des Konservativismus heute. Der Genuss liegt in beiden Fällen darin, dem Subjekt die Illusion von Zugehörigkeit zu verschaffen – Placebo gegen die Angst vor Stigmatisierung und sozialer Scham, die die Destabilisierung der Welt ihm bereitet, weil er die Krise als Gefahr des Zusammenbruchs interpretiert hat. Was aus dieser Art von begehrendem Handeln resultiert, ist das tödliche Schicksal des Triebs: die Unterbrechung aller keimenden Prozesse des kollektiven Lebens. Selbst wenn eine solche existenzielle Keimung von nur einem Individuum oder einer Gruppe unterbrochen wird, bildet sie notwendigerweise einen Herd der Nekrose im Leben des gesellschaftlichen Körpers als Ganzes.
Der entwürdigende Missbrauch des Triebs ist schwer zu greifen. Er findet in einer unsichtbaren Sphäre statt, im Bann der perversen Verführung. Seine unzähligen Symptome und Manifestationen im sozialen Bereich hingegen liegen völlig blank und sind für alle zugänglich, die der Degradierung des Lebens tolerierend zuschauen. Am deutlichsten wird dies in Bezug auf die Umwelt und ökologische Katastrophen. Aber es tritt auch in allen klassensegregationistischen, machistischen, homophoben, rassistischen, xenophoben oder kolonialistischen Verhältnissen zutage, die das Andere an einen imaginären Ort der Inferiorität verweisen und zur Unmenschlichkeit verurteilen, was zu seiner völligen Unsichtbarkeit, Inexistenz, in extremen Fällen sogar zu seiner Auslöschung oder zum Verschwinden seines Körpers führen kann. Es sind dies nicht bloße Begleiterscheinungen des Regimes, sondern seine manifesten Stützpfeiler in der Sphäre der herrschenden Politik des Wunschs und der Subjektivierung.
Angesichts dessen reicht es nicht, die szenische Ordnung der Machtverhältnisse zu subvertieren (makropolitischer Aufstand). Vielmehr ist es notwendig, aus der Position, die wir darin einnehmen, auszubrechen (mikropolitischer Aufstand), um so die Kontinuität der gesamten Szene zu verunmöglichen. Es ist unabdingbar, das zuhälterische Regime in jeder einzelnen menschlichen Handlung, die eine effektive Transmutation der Gegenwart ermöglicht, aufzulösen, was notwendigerweise von den ungleichartigen und paradoxen Logiken und Zeitlichkeiten des Aufstands gegen die Gewalt in beiden Sphären abhängen wird. Denn in seiner neuesten Form hat es das Regime geschafft, die Gesamtheit des Planeten zu kolonisieren und makro- und mikropolitisch bis zu seinem Innersten vorzudringen.
Das Sichtfeld der Linken ist auf die makropolitische Sphäre beschränkt, was daran liegt, dass die Subjektivität, die in ihren Territorien vorherrscht, ebenfalls durch das kolonial-kapitalistische Unbewusste strukturiert ist – daher auch ihre Unfähigkeit, die mikropolitische Sphäre zu erreichen. Unsere Perplexität gegenüber der heutigen Situation der Linken hat uns diese Tatsache allmählich erkennen lassen – was bereits ein großer Schritt ist, um nicht dem Trauma und der melancholischen Klage zu erliegen, das uns paralysiert. Nun müssen wir einen Schritt weitergehen, müssen den Zugang unserer Subjektivität zur mikropolitischen Sphäre freimachen, um sie in die makropolitische Sphäre zu integrieren und sie gleichzeitig von ihr unterscheiden zu können, damit wir in beiden effektiven Widerstand leisten können.
Abschließend ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass zur Dekolonisierung der mikropolitischen Sphäre ein Vorgehen und eine Zusammenarbeit nötig sind, die sich von denjenigen der makropolitischen Sphäre unterscheiden. In Bezug auf die Vorgangsweise bedeutet dies die unumgängliche und konstante Arbeit an sich selbst, ein kunstvolles Schaffen, das nie zu einer Fertigstellung gelangt: Wir sind immerfort am Oszillieren zwischen den beiden möglichen Extremen der breiten mikropolitischen Spanne: einerseits die Unterwerfung unter die Macht der Gespenster, die uns in unsere ursprüngliche Rolle in der kolonial-kapitalistischen Szene zwingen – durch die wir an den Ausbeutungsverhältnissen teilhaben, was auch immer unsere Position darin sein mag –; und andererseits die Bemühung, diese Figur für ungültig zu erklären und uns den Trieb wiederanzueignen, um auf der Höhe des Lebens selbst zu sein und seine transfigurative Kraft zu verkörpern. In Bezug auf die Zusammenarbeit geht es darum, ausgehend von unterschiedlichen Situationen, Erfahrungen und Sprachen vielfältige Netzwerke zu erschaffen, deren verbindendes Element eine gemeinsame ethische Perspektive ist: die Affirmation des Lebens in seiner transfigurierenden und umwertenden Essenz.
Auf diese Weise entstehen temporäre, relationale Territorien, unterschiedlich und variabel, in denen kollektive Synergien zustande kommen können, die wechselseitig Zuflucht bieten und die Überwindung des durch die perverse Vorgehensweise des kolonial-kapitalistischen Regimes verursachten Traumas begünstigen. Das ist die Voraussetzung für die Schaffung eines individuellen und kollektiven Körpers, der fähig ist, der Zuhälterei über das Leben zu widerstehen, fähig, sie zurückzuweisen, und uns die Möglichkeit eröffnet, uns unseren Lebenstrieb wiederanzueignen – genau darin liegt die Konstruktion des Gemeinsamen. Von derartigen kollektiven Wiederaneignungen des Triebs hängt die Möglichkeit zukünftiger Ereignisse ab, von Räumen, in denen sich andere Formen der Existenz und andere Kartografien konfigurieren können, wenn das Leben, in den Formen der Gegenwart gefangen, zu ersticken droht. Das ist der Hintergrund, der Horizont, vor dem die hier dargelegten Anhaltspunkte zu verstehen sind.

