Heft 1/2018 - Artscribe


Birobidschan

7. September 2017 bis 5. Oktober 2017
Birobidschaner Philharmonie / Birobidschan

Text: Herwig G. Höller


Birobidschan. Zehn Tage dauerte seinerzeit die Schnellzugfahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn aus Moskau, zwischen Wien und der Kleinstadt Birobidschan liegen mehr als 7.000 Straßenkilometer. Dennoch waren Anfang der 1930er jüdische Intellektuelle auch aus Österreich in die Jüdische Autonome Oblast (JeAO) gereist, um das ambitionierteste jüdische Experiment der Sowjetunion mit eigenen Augen zu beobachten. Ein vormals nahezu unbewohnter Landstreifen war seit Ende der 1920er besiedelt worden und 1934 offiziell zur „jidischen ojtonome gegnt“ erklärt worden – JüdInnen aus dem Westen der Sowjetunion wollten selbstbestimmt hier eine bessere, sozialistische Welt errichten.


Mittlerweile ist vom ersten staatsartigen Gebilde von JüdInnen im 20. Jahrhundert nicht mehr viel geblieben: Der jüdische Bevölkerungsanteil beläuft sich auf geschätzte anderthalb Prozent und jiddische Straßenschilder im 60.000-EinwohnerInnen-Regionalhauptstädtchen Birobidschan erweisen sich angesichts von nur noch ein paar Dutzend Sprachkundigen als Fassade. „Die Jüdische Autonome Oblast hat als Zentrum jüdischer Kultur jegliche Relevanz verloren“, erklärte deshalb der radikale jüdische Aktivist Aleksandr Lejkin in einem umstrittenen Manifest und fordert eine Umbenennung der Region. Lejkin wurde in der Vergangenheit aus politischen Gründen verprügelt und die lokalen Eliten sehen alles ganz anders: Das jüdische Alleinstellungsmerkmal soll einen denkbaren Verlust des Autonomiestatus verhindern, den der Kreml jederzeit anordnen könnte. Obwohl die wirtschaftlich schwache Region flächenmäßig etwa die Hälfte Österreichs ausmacht, leben hier lediglich 160.000 Menschen, Tendenz sinkend.
Mehr als 80 Jahre später kehrten 2017 auch ÖsterreicherInnen in die entfernte Region zurück: Kurator Simon Mraz vom Österreichischen Kulturforum in Moskau hatte KünstlerInnen aus zahlreichen Ländern eingeladen, sich für eine Ausstellung im Rahmen des Birobidschaner Festivals für jüdische Kultur mit dem Vermächtnis der großen Utopie zu beschäftigen. Das internationale Interesse ist groß – für diese Schau produzierte Kunstwerke wurden anschließend in jüdischen Museen in Moskau, Wien und New York präsentiert, im MOMA kam es zu einem Screening. Vor Ort sah die Lage anders aus: Obwohl dies nicht explizit ausgesprochen wurde, dürfte sich die Freunde über manche künstlerische Inhalte sehr in Grenzen gehalten haben.
So referiert der russisch-israelische Videokünstler Chaim Sokol in seinem Kurzfilm Etappen der Lokalgeschichte. Vor einem Denkmal am Ort, an dem die Sowjets 1922 hier ihre Gegner besiegten, feuert er aus einer Spritzpistole einen Salutschuss, intoniert die Internationale auf Jiddisch und verweist auf die Nationalitätenpolitik Lenins, die die Diskriminierung der JüdInnen zunächst beendete. Schließlich begräbt er im Birobidschaner Vorort Waldheim hebräische Letter einer Schreibmaschine und schließt im Sinn des radikalen Kritikers Lejkin mit dem jüdischen Kapitel der Region symbolisch ab.


Mit einem Blumenmeer, das ein Grab bedecken könnte, beenden auch die israelischen Künstler Nir Evron und Omer Krieger das rhythmisch montierte Video Reise in den Fernen Osten (1933). Sie illustrieren mit theatralischen Szenen Zitate aus dem Tagebuch des legendären Schweizer Architekten und vormaligen Bauhaus-Direktors Hannes Meyer (1889–1964), der Mitte der Dreißiger nach Birobidschan reiste, um hier eine sozialistische Musterstadt zu konzipieren.

