Heft 1/2018 - Lektüre



Noam Cohen:

The Know-It-Alls

The Rise of Silicon Valley as a Political Powerhouse and Social Wrecking Ball

New York/London (The New Press) 2017 , EUR 26

Text: Christian Höller


Weltweit spielen die Verhältnisse (sozial, klimamäßig, politisch) zunehmend verrückt. Ein maßgeblicher Faktor in diesem Aufruhrszenario, häufig als „Digitalisierung“ bezeichnet, wird inzwischen als ebenso disruptive Kraft angesehen wie „Flüchtlingswelle“ (Unwort der jüngeren Vergangenheit) oder „Klimawandel“ (die verharmlosende Version gegenüber der das Kind beim Namen nennenden Erderwärmung). Wobei der gängigen Rhetorik nach all diese Kräfte gleichsam wie Naturgewalten über vermeintlich schutzlose Bevölkerungen hereingebrochen sind, die ihr Heil nun – vereinfachend gesprochen – in wiedererstarkten Nationalismen bzw. illiberalen Regimen suchen.
Dass die digitale Disruption weit entfernt von jeder Naturgewalt ist, legt alleine schon ihr Charakter des Hochkünstlichen bzw. -technisierten nahe. Trotzdem wird sie, so man ihrer unliebsamen realen Effekte nicht mehr wirklich Herr werden kann, gerne als höhere Macht betrachtet (egal ob als unaufhaltsame technologische Entwicklung oder als unbeeinflussbare „outside force“ verstanden). Sich dieser Macht konsumistisch zu ergeben, ist das eine; ihren eher ungünstigen Auswirkungen – etwa auf demokratische Prozesse oder das immer berechenbarere (Konsum-)Verhalten jedes Einzelnen – tatsächlich etwas entgegensetzen zu wollen, etwas gänzlich anderes.
Noam Cohen, langjähriger Autor für die New York Times, rollt diese beileibe nicht naturgesetzliche Geschichte anhand ihrer realen Macher auf. Macher (tatsächlich exklusiv männlich), deren handfeste Interessen seit nunmehr 25 Jahren, von einem winzigen Milieu ausstrahlend, die herkömmliche Welt ganz grundlegend aus den Angeln heben, und zwar mit Absicht. The Know-It-Alls lautet Cohens Etikett für die kleine Handvoll von Hackern, die zu Unternehmern wurden und umgekehrt. Sie sind es – und das Buch porträtiert sie in zehn, teils fast kriminologisch anmutenden Kapiteln –, die eine Ideologie in die Welt gesetzt haben, der zufolge kulturell, aber auch sozial und politisch kein Stein auf dem anderen bleiben soll. Ihr „Cyber-Utopismus“ oder auch „Cyber-Libertarismus“, so die gängigen Bezeichnungen dieser immer realer werdenden Ideologie, trägt nicht nur dazu bei, dass sich die neoliberale Norm der individualistischen Selbstverantwortung immer tiefer in jede Rille des Alltagslebens einprägt. Darüber hinaus sorgt er auch dafür, dass eine minimale Elite den enormen Profit dieser Art Bienenstockphilosophie davonträgt (die Bienen dazu bringen, gratis Wert zu generieren, der von wenigen anderen abgeschöpft wird, wobei Erstere glauben, so ihre Freiheit auszuleben). Dabei spielt es keine Rolle, ob der Bienenstock – und The Know-It-Alls porträtiert konzise das maßgebliche Spektrum – von vermeintlichen Philantropen wie Mark Zuckerberg dirigiert wird, dem es laut Selbstaussage einzig um die „Verbesserung der Menschheit“ geht. Oder von handfesten Misanthropen wie Peter Thiel, dem Mitbegründer von PayPal und anderen Start-ups, großzügigem Trump-Unterstützer und heute vorrangig am (ewigen) Leben einer kleinen auserwählten Elite interessiert, idealerweise auf künstlichen Inseln fernab der verarmten, schmutzigen Zivilisation (wie es das „Seasteading“-Projekt vorsieht, in das Thiel generös investiert, siehe www.seasteading.org).
Der „Aufstieg von Silicon Valley als politisches Machtzentrum und soziale Abrissbirne“, wie das Buch treffend im Untertitel heißt, durchmisst das Feld aber nicht nur anhand seiner unternehmerischen Protagonisten. Vielmehr wird das kleine Milieu, das für sämtliche digitale Innovationen der letzten 25 Jahre, von den ersten Webbrowsern bis hin zu Amazon, Google und Facebook, verantwortlich zeichnet, auch historisch-geistesgeschichtlich höchst akkurat abgesteckt. Treffsicher zeichnet The Know-It-Alls etwa die Entstehung des Artificial-Intelligence-Felds rund um den Mathematiker John McCarthy nach (er hat auch den Begriff „AI“ geprägt). Dazu kommt die besondere Rolle der Stanford University, der akademischen Keimzelle von Silicon Valley, wo früh – und völlig gezielt – die Tore der wissenschaftlichen Forschung in Richtung ökonomischer Verwertbarkeit geöffnet wurden. Dies führte unter anderem dazu, dass sich die anarchisch-libertäre Haltung der „Hacker“ (so die erste Bezeichnung der frühen Computernerds noch vor jedem Ansinnen, in fremde Systeme einzudringen) mit der raubtierhaften Gier der „Entrepreneurs“ verbinden konnte. Eine unheilige Allianz, die Cohen anhand so unterschiedlicher Projekte erläutert wie der ursprünglich rein wissenschaftlich orientierten Entwicklung des PageRank-Algorithmus (Google) und der komplett gegenläufigen Geschichte von Wikipedia – zuerst kommerziell angelegt und heute eine der wenigen dezentralen Bastionen gegen die Kommerzialisierung jedes Wissens.
The Know-It-Alls schafft ein detailreiches Mosaik, dem zufolge die maßgeblichen Instanzen unseres heutigen digitalen Lebens auf eine durch und durch paradoxe Gesinnungsmatrix zurückgehen: zum einen auf das Bestreben, der Menschheit zu dienen, ja ihr Potenzial „um das Hundertfache“ (Zuckerberg) zu steigern; zum anderen auf die libertäre Überzeugung, dass einzig den besten Köpfen der Profit dieser Steigerung zusteht (so das verbindende Credo von Netz-Tycoons wie Marc Andreessen, Jeff Bezos oder eben Thiel). Dass in diesem Paradox ein riesiges desasterhaftes Loch angelegt ist, wurde selten so punktgenau vor Augen geführt wie in Cohens höchst lesenswertem Buch.