Heft 2/2018 - originalcopy


Eins zu eineinhalb

Zum Spektrum gegenwärtiger künstlerischer Kopierverfahren

Christian Höller


Bemerkenswert ist allein schon der künstliche Snuff-Movie-Effekt. Wenn der Kamerablick in Kanye Wests berüchtigtem Musikclip Famous (2016) langsam durch die Wolkendecke hinabgleitet, lässt die grobe, defizient wirkende Bildauflösung bereits Böses ahnen. Wenn dann erste Porträtfetzen, wie mit einer billigen, prädigitalen Videokamera gefilmt, auftauchen, ist man schon mittendrin im Reality- bzw. Celebrity-Porno, den der Film genüsslich ausbreitet. Zwölf US-amerikanische Berühmtheiten, darunter der gegenwärtige und ein vormaliger Präsident, Popgrößen wie Rihanna und Taylor Swift, aber auch West selbst samt seiner Gemahlin Kim Kardashian, wurden für den zehnminütigen Film eigens als Wachspuppen modelliert. Langsam erschließt sich, zunächst mit, dann ohne die Musik, um die es in dem Clip eigentlich gehen sollte, dass die Figuren nach Art einer Apostelreihe in einer endlos wirkenden Bettstatt drapiert sind. Drapiert im wahrsten Sinne, da man zunächst nur nackte bzw. halb bedeckte Körperteile oder Einzelheiten wie Tattoos zu sehen bekommt und sich erst im Lauf des Clips das gesamte „Line-up“ offenbart: ein Abendmahl mäßiges, nicht an einem langen Tisch, sondern in einem breiten Bett arrangiertes Tableau; auch nicht wirklich „vivant“ (nur zweimal bewegen sich die Figuren mehr geisterhaft als wirklich belebt), sondern vielmehr „mort“ – echte Menschen, eingefroren bzw. mortifiziert als Kopien ihrer selbst. Noch dazu in pikanten Posen, die aber ebenfalls mehr wie ein hundertfach gesehener (oder gedachter) Abklatsch wirken denn wie eine „authentische“ Enthüllung.1
Famous lässt sich durchaus als ein selbstreflexiver, zugleich auch augenzwinkernder Akt in Sachen Berühmtheit bzw. eines Celebrity-Daseins lesen, hinter das es ab einem gewissen Schwellenwert kein Zurück mehr gibt. Gleichzeitig klinkt sich der Film, so wie zahlreiche andere Praktiken der gegenwärtigen Digitalkultur, in das immer umfassendere Setting einer geradezu unumgänglich gewordenen „Kopierkunst“ ein. Damit ist nicht mehr einfach ein unilinearer Prozess gemeint von A (quasi unantastbares Original) hin zu B („sekundäre“, verfremdende, allegorisierende oder anderweitig kontextualisierende Replikation). Auch entspricht diese „Copy Culture“ nicht mehr dem Ansatz früherer Appropriationsverfahren in der Kunst, die zum überwiegenden Teil Artefakte aus der Mitte, dem Mainstream der Kultur, für die Zwecke (und den Zuschnitt) einer randständigen, gleichsam gegen den Strich gebürsteten Praxis nutzbar machen wollten. Im Vergleich dazu ist die im weitesten Sinn gefasste, von konzeptueller künstlerischer Anleihe über replizierte Internet-Meme bis hin zu diversen Do-it-yourself-Netzpraktiken reichende Kopierkultur viel universeller – und folgenreicher. Kopien aus dem realen Leben sind darin längst, so wie Famous dies auf drastische Weise vor Augen führt, zu eigenständigen, ja mit Eigenleben ausgestatteten Entitäten geworden (selbst wenn sie, eine aufschlussreiche Dialektik im Übrigen, tot oder temporär leblos erscheinen mögen). Und mehr noch: Das Ansinnen, hochrangiges Kulturgut einem kritischen Lackmustest unterziehen zu wollen, indem man es zweckentfremdet oder rekontextualisiert, hat sich in dem Maße zu erschöpfen begonnen, als Mitte und Ränder, Hoch und Tief, längst auf eine Weise ineinander verschachtelt sind, dass eine entsprechende kritische Orientierung entlang dieser Dimensionen kaum noch möglich erscheint.
Wenn also bereits im Herzen der Celebrity-Kultur auf recht doppelbödige Weise mit „realen Kopien“ gearbeitet wird – und lässt sich Berühmtheit in gewisser Weise nicht überhaupt als endlose Kopierbarkeit ihrer selbst verstehen? –, wie ist es dann um künstlerische Ansätze bestellt, die gleichfalls (notgedrungen) auf diesem Kopierprinzip aufbauen? Zwar ließe sich auch für die Kunst, so wie für den Popbereich in noch größerem Maße, die Taxierbarkeit von Autorschaft und Besitzansprüchen als unumstößliches Kriterium ins Treffen führen. Doch die Praxis ist hier, wie es scheint, schon viel weiter fortgeschritten, als der Diskurs (oder der konzeptuelle Richtwert) im Hinblick auf auktoriale Zuschreibungen dies wahrhaben will. Und so manifestieren sich seit Längerem zumal kritische Praktiken, die das Kopierprinzip sei es dokumentarisch-rekonstruktiv, sei es aktiv-konstruktivistisch oder als generellen Maßstab gegenwärtigen Netzwerkdenkens schlechthin einsetzen.

