Heft 3/2018 - Institut "Kunst"


„Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“– Freilich kann man das!

Von der Verwandlung einer (post-)sozialistischen in eine autoritär-nationalistische und autokratische Kunstinstitution

Edit András


Man sollte meinen, die Erfahrungen in der Kunst und Kultur unter sozialistischer Herrschaft hätten zu einer echten Immunität gegen die Krankheit der totalisierten und normierten Kultur geführt, sodass diese gegen ihr Wiederaufkeimen in mutierter Form – der rechten und „autoritären Demokratie“ – gefeit seien. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ich frage mich, wie es möglich ist, zweimal in denselben Fluss zu steigen. Der Antwort darauf möchte ich mich sowohl aus Sicht der offiziellen Kunstinstitutionen und Kulturpolitik nähern (wie ist das Verhältnis des Regimes zu Kunst und Kultur, was sind die von der Staatsmacht angewandten Methoden?) wie auch aus jener der AkteurInnen dieses Kulturbetriebs (wie haben frühere Kompromisse und Versäumnisse zu Blindheit, Opportunismus etc. geführt?). Dabei betrachte ich ebenso den theoretischen Rahmen, die potenzielle Rolle, die der Kunsttheorie in diesem neuen Szenario zukommt. Da Ungarn bei der Umwandlung von einer Diktaturform in die nächste die Vorreiterrolle übernommen und als Erstes den Rückschritt in ein rechtsgerichtetes autoritäres System angetreten hat, kann ich bei meinen Recherchen auf reichhaltige Quellen zurückgreifen. Auch wenn die jüngst entstandene Kunstszene mehr als nur flüchtige Ähnlichkeiten mit der unter dem Sozialismus existierenden aufweist, die sich durch eine scharfe Abgrenzung und eine zentralisierte und strenge Kontrolle hervortat, gibt es doch ganz bedeutende Unterschiede. Mit anderen Worten, wir haben es hier mit einer aktualisierten, digitalen Version des manuellen analogen Systems der früheren Kunstwelt zu tun.

Layout und Design
Die Führungsriegen verschiedener autoritärer Regime zeigen auffällige Ähnlichkeiten, wenn es um das hartnäckige Verlangen geht, ihre jeweilige Landeshauptstadt zur Botschafterin ihrer Visionen zu machen. Stalins Steckenpferd, der Palast der Sowjets, war „das stolze Symbol proletarischer Architektur“1. Dieses „Beispiel sowjetischer Erhabenheit ... ist eine Fantasie, deren Verwirklichung man sich gigantisch vorstellen muss. Die darin vermittelte Idee der Erhabenheit findet Ausdruck in der Überwindung der körperlichen Grenzen der kollektiven Arbeiterschaft, die es erbauen wird. Die Arbeiter müssen sich als empfindende Wesen opfern, um eine neue Welt für die proletarischen Massen zu erbauen. In dem Maße, wie ihr eigenes physisches Selbst abnimmt, wächst die Symbolkraft des Kollektivs.“2
Ausgehend von dieser Charakterisierung von Stalins gigantischem Projekt durch Susan Buck-Morss ließe sich der nahe der Donau und vor dem Parlamentsgebäude gelegene Lajos-Kossuth-Platz in Budapest als ein Beispiel postsozialistischer nationalistischer Erhabenheit mit einem eher zeitlichen als räumlichen Fokus betrachten. Mithilfe dieser zeitgemäßen Fantasie werden die sichtbaren Spuren der Vergangenheit einer ganzen Generation beseitigt und die (imaginäre) nationale Vergangenheit durch Symbolpolitik erhöht. So ermöglicht der Platz in seiner jetzigen Form buchstäblich eine Zeitreise zurück in die Mitte des 20. Jahrhunderts: Er wurde erst vor Kurzem so detailgetreu rekonstruiert, dass sein Anblick nun dem von 1944 (!) gleicht. Dabei wurde jede Erinnerung an sozialistische Zeiten ausgelöscht, als hätte es diese nie gegeben. Diese Vorstellung offenbart sich auch in der Rhetorik vom Verlust der ungarischen Souveränität in den zwei aufeinanderfolgenden Besatzungen des Landes durch die Nazis und später die Sowjets.3
Hier stehen sich zwei widersprüchliche Sichtweisen gegenüber: Während die sozialistische vorwärts- und zukunftsorientiert war, blickt die nationalistische auf die Vergangenheit zurück. Die Rekonstruktion des Bilds einer „idealen“ Vergangenheit deckt sich mit der Darstellung, dass „Mythen und Symbole der Niederlage ein Banner liefern, unter dem im Namen der Wiedereinsetzung des besiegten Ideals landesweit mobilisiert werden kann“4. Das Regime ist sich nur zu bewusst, dass mit der drohenden Wiederholung dieser Niederlage die Opferrolle der Vergangenheit zu einer ungeheuren Mobilisierungskraft wird. Es projiziert diese Sichtweise in die Zukunft, indem es konstant Ängste schürt, Sündenböcke ausfindig macht und die Art von zerstörerischer Belagerungsmentalität heraufbeschwört, worauf sein letzter Wahlkampf aufgebaut war.