 

Übersetzt von Max Jorge Hinderer Cruz

 

1 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie? Frankfurt am Main 2000, S. 201.
2 Unsichtbares Komitee, An unsere Freunde. Hamburg 2015, S. 30.
3 „Globalitär“ impliziert im Gegensatz zu „global“ einen intentional durch die Globalisierung hervorgebrachten Zustand (Anm. d. Übers.).
4 Im portugiesischen Original spricht Rolnik von „der Linken“ durchwegs im Plural („as esquerdas“), also von verschiedenen Linken Bewegungen, was im deutschen Ausdruck „die Linke“ je nach Kontext zwar auch gemeint sein kann, teilweise aber verloren geht (Anm. d. Übers.).
5 Im portugiesischen Original spricht Rolnik durchwegs von „colonial-capitalístico“. Sie bezieht sich dabei auf Félix Guattaris Verwendung eines alterierten Suffixes im französischen Wort „capitalist-ique“. Laut Rolnik erweitert Guattari das Wort „capitaliste“ um die Endung „-ique“ aus der Notwendigkeit, einen Begriff zu erschaffen, der nicht nur die einschlägig als kapitalistisch bekannten Gesellschaften bezeichnet, sondern auch die Ökonomien der sogenannten „Dritten Welt“ und des „peripheren Kapitalismus“ sowie Länder, deren Ökonomien trotz linker oder gar sozialistischer Regierungen auf dem kapitalistischen System beruhen oder in kapitalistischer Abhängigkeit errichtet sind; siehe Félix Guattari/Suely Rolnik, Molecular Revolution in Brazil. Los Angeles 2007, S. 21/479 (Kap. 1, Fußnote 1) (Anm. d. Übers.).
6 Siehe João Perci Schiavon, Pragmatismo pulsional, in: Cadernos de Subjetividade, Revista do Núcleo de Estudos e Pesquisas da Subjetividade. São Paulo 2010, S. 124–131. Der Autor schlägt den Begriff eines „triebhaften Unbewussten“ vor und rückt damit das Konzept des Triebs und seine Ethik ins Zentrum der psychoanalytischen Theorie und ihrer therapeutischen Praxis.
7 Rolnik spricht im portugiesischen Original von „saber-do-corpo“ und „saber-do-vivo“, eine poetisch-spielerische Zusammensetzung, die wörtlich „Wissen des Körpers“ wie auch „wissender Körper“ (bzw. „das Wissen des Lebendigen“ wie auch „das wissende Leben“) bedeuten kann. Der Begriff des „saber-do corpo“ ist in Rolniks Schriften seit den 2010er-Jahren zentral (Anm. d. Übers.).