Wenn ein Mahnmal auf Besuch kommt
Die öffentlich bzw. medial zirkulierende Persona einer Entertainment-Berühmtheit oder eines Politikers nachzubilden, sei es mit digitalen oder plastisch-skulpturalen Mitteln, erfreut sich länger schon größerer Beliebtheit – nicht zuletzt in Kreisen der Post-Internet-Art. So hatte Cécile B. Evans in ihrem Film Hyperlinks or It Didn’t Happen (2014) den Schauspieler Philip Seymour Hoffman – kurz nach dessen Tod – als digitalen Abklatsch seiner selbst inmitten von Quallen und anderen bunten Schau-Items in Erscheinung treten lassen. „I’m just a bad copy of myself, made too perfectly, too soon“, spricht die künstliche Stimme des Avatars, und das Kopierverfahren zielt hier ganz klar darauf ab, ein real eingetretenes Ereignis (den frühzeitigen Tod von Hoffman) mit künstlerischen Mitteln ungeschehen machen zu wollen – bzw. die Unumkehrbarkeit des realen Prozesses im Medium selbst aufzuheben.2 Gänzlich kontrafaktisch gerieren sich auch die Politikerkopien, die in Josh Klines Video Crying Games (2015) kleinlaut um Vergebung flehen. Auch hier findet sich etwas im artifiziell geschaffenen Kontext aufgehoben, allerdings nicht das, was ohnehin bzw. unvermeidbar bereits geschehen ist, sondern das, was die Tür ein Stück weit in Richtung des buchstäblich Undenkbaren (oder sehr selten Vorkommenden) aufstößt.3 Die „eineinhalbfache“ Kopie, wie man sagen könnte, geht hier so weit, das schlechte Original zu korrigieren – ohne ihm einen realen Gegenentwurf (was dann „zwei“ ergeben würde) entgegenzusetzen.
PolitikerInnen und reale EntscheidungsträgerInnen können aber auch auf andere Weise mit den Implikationen und Folgen ihrer Handlungen konfrontiert werden. Hier setzt die Form des agitatorischen Kopierens an, wie es in den letzten Jahren beispielsweise von der AktivistInnengruppe Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) praktiziert wurde. Dieses Kopieren kann im Akt der realen Entwendung und temporären Neuerrichtung eines öffentlichen Denkmals bestehen, so wie dies bei dem Projekt Weiße Kreuze (2014) der Fall war. Einige der zum Gedenken an die Berliner „Mauertoten“ errichteten Kreuze waren dazu an die EU-Außengrenze nach Melilla gebracht worden, um dort an die heutigen Opfer rigoroser Grenzregime zu gemahnen.4 Der Kopierprozess kann aber auch ungleich konstruktivistischere bzw. simulationistische Züge annehmen. Als der Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke in einer Rede meinte, dass die Deutschen das „einzige Volk der Welt [seien], das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat“, nahmen die AktivistInnen dies zum Anlass, um das Denkmal bzw. eine Replica davon selbst auf Reisen zu schicken – nach Bornhagen, in die unmittelbare Nachbarschaft von Höckes Wohnhaus.5 Im Zuge aufwendiger Vorbereitungen mietete sich das ZPS in ein Nachbargrundstück ein, schuf Nachbildungen der Stelen von Peter Eisenmans Berliner Mahnmal – und enthüllte es im November 2017 zum Entsetzen des Politikers und seiner vor Ort verankerten Gesinnungsgemeinde.
Die Reaktionen auf das Projekt Deine Stele gingen von realen Handgreiflichkeiten über die versuchte Brandmarkung der KünstlerInnengruppe als „terroristische Vereinigung“ bis hin zum gerichtlichen Vorgehen gegen die UrheberInnen dieses „Terrors“. Letzteres bislang ohne Erfolg, da das zuständige Amtsgericht im Dezember dem Eigentümer des Grundstücks, auf dem die Stelen errichtet wurden, per Beschluss untersagt hat, diese wieder entfernen zu lassen. Die Mahnmalkopie wird demnach noch länger in diesem unwirtlichen Habitat zu Besuch sein – es kam und blieb, wie man in Anlehnung an Simone de Beauvoirs feministischen Romanklassiker sagen könnte. Das in Projekten wie diesem eingesetzte Kopierverfahren hat mehr als nur provokanten bzw. konfrontativen Wert (die LeugnerInnen bestimmter Sachverhalte mit „originalen“ Zeugnissen dieser Sachverhalte in Berührung zu bringen). Zwar liegt sein real zu bemessender Effekt genau darin begründet, die weitreichendere Konsequenz gerade für eine zeitgemäße künstlerisch-aktivistische Praxis besteht jedoch darin, dass – um diese Wirkung zu erzielen – gar nicht mehr groß auf „Originales“ oder „Authentisches“ zurückgegriffen werden muss. Vielmehr reicht ein amateurhaftes Abbildverfahren, ja eine selbstgemachte Kopie, um, was den gewünschten Effekt betrifft, mindestens so viel wie, wenn nicht sogar mehr als „the real thing“ herzustellen. Dein Stele entfachte zumindest eineinhalbmal die Wirkung, die es gehabt hätte, Höcke zu einem Besuch des „echten“ Holocaust-Mahnmals bewegen zu wollen.

