Heft 1/2018 - Asoziale Medien?


Scrollen im Fluss

Was es bedeutet, sich im endlosen Raum des Digitalen aufzuhalten

Alessandro Ludovico


Auch wenn wir uns darin zu Hause fühlen, reicht der Raum für Online-Inhalte weit über das Vorstellbare hinaus. Es wäre ein Leichtes, das Netz unserer wichtigsten Bezugspunkte zu zerreißen, die wir nach und nach, manchmal auch abseits der gewohnten digitalen Pfade, sammeln, indem wir einfach eine provisorische Karte dessen skizzieren, was jenseits von ihnen passiert. Insbesondere der Stil von Online-Veröffentlichungen ‒ das betrifft sowohl soziale Medien als auch Blogs und Nachrichten ‒ weist eine spezifische, von der Online-Industrie vorgegebene Struktur auf, an die wir uns schnell gewöhnt haben: Es ist die „endlose“ Struktur des Contents, die auf der Möglichkeit basiert, ad infinitum zu scrollen, da andauernd neue Inhalte je nach Bedarf hochgeladen werden. Schon wenige Momente dieser endlosen Bildläufe auf analogen Medien festzuhalten, kommt der lebenslangen Betrachtung eines einzigen Fotos gleich. Es handelt sich zwar nur um Momentaufnahmen, doch sind sie sehr hilfreich, um die Gesamtstruktur zu verstehen und zu reflektieren.

Den endlosen Strom aufzeichnen
Die nicht fassbare Unendlichkeit der Internetinhalte lässt sich in analogen Medien nur als Momentaufnahme festhalten. Dieser Prozess, der den Bildlauf blockiert und einfriert, sorgt für einen Überblick und genügend Zeit, um über den fortlaufenden Fluss sowie die möglichen Verbindungen darin nachzudenken. Eine wirksame Strategie der analogen Abbildung eines komplex strukturierten digitalen Prozesses besteht zum Beispiel darin, eine bestimmte Zeitspanne auszuwählen und die gesamte Produktion aus diesem Zeitintervall auf dem analogen Medium bereitzustellen. So ist es möglich, die nicht sichtbare gleichzeitige Online-Produktion von Texten in einer klar definierten Umgebung über einen winzigen Zeitraum sichtbar zu machen.
Philipp Adrian hat sich diese Strategie in #oneSecond zunutze gemacht und alle Tweets, die am 9. November 2012 um genau 02:47:36 Uhr nachts WEZ in einer Sekunde gepostet wurden, strukturiert und geordnet ausgedruckt. Er sammelte 5.522 Tweets, die er in vier Büchern auf insgesamt 4.500 Seiten nach verschiedenen Gesichtspunkten (VerfasserInnen, Farben, Beliebtheit und Identitäten) klassifiziert und untersucht hat. Die Zahl der so entstandenen Seiten verdeutlicht das unvermeidlich auftretende Paradox zwischen ihrer Bedeutung, also der Gesamtmenge an Inhalten, und dem kaum nennenswerten Zeitraum, den sie auf dieser speziellen Plattform abbilden. Das erinnert an Tristan Perichs 0.01s: The First 1/100th Second of 1-Bit Symphony , ein 700-seitiges Buch, in dem der Musiker die ersten Hundertstelsekunden seiner rechnerbasierten „1-Bit Symphony“ dokumentiert, abgespielt von einer autonomen, generativen Musikmaschine, die in eine normale Musik-CD-Hülle eingebaut ist. Die systematische grafische Gestaltung des Buchs dient lediglich der Dokumentation von Befehlen, Prozessen, Berechnungen und Speicherzuständen.
Beide Künstler haben einen komplexen und umfassenden digitalen Prozess, der jeweils Teil des endlosen digitalen Informationsflusses war und sonst möglicherweise in Vergessenheit geraten wäre, als beschreibenden „Schnappschuss“ festgehalten. Sie nutzen dazu traditionelle analoge Medien. Doch ausgedruckte Seiten sind nicht das einzige Medium zur Wiedergabe digitaler Inhalte. Wir können es uns als Backup-Strategie vorstellen, wenn wir beginnen, all unsere digitalen Fotos auszudrucken oder unsere digitalen Dateien auf CD oder Tonband und unsere digitalen Filme auf DVD aufzuzeichnen, als eine Art umgekehrten Prozess der Rematerialisierung des Digitalen. Daraus folgt, dass analoge Medien digitale Inhalte „validieren“ (und möglicherweise auch dekonstruieren), was insbesondere für soziale Medien gilt.

