Heft 2/2018 - Artscribe


Sasha Pirker – MOI?

14. Oktober 2017 bis 28. Oktober 2017
Kunstbüro Wien / Wien

Text: Fiona Liewehr


Wien. „Wahrnehmen wird zu einem existentiellen Drin-sein. Ver-stehen wird zu einem Drin-stehen in einem Zusammenhang. An-sicht wird zur Ein-sicht. Und in der Ein-sicht öffnen sich neue Räume und Binnensichten“1, schreibt der österreichische Architekturtheoretiker Franz Xaver Baier und beschreibt damit seinen radikalen Raumbegriff, der sich vom geometrischen Raum in den Bereich des Lebensraums öffnet. Die sensiblen räumlichen Eingriffe, die die österreichische Künstlerin und Filmemacherin Sasha Pirker in ihrer mit MOI? betitelten Ausstellung im Kunstbüro in Wien vorgenommen hat, sind aus dieser Sicht mehr als eine Präsentation eines selbstreflexiven Ichs und einer subjektiven Raumerkundung. Sie versteht sich als Angebot an die BetrachterInnen, die konstitutiv zum Raum gehören und im Zusammenspiel von Skulptur, Film und Druckgrafikserie durch ihre Anteilnahme die Beziehungen zwischen den Objekten und zu sich selbst konstruieren. Wenn Pirker im Raum neben dem Eingang des Kunstbüros einen einfachen hölzernen Rahmen, PILOT (Beginn einer Serie), baut, kann diese subtile architektonische Intervention in der Tradition von Michael Asher gelesen werden, der durch Subtraktionen und Ergänzungen in der bestehenden Umgebung die Aufmerksamkeit auf den Ausstellungsort lenkte und eine Reflexion über ihn evozierte. Für die Filmemacherin Pirker, die ihre Umgebung und die Situationen darin stets in bewegten Bildern wahrnimmt, stellt er mehr einen starren Kader in einem sich ständig verändernden, fluiden Raumkontinuum dar. Er strukturiert den kleinen Innenraum, verdoppelt den Rahmen der schmalen hohen Glastür, die auf den Gehsteig führt, und spielt mit Ein- und Ausblicken und den Verschränkungen von semiprivatem Ausstellungs- und öffentlichem Außenraum.
Die Lust am Spiel von Innen und Außen, von Verbergen und Offenbaren ist auch konstituierend für das im Hauptraum des Kunstbüros präsentierte Video identical. Die ZuschauerInnen blicken auf einen sich leicht im Wind bewegenden Vorhang vor dem Fenster der Künstlerresidenz in der Chinati Foundation in Marfa, Texas. Das minimale Handlungsangebot lenkt zunächst die Aufmerksamkeit auf das Spiel von Licht und Schatten auf dem verknitterten, leicht strukturierten Stoff und steigert durch das zeitgleich wahrgenommene Rauschen des Winds die Erwartungshaltung und Spannung der BetrachterInnen, endlich einen Blick auf das dahinter Verborgene zu erhaschen. Ab der Mitte des vier Minuten langen Films setzt die Erzählung eines Architekten ein, der über die Rolle von Architektur in der Verhandlung allgemeiner Raumwahrnehmung philosophiert, über seine spezielle Arbeitserfahrung und seinen eigenen Identitätsfindungsprozess in Beziehung zu seinem eineiigen Zwillingsbruder, der ebenfalls Architekt ist. Am Ende der Schilderung trägt ein Windstoß den Vorhang in den Raum hinein und öffnet den Blick auf den Garten und die verglaste Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes von Donald Judds Artillery Sheds. Sasha Pirker erschafft einen wunderbar poetischen filmischen Essay, in dem sich das bewegte Bild des Films mit dem statischen Raum der Architektur verknüpft und sich der Wahrnehmungsprozess der BetrachterInnen analog zum Erzählstrang von der optischen Ebene zu einer introspektiven Reflexionsschicht öffnet und sich Voyeurismus in Kontemplation wandelt. Identical ist ein Film, der sich durch das Motiv des Vorhangs mit dem Akt des Zeigens selbst auseinandersetzt und in dem sich durch die geschickt ineinander verwobene Bild- und Textstruktur das imaginative und das begriffliche Denken in einem dialektischen Prozess gegenseitig verstärken. Die Nahansicht des Bildmotivs entwickelt sich im Verlauf des Films in die Distanz des Ausblicks auf die gerahmte Fensterfront, während die fast vollkommene Absenz einer Handlung zu einer Präsenz von Imaginationen, ausgelöst durch die aus dem Off erklingende Erzählung führt.
Um die Dichotomie von An- und Abwesenheit, sichtbarem und imaginiertem Bild geht es auch in der vierteiligen Serie von Radierungen 100 untitled birds, die Sasha Pirker neben ihrer skulpturalen Intervention und ihrem Film präsentiert. Die fast abstrakten, weißen Formen auf schwarzem Grund, die Pirker durch ein vom Künstler Tomas Eller entwickeltes Übersetzungsverfahren von Fotografie auf Radierung sichtbar macht, sind die Fettabdrücke von Vögeln bei ihrem Aufprall auf die Glasfront der Artillery Sheds. Es sind die sichtbaren Abdrücke von Lebewesen im imaginierten Moment ihres Sterbens, präsent wie absent zugleich. Sie wirken wie gerahmte Filmkader, die als Schnitt durch Raum und Zeit die jähe Beendigung ihres dynamischen Flugs statisch und dauerhaft ins Bild setzen und Bewegung und Stillstand gleichsam in einem medialen Hybrid aus Film, Fotografie und malerisch anmutender Druckgrafik zusammenfallen lassen.
Gemeinsam mit dem minimalen Raumeingriff und ihrer Filminstallation gelingt Sasha Pirker im Kunstbüro eine vielschichtige Referenzcollage aus Film, Architektur, Bild und Ton, die über medienreflexive Ansätze hinausgeht. Sie schafft eine sinnlich erfahrbare Komposition, die auf Leerstellen und scheinbare Nebensächlichkeiten verweist und Zwischenräume als konstituierende Elemente miteinbezieht.

 

 

1 Franz Xaver Baier, Der Raum. Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes. Köln 2000, S. 26.