Die Avatare des V-Manns
Auf mindestens eineinhalbfache Wirkung von bislang nicht wirklich zur Geltung gekommenen Erkenntnisständen zielt die Praxis von Forensic Architecture. Ist ein Projekt wie Deine Stele darauf angelegt, mittels einer (wie aufwendig auch immer) gefertigten Kopie eines realen Mahnmals einen gezielten Effekt herzustellen, so läuft bei Forensic Architecture dieser Prozess gleichsam in umgekehrter Richtung ab. Ausgangspunkt ist ein bereits vollendeter Tatbestand, der – aufgrund der zeitlichen Distanz, aber auch von handfesten Vertuschungen oder Geheimhaltungen – nicht einfach zugänglich ist. Vorgenommen wird daher ein möglichst genauer Rekonstruktionsakt, so weit die verfügbare Evidenz bzw. die dazu eingesetzten Rekonstruktionsmedien dies zulassen, um dem „Original“ des Ereignisses so nahe wie möglich zu kommen. Der penible Simulationsprozess läuft, wenn man so will, darauf hinaus, einer (möglichst plausiblen, widerspruchsfreien) Version einer realen Begebenheit Geltung zu verschaffen – etwas, das aufgrund politischer oder geheimdienstlicher Machenschaften bislang unter Verschluss gehalten wurde.
77sqm_9:26min, so der Titel eines dieser Projekte, nimmt die raumzeitlichen Koordinaten des Schauplatzes, um den es geht, als Ausgangspunkt, um einen bislang obskuren Tathergang so exakt wie möglich zu simulieren. Die Ermordung des jungen Internetcafé-Betreibers Halit Yozgat in Kassel am 6. April 2006 war als neunte der insgesamt zehn Mordtaten des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in die Annalen eingegangen. Bis heute ist nicht hinlänglich geklärt, was genau an diesem Nachmittag in dem Internetladen passierte – unter anderem auch aufgrund der vagen Aussage des Verfassungsschutz-Bediensteten Andreas Temme, der zum Zeitpunkt der Tat entweder in dem Café oder in unmittelbarer Nähe präsent war. Es existiert sogar ein Video, in dem Temme diese Anwesenheit nachstellt6 – ein Dokument, das wie viele andere aus dem Zusammenhang des Mordfalls 2015 „geleakt“ wurde und Anlass zu vielerlei Spekulationen bietet. Zum Zeitpunkt dieses Durchsickerns hatte sich bereits das Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen gegründet, das seither in einer Vielzahl von Aktionen und Initiativen versucht, Aufklärung in die immer noch ungeklärten Hergänge und vor allem auch die Verstrickungen zwischen NSU und deutschem Verfassungsschutz zu bringen.7 Eine dieser Initiativen bestand darin, 2016 die interdisziplinäre Gruppe Forensic Architecture mit einer möglichst originalgetreuen Simulation des Tathergangs am 6. April 2006 zu betrauen – zehn Jahre, nachdem immer noch kein klärendes Licht in die Sache gebracht worden war.
Vorarbeiten zu 77sqm_9:26min wurden 2017 im Berliner Haus der Kulturen der Welt, der Film dann als Teil einer umfassenderen Installation in der Neuen Neuen Galerie auf der documenta 14 präsentiert (unter dem Gesamtprojektnamen The Society of Friends of Halit) .8 Die Quadratmeterangabe bezieht sich auf die Gesamtfläche des Internetcafés, die Zeitangabe auf die Länge des Tathergangs, Letzteres aus den geleakten Dokumenten, etwa Aussagen von im Café Anwesenden bzw. diversen Log-in-Daten rekonstruiert. 77sqm_9:26min, wofür auch ein Simulationsmodell gebaut wurde, um Schall- und Geruchsausbreitung möglichst originalgetreu nachvollziehbar zu machen, spielt im Stil eines digital-animierten Lehrfilms drei mögliche Szenarien durch – um schließlich nach Zusammenschau und Abwägung aller verfügbaren Evidenz zu dem Schluss zu kommen, dass der V-Mann, entgegen seiner eigenen Aussage, zum Zeitpunkt des Mords am Tatort anwesend gewesen sein muss. Auch nachdem ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Landes Hessen, dem der Bericht von Forensic Architecture im August 2017 vorgelegt wurde, diesen zu entkräften versucht hatte, bleibt dieses Szenario – auch aufgrund der neuen Evidenz, die dabei ins Spiel kam – aufrecht und wahrscheinlicher als alles, was bislang zum offiziell anerkannten Erkenntnisstand zählt.9
Das hier angewandte Verfahren besteht darin, ein „Original“, dessen authentische Substanz nicht mehr eins zu eins abrufbar ist, anhand aufwendiger Simulationsprozesse rekonstruktiv zu erschließen. Die Kopie bzw. deren immer größere, man könnte sagen asymptotische Verfeinerung, rückt im Zuge dieses Verfahrens sukzessive an die Stelle des ursprünglichen Ereignisses bzw. wird zu dem, was davon, sei es dokumentarisch oder künstlerisch, noch erschließbar ist. Das Supplement, auch wenn es juridisch (noch) nicht als solches anerkannt wird, hat die eineinhalbfache (Spreng-)Kraft des ungeschickt überdeckten „Originals“. Welches, um es noch einmal zu betonen, in unverstellter, frei zugänglicher Form schlichtweg nicht mehr existiert.

