Heft 1/2018 - Artscribe


Naturgeschichten: Spuren des Politischen

23. September 2017 bis 14. Februar 2018
mumok / Wien

Text: Andrey Shental


Wien. Obwohl der Löwenanteil der Kunstgeschichte aus Landschaftsbildern, Aussichten und Stillleben besteht, zogen die KünstlerInnen des 20. Jahrhunderts die „zweite Natur“ der „ersten Natur“ vor. Anstatt das Biologische, Chemische und Physikalische zu thematisieren, rückten sie die Materialität des gewählten Mediums sowie institutionelle Abläufe in den Vordergrund oder sie befragten die weiteren soziopolitischen Umstände der Kunstproduktion im Allgemeinen. Wenn es KünstlerInnen einmal in die Natur zog, um direkt mit Mineralen, Flora und Fauna zu arbeiten, dann reduzierten KunstkritikerInnen deren Arbeit meist auf eine bloße Erweiterung der künstlerischen Ausdrucksformen. Die Ausstellung Naturgeschichten hingegen beleuchtet alternative Genealogien und damit ein Paradigma, bei dem die Natur direkt im Zentrum diverser künstlerischer Auseinandersetzungen steht. Dies bedeutet keineswegs, dass sie der Natur Autonomie zubilligt. Im Gegenteil, sie subsummiert diese unter der Kategorie Spuren des Politischen.
Durch den historisch aufgeladenen Titel allein stellt sich Kurator Rainer Fuchs in eine Linie mit den Vertretern der Frankfurter Schule, die seinerzeit eine „Idee der Naturgeschichte“ ausarbeiteten, um ihre neoontologischen Postulate gegen die Geschichtlichkeit des Cogito in Stellung zu bringen. Gleichzeitig klingen bei dem Begriff aber auch die Widersprüche und Mehrdeutigkeiten an, welche die Ursprünge der Wissenschaft im 18. Jahrhunderts als Historia naturalis prägten. Es ist schon seltsam, dass die Methode der Naturgeschichte anfangs synchron und nicht diachron war, und die geschichtliche Dimension erst später hinzukam. Diese Verwirrung, bei der Sozial- und Naturwissenschaften in einen Topf geworfen werden, wurde später durch politisch rechte und neoliberale Ideologien vereinnahmt. Für sie ist das, was unveränderlich und zeitgebunden ist, schlankweg natürlich und daher über der Geschichte stehend.
Das Hauptziel der Ausstellung ist daher, sich gegen den Essentialismus und die romantische Idealisierung der Natur zu stellen, indem sie zeigt, dass erstens Letztere nicht bloß schmutzige Erde, frei von den Auswirkungen der Geschichte, und zweitens die Geschichte selber keine bloße Aneinanderreihung gottgegebener Ereignisse ist. Anca Beneras und Arnold Estefans Arbeit Debrisphere (2017) zeigt diesen naturgeschichtlichen Chiasmus exemplarisch. Als Gegenreaktion auf künstliche Landschaften für militärische Zwecke schuf das Künstlerduo Collagen, auf denen Überwachungssysteme wie Plastiglomerate als geologische Schichten sedimentieren. Die Natur wird hier historisch, und das Historische – natürlich.
Die generelle Anlage der Schau lässt weder eine klare Chronologie noch eine strenge Taxonomie erkennen. Die zu mehreren thematischen Untergruppen angeordneten Werke liegen verstreut auf den Böden der Ausstellungshallen. Fuchs verzichtet auf die paradigmatischen Arbeiten der Land Art und der Arte Povera (mit Ausnahme des Iglus von Mario Merz) und feiert stattdessen die Begründer der zeitgenössischen Weltkunst wie Joseph Beuys, Hélio Oiticica oder Marcel Broodthaers sowie, als Gruppenschau in der Gruppenschau, die zwei osteuropäischen Kollektive OHO und Sigma. Während für die ältere Generation von