Ergänzt wird die rückwärtsgerichtete Zeitreise des Regimes durch den Rausschmiss von Instituten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften aus dem Burgpalast in Buda, wo sie seit vielen Jahren residiert hatten, um Platz für Regierungsbüros und den „König“ des imaginären Königreichs zu schaffen. Der imaginäre König wünscht sich, dass die Stadt ihm zu Füßen liegt, damit er von einem riesigen, unter Missachtung aller Denkmalschutzvorschriften eigens für ihn angebauten Balkon auf das gemeine Volk hinunterschauen kann. Im Nachhinein liegt die Vermutung nahe, dass die Ungarische Nationalgalerie nur mit dem Museum der Schönen Künste zusammengelegt wurde, damit sie ihr Institut in der Burg räumt und so im historischen und aristokratischen Buda Platz schafft für den faktischen wie symbolischen Umzug des Regierungssitzes aus dem modernen und bürgerlichen Pest. [Picture # 2.]

Neukonfiguration der Hardware
Auch wenn das Projekt des Regimes, das Land in die Zwischenkriegsjahre zurückzuträumen, alle Bereiche umfasst,5 möchte ich mich hier auf die zeitgenössische Kunst und ihre Institutionen konzentrieren. Denn die Darstellung, dass „das goldene Zeitalter kein Zeitalter der perfekten göttlichen Ordnung ist, sondern vielmehr der Urquell, von dem aus die Grenzen kultureller Authentizität definiert werden“6, beschreibt sehr treffend die lokale Situation der Kunst und Kultur.
In der sozialistischen Kulturpolitik war man sich der Bedeutung der Kunst bei der Realisierung der sozialistischen Vision bewusst; sie konnte diese unterstützen oder untergraben. Daher genossen Kunst und Kultur im Sozialismus großes Ansehen und großzügige Unterstützung. Im Gegenzug wurde von ihnen erwartet, der kommunistischen Macht zu dienen. Die Intellektuellen standen zwar in der gesellschaftlichen Hierarchie nur an dritter Stelle nach der Arbeiter- und Bauernschaft, dennoch hatten sie im Sozialismus eine angesehene Position. Natürlich wurde von hochrangigen FunktionärInnen, zu denen auch MuseumsdirektorInnen zählten, im Dienste der kommunistischen Utopie absolute Regimetreue erwartet, um aber ihre Position und Institution zu legitimieren, wurden sie aus einem Pool hochqualifizierter Kunst- und Kulturschaffender ausgewählt. Da die Fidesz-Partei nach ihrem zweiten Wahlsieg den politischen Herausforderungen etwas gelassener begegnen konnte, lenkte das Regime seine Aufmerksamkeit fortan auf Kunst und Kultur. Die Folge war eine zunehmende Regulierung des kulturellen Lebens, das in der ersten Legislaturperiode noch relativ große Unabhängigkeit genossen hatte. Man befand die Museen als zu kosmopolitisch und zu autonom und verordnete eine strengere Kontrolle. Um geeignete KandidatInnen für leitende Positionen zu finden, war Professionalismus nicht länger ein Kriterium. Das Korps der professionellen MuseumsleiterInnen wurde nach und nach abgebaut und größtenteils durch ParteisoldatInnen ersetzt.7