Nahtlose Übergänge
Derlei verschüttet gegangene „Originale“ stellen in gewisser Hinsicht stets Ursprungsfiktionen dar, denen nichtsdestotrotz ein realer, bisweilen umstrittener – oder eben zu erstreitender – Kern eignet. Gerade im Hinblick auf eine „retroaktive“ Aktualisierung, wie Forensic Architecture sie vornimmt, ist das Sichtbarmachen dieses Kerns indes zentral auf „konstruktivistische“ Kopiermethoden abgewiesen. Diese bilden auch den Fokus einer Reihe von Arbeiten, die, häufig mit digitalen Mitteln, Versionen von öffentlich nicht (oder nur sehr schwer) zugänglichen Sachverhalten, bereits stattgefundenen Ereignissen oder weiterhin existierenden, für das freie Auge jedoch unsichtbaren Orte erstellen. Hier von Kopien zu sprechen, überdehnt den Begriff womöglich – zumal die dazugehörigen „Originale“ häufig einem Regime der Unsichtbarkeit oder Unsichtbarmachung unterworfen sind. Entscheidender aber ist, dass die hier angewandten Verfahren die scheint’s unverrückbar zugrunde liegenden Pole – real–fiktiv, analog–digital, original–kopiert – zum Verschwimmen bringen. Oder noch grundlegender: dass, indem die aufgrund einer taktischen (oder politischen) Notwendigkeit erstellte Kopie an die Stelle des Originals tritt, diese überkommene binäre Unterscheidung in gewisser Hinsicht selbst hinfällig wird.
So hat James Bridle in seiner Arbeit Seamless Transitions (2015) britische Schubhafteinrichtungen „visualisiert“.10 Soll heißen: anhand von Architekturmodellierungen Animationen jener Orte und institutionellen Geheimzonen geschaffen, die den Augen der Öffentlichkeit überwiegend entzogen sind. Die im Titel angesprochene „Nahtlosigkeit“ bezieht sich dabei ebenso auf das möglichst reibungslose Gleiten, das aus Sicht der Behörden die (gemeinhin unsichtbaren) Prozesse der Schubhaft und Deportation kennzeichnet, wie auf den – vom Kunstwerk ermöglichten – Übergang zwischen unzugänglichem Original und animierter, künstlich ins Leben gerufener Kopie. Wobei die Replica den Ort, um den es geht, überhaupt erst „aktiviert“ und, wenn man so will, für ein kritisches Bewusstsein erschließt bzw. „enacted“.
Dass dieses Enactment im Zusammenhang der immer nahtloseren Digitalkultur mehr als bloß ein Übergang von A nach B, von Original zu Kopie oder umgekehrt, ist, belegen auf das Anschaulichste die Arbeiten von Jon Rafman. Sticky Drama (2015) etwa, worin ein (reales) Cosplay-Event – die in aufwendigen Kostümen nachgespielte Version eines Computergames – in aller Ausführlichkeit und Drastik (samt Superzeitlupen) aufbereitet ist.11 Oder Erysichthon (2015), das wie viele andere von Rafmans Filmen Fundstücke aus dem Deep-Web zu kleinen Lehrstücken darüber montiert, was Bildlichkeit in Zeiten der unhaltbar (bzw. ortlos) gewordenen Unterscheidung von Original und Kopie ausmacht.12 „Wenn man ein Bild lange genug anschaut, glaubt man irgendwann, dass man es selbst geschaffen hat“, heißt es darin an einer Stelle, und motivisch geht es wiederholt um Akte der Selbstverschlingung – dasjenige Bildprinzip, das genau die Binärordnungen, von denen hier die Rede ist, unumkehrbar unterläuft. Ein metallisch glänzender Würfel wird von einer schwarzen viskosen Masse verschlungen, eine Schlange beginnt, ihr eigenes Hinterteil zu verzehren, Handydisplays zeigen animierte Figuren, die sich andere Figuren einverleiben. All diese aus dem Netz gefischten, von aktiven UserInnen dort irgendwann einmal aus welcher Laune oder Motivik heraus auch immer platzierten „Items“ ergeben in Kombination nicht bloß ein Vexierspiel aus Leere und Überpräsenz („The void also attracts you“ heißt es einmal mit betörender Stimme aus dem Off). Vielmehr werden so auch in gewisser Weise unergründlich gewordene „Originale“ und davon appropriierte, aber keineswegs bloß sekundäre „Kopien“ in eine Art Umspringverfahren verwickelt – ein Hin- und Her-Oszillieren ohne verbindlichen Anker, was den Netzwerkcharakter heutiger Digitalbilder einmal mehr unterstreicht.
Diese Einsicht macht gegenwärtige politische Anliegen (wie sie das ZPS oder Forensic Architecture legitimerweise verfolgen) keineswegs überflüssig. Im Gegenteil: Es hievt nur die Ordnungsschemata, mit denen man bis dato immer noch versucht, Primäres und Sekundäres, Authentisches und Derivatives besser in den Griff zu kriegen, auf ein grundlegend anderes Plateau. Ein Plateau, auf dem Kopien mitunter die eineinhalbfache Wirkung von Originalen entfalten.