KünstlerInnen die „Rückkehr zur Natur“ eine Strategie des politischen Widerstands war, behandeln die Jüngeren „abgelegene“ Orte eher als ethnografische, geografische oder anthropologische Untersuchungsgebiete. Ein Beispiel für Ersteres ist Mark Dions The Ethnographer at Home, für Zweiteres Matthew Buckinghams The Six Grandfathers, Paha Sapa, in the Year 502,002 C.E. und für Letzteres Jonathas de Andrades Sugarcane ABC. Ihre Recherchen enthüllen die systematische Exotisierung, kulturelle Unterdrückung und koloniale Ausbeutung der Natur. Eine andere Gruppe KünstlerInnen benutzt die natürliche Umwelt als Hintergrund zur Darstellung politischer Verbrechen. Sie thematisieren beispielsweise den Holocaust (Tatiana Lecomte mit The Pond), die Jugoslawien-Kriege (Sandra Vitaljic mit Infertile Grounds) oder die postsozialistischen Zustände (Anri Sala mit Arena). Pittoreske Environments in kontemplativen Videoarbeiten oder auf hochauflösenden Fotos lassen allerdings die Natur gegenüber der ihnen angetanen Gewalt oder auch gegenüber dem Publikum indifferent.
Die Ausstellung zeigt weder Malerei noch traditionelle Bildhauerei. Stattdessen dominieren narrative Installationen, konzeptuelle Fotografie, Filmessays, Textwände, künstlerische Forschung und Vortragsperformances. Anders als Oiticica, der in Tropicália 1967die These andeutete, die Architektur der Favelas würde die Autorität modernistischer Planung infrage stellen, oder anders als Hans Haacke, der mit seinen Grass Cube 1967 Umwelteinflüsse an einem einfachen Gegenstand thematisierte, umgeht die Ausstellung das Rohe, das Formlose, das Chaotische und das Zerfallende. Stattdessen wird alles, was der Entropie anheimfällt, hinter strenge geometrische (sprich: modernistische) Formen wie Quadrate, Quader und – seltener – Kreise verbannt. Dieser Zugang entspricht zwar der Hauptthese, dass die Natur immer vom Menschen, das heißt von geschichtlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Konventionen, überformt wird. Doch historisiert die Schau die Natur dermaßen, dass diese zur bloßen Dekoration verkommt. Broodthaers’ Blumentöpfe und Oiticicas Papageienkäfige werden auf ein Bühnenbild reduziert. Typisch für diese Haltung sind die von Isa Melsheimer in ihrer Arbeit Plant Hunters gezeigten „Schutzkästen“, die eigens für den Transport von endemischen Spezies erfunden wurden. Wie Kunstwerke werden auch sie zu leblosen Objekten mit klar messbarem Wert.
Bereits in den frühen 1990er-Jahren beobachtete Michel Serres die katastrophalen Folgen des Klimawandels. Dabei postulierte er eine gänzlich neue philosophische Haltung: „[D]ie Weltgeschichte tritt in die Natur ein, und die Weltnatur tritt in die Geschichte ein“. Egal, welche Methode man für richtig hält, wird man heute nicht umhinkönnen, der Ökologie ihr eigenes Agens zuzubilligen. Kehrt man wie die Ausstellung Naturgeschichten den Élan vital oder die unterirdischen Kräfte unter allzu saubere Vitrinen, dann zähmt und sterilisiert man nicht nur die Natur, man nimmt ihr auch alle „Spuren“. Gefangen in modernistischen Klischees (die ihrerseits historisch sind) wirkt die Natur dann paradoxerweise ebenso unveränderlich und transhistorisch.

Dieser Text entstand in Kooperation mit dem in Wien ansässigen Verein BLOCKFREI im Rahmen des Residency-Programms für internationale KunstkritikerInnen Critics’ Agenda: VIENNA 2017.

 

Übersetzt von Thomas Raab