Erinnerung an den endlosen Strom
Die endlose Struktur digitaler Inhalte zeigt sich als Informationsfluss, der mit der Zeit fließt, ob mit oder ohne unser Dazutun. Es handelt sich um eine permanente, „sich ständig wandelnde Gegenwart“, die uns schneller erscheint als die uns umgebende Gegenwart, da sie Realität an zahlreichen anderen Orten und in vielerlei Ausprägungen erfasst, um sie in unserem digitalen sozialen Raum wieder zu verdichten. Da sich diese Gegenwart so schnell verändert, fällt es uns schwer, über das zu sprechen oder nachzudenken, was wir überfliegen, flüchtig lesen und sehen, vor allem in den fordernden Umgebungen der sozialen Netzwerke mit ihrer bidirektionalen Ausrichtung. Dort werden wir dazu verleitet, verführt oder manchmal auch provoziert, auf einen spezifischen Inhalt zu reagieren. Und wir tun es. Dieses Maß an Aktivität lässt uns immer weniger Zeit zum Innehalten und Nachdenken und verändert folglich die Art und Weise, wie wir uns an den Content, dem wir ausgesetzt sind, erinnern. Da dieser spürbar umfangreicher wird, müssen wir zudem viel stärker filtern und auswählen als in der Vergangenheit.
Erinnerung ist eigentlich ein Vorgang, der einen dauerhaften Informationsprozess erfordert, um in der Zeit bleiben. Es ist zweifellos viel anstrengender, biologisch zu selektieren und zu erinnern, und wir lagern unser Gedächtnis durch unsere Smartphones nach und nach auf digitale Speicher aus. Uns fehlt also die Zeit, Erinnerungen zu fixieren, aber trotzdem sammeln wir in dem offensichtlichen Bestreben, uns an möglichst viel zu erinnern, jede Menge „temporäre“ Erinnerungen, die wir digital speichern. Dabei sind wir gar nicht dafür geschaffen, uns an viel zu erinnern. Treibt man es auf die Spitze, lässt das an pathologische Zustände wie das „hyperthymestische Syndrom“ denken. Die davon Betroffenen erinnern sich an unverhältnismäßig viele Lebenserfahrungen und führen aufgrund dessen gelinde gesagt kein leichtes Leben. Jorge Luis Borges hat diesen paradoxen Zustand in der Erzählung Das unerbittliche Gedächtnis beschrieben, deren Protagonist Funes dazu verurteilt ist, sich an alles zu erinnern. Im Laufe der Geschichte wird ihm seine Unfähigkeit zu vergessen zum Verhängnis und zerstört nach und nach sein Leben. In diesem Fall entstehen und bleiben die Erinnerungen im Kopf des Protagonisten, wir dagegen erleben heute mit der hohen Zahl an flüchtigen Gedächtniszuständen das Gegenteil. Auch Umberto Eco meinte, dass die unübertreffliche Authentizität des Buchdrucks unser Gedächtnis als zuverlässige Geschichtsquelle infrage stellt. Welche Art von Authentizität lässt sich jedoch aus einer Struktur gewinnen, die uns als ständig im Wandel befindlich und unendlich erscheint und von unserem Willen abhängig ist, durch Informationen zu scrollen, um neue und interessante finden?