 

 

[1] https://www.youtube.com/watch?v=p7FCgw_GlWc
[2] Vgl. Daniel Rourke, „Please don’t call me uncanny“, rhizome.org, 4. Dezember 2014; http://rhizome.org/editorial/2014/dec/4/please-dont-call-me-uncanny-hyperlinks-seventeen-g/.
[3] Vgl. dazu meinen Text Kontrafaktische Parallelwelt, in: springerin 1/2017, S. 6–7.
[4] Vgl. https://www.politicalbeauty.de/mauerfall.html.
[5] Siehe https://deine-stele.de/.
[6] https://www.youtube.com/watch?v=eJMd3olote0
[7] Siehe http://www.nsu-tribunal.de/.
[8] http://www.forensic-architecture.org/case/77sqm_926min/
[9] Vgl. Robert Mackey/Robert Trafford, A German Intelligence Agent Was at the Scene of a Neo-Nazi Murder. He Can’t Explain Why, in: The Intercept, 18. Oktober 2017; https://theintercept.com/2017/10/18/germany-neo-nazi-murder-trial-forensic-architecture/.
[10] Siehe http://jamesbridle.com/works/seamless-transitions; vgl. Franz Thalmair, Offensichtlich – hinter den Kulissen. Zur (nicht nur künstlerischen) Praxis von James Bridle, in: springerin 4/2015, S. 8–9.
[11] https://vimeo.com/144165513
[12] https://vimeo.com/184674362; vgl. Vera Tollmann über Jon Rafman, in: Lars Henrik Gass/Christian Höller/Jessica Manstetten (Hg.), after youtube. Gespräche, Portraits, Texte zum Musikvideo nach dem Internet. Köln 2018.