 Meyers Pläne sind auch das Thema einer Installation der New Yorker Jewgeni Fiks, Srdjan Jovanovic Weiss und Seo Hee Lee. In detaillierten Videointerviews lassen die Künstler internationale Experten über jüdisch-modernistische Architektur nachdenken und vom Scheitern Meyers erzählen. Gerade die Ausführungen des Birobidschaner Historikers Iossif Brener verdeutlichen, dass sich das Zeitfenster für große Experimente sehr schnell wieder schloss. Meyers Birobidschan-Ambitionen stießen alsbald auf erbitterten Widerstand, Militärs verhinderten die Errichtung einer sozialistischen Modellstadt und der linke Architekt rettete sein Leben durch ein rechtzeitiges Verlassen der Sowjetunion.
Viele Vordenker des jüdischen Projekts in der Region selbst fielen dem Großen Terror von 1937/38 zum Opfer, eine avancierte Schtetl-Kultur vor Ort wurde ein Jahrzehnt später in einer weiteren Repressionswelle 1948/49 nahezu vernichtet. In einem Birobidschaner Hinterhof brannten damals jiddische Bücher und es wurden Institutionen wie das jiddischsprachige Theater geschlossen, die sich der Weiterentwicklung der Kultur des osteuropäischen Judentums verschrieben hatten.


Mit einer weiteren und bislang letzten kulturellen Aufbruchstimmung beschäftigt sich Tatjana Efrussi in ihrem Beitrag. Die Moskauer Künstlerin dokumentiert die Aktivitäten der Birobidschaner Künstlergruppe Werkstatt der proletarischen Avantgarde. Junge, jüdische KünstlerInnen hatten um 1990 im Städtchen für Furore gesorgt, im Selbstverlag eine eigene Kunstzeitschrift produziert und waren mitverantwortlich, dass ein Museum für zeitgenössische Kunst gegründet wurde. Hochtrabende Pläne verpufften jedoch mit dem Ende der Sowjetunion – nach Öffnung der Grenzen emigrierte eine Mehrheit des Birobidschaner JüdInnen nach Israel, darunter auch KünstlerInnen der Werkstatt.
Das Museum selbst existiert noch immer – der seit Beginn amtierende Direktor Boris Kosswinzew verwandelte sich jedoch von einem Perestrojka-Aktivisten zum konservativen Mitstreiter der Kreml-Partei Einiges Russland. Aufgrund „politischer Bezüge“ in der österreichischen Schau verweigerte er auch, dass die Ausstellung in seinen Räumen im zweiten Stock des lokalen Kulturhauses gezeigt wird. Mraz musste deshalb in die Philharmonie ausweichen.
Als schwierig erwies sich aber auch die Rezeption von Kunst im öffentlichen Raum. Der Wiener Künstler Leopold Kessler, zufällig Namensvetter eines zionistischen Vordenkers, ließ ein Holzgerüst vor einem Haus aufstellen, in Höhe des ersten Stocks wurde ein Auto geparkt. Schließlich kletterte ein Fahrer aus einem Küchenfenster und fuhr los. Kessler wollte mit seiner Installation eine banale Utopie verwirklichen – einen Parkplatz über Straßenniveau. Vor Ort hatte jedoch zuvor eine andere Interpretation die Runde gemacht – die Rede sei von einem Juden, so hieß es, der in ein besseres Leben wegfahre.


Trotz einer Massenemigration nach Israel geht das jüdische Leben in Birobidschan weiter. Das betrifft nicht nur radikale AktivistInnen, in der nunmehr einzigen Schule mit „ethnokultureller (jüdischer) Komponente“, wie die Wiener Künstlerin Ekaterina Shapiro-Obermair in einem einfühlsamen Interviewvideo zeigt, betonten gerade auch nicht jüdische Kinder die Relevanz dieser nationalen Wurzeln. Freilich, von einer progressiven Kultur in jiddischer Sprache, die in der „Judenrepublik“ hätte entwickelt werden sollen, fehlt jedes Lebenszeichen. Auch die offiziöse Kultusgemeinde, die sich zuletzt über einen Zuwächse erfreuen dürfte, setzt ausschließlich auf Hebräisch.