Scrollen, schon wieder
Nach Information zu scrollen, ist wie das Schwimmen in einem überfüllten Fluss voller konkurrierender Entitäten, die sich alle in dieselbe Richtung bewegen. Als besäßen wir einen maßgeschneiderten Fernsehsender, der in unserem Auftrag ununterbrochen die anderen Sender sampelt und weiß, was uns gefällt. Scrollen hat also aus verschiedenen Gründen einiges mit dem Rundfunk gemeinsam. Erstens delegieren wir Entscheidungen über den Inhalt meist an Algorithmen bzw. an Medienunternehmen. Zweitens tauschen wir den freien Zugriff auf Inhalte gegen (zielgerichtete) Werbung, von der freiwilligen Preisgabe persönlicher Daten ganz zu schweigen. Und drittens scrollen wir Inhalte meist mit einer einzigen Geste, die wir gewöhnlich mit unserem Daumen ausführen, ähnlich wie bei der Programmwechseltaste auf der TV-Fernbedienung. Diese repetitiven Gesten stellen ein grundlegendes, intuitives Interface dar. Sie haben sich im Laufe der Geschichte durchgesetzt und sind so selbstverständlich geworden, dass sie fast unsichtbar sind.
Dieses Interface wird in Substitute Phone von Klemens Schillinger sublimiert. Der Künstler stellt Objekte in der Größe eines durchschnittlichen Smartphones aus einer Reihe gleitender Steinkugeln her. Sie sollen den NutzerInnen ermöglichen, die repetitiven Gesten auf abstrakte Art nachzuempfinden, ohne Konsequenzen. Letztlich sind sie rein auf die Bewegung ausgelegt und wirken dank ihres eleganten Designs, dem, so der Künstler, „beruhigende Einschränkungen“ innewohnen, wie therapeutische, gesundheitsfördernde Hilfsmittel. Sie erfüllen keinen Zweck, sie sind losgelöst von allen Prozessen bis auf den ihrer physischen Beständigkeit. Und sie sind dazu gedacht, den „Anregungen“ oder „Reizen“ der unbegrenzten Möglichkeiten entgegenwirken, die mit Smartphones einhergehen. Diese Gegensätzlichkeiten stehen eindeutig im Zusammenhang mit der An- bzw. Abwesenheit von Content und mit dessen besonderen Eigenschaften, darunter die Fähigkeit, verschiedene Epochen durch Assoziationen visuell neu verknüpfen.

Visuelle Nonstop-Zeitreise
Das Format der endlosen Veröffentlichung wird durch die Möglichkeit, sich in der Zeit visuell vor- und zurückzubewegen, kulturell verstärkt. Diese süchtig machende Achterbahnfahrt der Sinne tritt in der kleinen Galaxie der kuratierten visuellen Tumblr-Blogs besonders deutlich zutage. Die Abfolge von ebenfalls als endlos wahrgenommenem visuellen Material, das über seinen Entstehungsort und seine Entstehungszeit hinausreicht, sind wir nicht gewohnt, zumindest nicht in dem Ausmaß. Mehr noch als designorientierte Blogs wie das umfangreiche, nicht mehr existierende ffffound.com, dessen Konten visuell jeweils einem bestimmten Stil entsprachen, spiegeln kuratierte visuelle Tumblr-Blogs die kuratorische Fähigkeit der BloggerInnen wider, durchaus unterschiedliches, visuell aufeinander Bezug nehmendes Material, oft aus verschiedenen Epochen, miteinander zu verbinden. Je unterschiedlicher und dennoch kohärenter, desto faszinierender. Für die Wahrnehmung folgt daraus, dass einerseits unsere Konzentrationsfähigkeit abgebaut wird, andererseits aber unser Sehvergnügen und unser Sehvermögen Erfüllung finden, da ständig neue Verbindungen geschaffen werden, die in ästhetischer Hinsicht an unterschiedlichste Orte und unterschiedlichste Zeiten führen.
Die Fähigkeit, Elemente aus verschiedenen Bereichen und vor allem aus verschiedenen Epochen zu vermischen, scheint für das 21. Jahrhundert typisch zu sein. Von Speisen zu Parfums, von Mode zu Architektur, von der Avantgarde zur Antike, über Pop und Kitsch durchqueren diese normalerweise täglich aktualisierten Sequenzen die Zeit, während alles sofort konsumierbar ist und den „Fluss“ in seiner Struktur als Bildlauf verkörpert. Es handelt sich um eine Popmedien-Archäologie, die unfassbare Mengen historischen Materials produziert. Leider produziert sie auch einen sehr gefährlichen Nebeneffekt: den Verlust der Quellen und Referenzen der verschiedenen Materialien, die im Fluss nur als Blickfang dienen. Genau genommen bedeutet das den Verlust von Geschichte in ihrer herkömmlichen Definition als lineare Interpretation der Menschheitsentwicklung. Im Zuge der Digitalisierung von allem und jedem gibt der Verlust von Quellen beispielsweise Kunstinstitutionen Anlass zur Sorge. Daher präsentieren sie ihre Sammlungen online, versehen mit den Anmerkungen ihrer KonservatorInnen. Doch diese institutionellen Quellen sind nur ein Tropfen im Ozean des wesentlich weiter verbreiteten und populären visuellen Blog-„Sharings“, das eine unglaubliche Fülle an Material enthält, insbesondere was das Zeitgenössische angeht, wo beim Teilen nur der visuelle Wert zählt.

Der Fluss ist auch ein ganz persönlicher
Nicht zuletzt veröffentlichen wir in den sozialen Medien ständig unsere persönlichen und unpersönlichen Inhalte. In unserem Social-Media-Netzwerk teilen wir sie, oft auf der Suche nach Feedback, das wir quantitativ in Form der bekannten „Like“-Zahlen erhalten. Der Künstler Michael Mandiberg bestätigt, dass die Frequenz dieser Belohnungen süchtig macht. Leider ist es nicht allein die Frequenz, sondern das Gesamtsystem, das unsere ständig nach neuen Belohnungsreizen suchenden Gehirne so anspricht. Mandibergs Quantified Self Portrait (One Year Performance) (2016–17) ist ein Kunstwerk, das Self-Tracking-Technologien zur Aufzeichnung personenbezogener Daten mit dem Ziel der Selbsterkenntnis (und des Wohlbefindens) einsetzt. Mandiberg programmierte seine Geräte darauf, ein Jahr lang alle 15 Minuten Screenshots und Bilder zu machen, die seine mentalen, physischen und emotionalen Zustände abbildeten und auf drei Bildschirmen mit ähnlich gelagerten Inhalten das Porträt eines überarbeiteten Künstlers zeichneten.
Die schnelle Abfolge von Bildern, Screenshots und Notizen eröffnet drei verschiedene Perspektiven auf etwas, das wir alle kennen: unser digitales Leben, wie es unaufhörlich fließt und uns immer mehr vereinnahmt. Doch es gibt auch die auf die NutzerInnen gerichtete Perspektive der Maschine wider, die die in drei konkurrierende Flüsse aufgespaltene Identität des Künstlers sichtbar macht und spiegelt, was wir Menschen erzeugen und worin wir versunken sind.

Philipp Adrian – #oneSecond; www.philippadrian.com/project/onesecond/
Tristan Perich – 0.01s; www.tristanperich.com/#Book/0_01s
Klemens Schillinger – SUBSTITUTE PHONES; www.klemensschillinger.com/portfolio/substitute-phones/
Michael Mandiberg – Quantified Self Portrait; www.mandiberg.com/quantified-self-portrait-one-year-performance/

 

Übersetzt von Gülçin Erentok