Zur Beschleunigung des kulturellen Wandels bediente sich die Partei eines Kunstgriffs: Sie legte die absolute Macht über das Kunst- und Kulturschaffen des Landes in die Hände einer privaten Bruderschaft, die auf eine Stufe mit der 200 Jahre alten Ungarischen Akademie der Wissenschaften gestellt wurde, sich Magyar Művészeti Akadémia (MMA) – Ungarische Kunstakademie – nannte und 2011 durch ihre Verankerung in der Verfassung legitimiert wurde. Nach und nach übernahm das ultrakonservative Institut, das eine Art Schattenministerium darstellt, die Macht über den kompletten Kulturbetrieb. Als Institution präsentierte es sich weder politisch neutral, noch legte es Wert auf die an akademischen Instituten übliche Professionalität. Stattdessen war es von Anfang an polarisierend und ausschließend und verfolgte gemäß seinem vielsagenden Motto die Förderung „nationaler Kultur innerhalb der Kultur der Nation“.8 Das bedeutete, dass Mittel für experimentelle, geschweige denn kritische Kulturinstitutionen und ebensolches Kunstschaffen nicht mehr bewilligt wurden. Allerdings stießen sowohl die reine Existenz als auch die feindseligen Maßnahmen dieser höfischen Institution trotz der großen politischen und finanziellen Unterstützung auf heftigen Widerstand.9
Mit Beginn der dritten Legislaturperiode des Fidesz-Regimes änderte sich die aggressive und extreme Haltung der MMA, denn nun hatte sie alles, was sie wollte, und sogar noch mehr: Die Ungarische Kunstakademie ist heute eine mächtige öffentliche Körperschaft, ausgestattet mit enormen staatlichen Mitteln, Gebäuden und Institutionen; sie kontrolliert wichtige Positionen und staatliche Gelder, und ihre Mitglieder beziehen großzügige Monatsgehälter, an die keinerlei professionelle Erwartungen geknüpft sind. Es ist also an der Zeit, an der professionellen Akzeptanz in der lokalen Kunstszene zu arbeiten. Die jüngste Strategie der Institution ist besonders perfide und darauf ausgelegt, die gesamte Kunstszene zu korrumpieren. Ab September 2018 werden dreijährige Stipendien an 100 KünstlerInnen aus unterschiedlichen Disziplinen (ab 2020 werden es 300 sein) vergeben, die am Anfang oder in der Mitte ihrer künstlerischen Laufbahn stehen. Diese Stipendien sind doppelt so hoch wie gewöhnliche Kunststipendien (von denen es auch weit weniger gibt). Darüber hinaus können bereits etablierte KünstlerInnen, die eine Auszeichnung bekommen, ihren Preis mit einem „Künstlerzuschlag“ aufstocken. Dies geschieht aber nicht automatisch, sie müssen sich dafür bei ebenjener Institution bewerben, mit deren Akzeptanz sich viele bislang schwer getan haben, der Ungarischen Kunstakademie (MAA). Es scheint wie ein Déjà-vu. Methoden wie Bestechung, Leute-zum-Schweigen-Bringen und Korruption durch Geld und Macht kennen wir noch allzu gut aus der Kádár-Ära. Damals ging es um die Legitimation des nach 1956 von den Sowjets unter Zwang installierten Regimes bzw. um das Vergessen dieses Moments im Austausch gegen eine (innerhalb des Ostblocks) relativ hohe Lebensqualität. In Folge dessen verfiel die ganze Gesellschaft in eine kollektive Amnesie, was wiederum zu einer „zutiefst korrupten, opportunistischen Gesellschaft“10 führte. In Übereinstimmung mit dem utopistischen Wesen des Sozialismus wurde Wohlstand im Tausch gegen eine kollektive Lüge angeboten. Heute geht es erneut um Legitimation, diesmal um die einer Institution, der MMA – „die sich lediglich durch ihre Nähe zur staatlichen Macht auszeichnet“11. Mit anderen Worten, der MMA beizutreten, sie zu akzeptieren und durch das Absolvieren ihres erniedrigenden Ausschreibungsprozesses zu legitimieren, ist der Preis, den man für finanzielle Sicherheit zahlen muss. In einer Zeit, in der das soziale Netz des Sozialismus sich fast vollständig aufgelöst hat, werden als Gegenleistung für die Kollaboration mit der illiberalen, ihrem Wesen nach dystopischen Autokratie Existenzängste in der Bevölkerung beschwichtigt. „Die aktuelle Kulturpolitik bestraft keine DissidentInnen, erhöht aber durch die Neuausrichtung der Quellen die Belohnung für Loyalität, stillschweigende Zustimmung oder wenigstens Präsenz so sehr, dass eine für die Kunstwelt unerträgliche Konfliktsituation entsteht“12 – so hat es ein Kunstkritiker sehr gut zusammengefasst.
Sicherlich sind diejenigen, die heute an der Macht sind, zynischer als jene in der Kádár-Ära, in der Kunst und Kultur im Gegensatz zu heute noch Bedeutung hatten. Die Methoden der Unterwerfung der rebellischen Kunstszene unter die Staatsgewalt wurden „aktualisiert“. Es besteht keine Notwendigkeit mehr für die von sozialistischen RepräsentantInnen einst so akribisch durchgesetzte Zensur, wenn finanzielle Unterstützung (oder das Fehlen selbiger) in Verbindung mit der richtigen (oder falschen) Einstellung der AkteurInnen den gleichen Zweck erfüllen. Und wenn das nicht genügt, erledigen die Medien als mittlerweile höfische Institution der Staatsmacht den Rest, indem sie über die betreffenden Produktionen komplett schweigen und sie damit unsichtbar machen. Man sollte dazusagen, dass Zensur immer systembedingt ist und nicht auf jeden Fall einzeln angewendet werden muss. Es genügt, dass sich überall in der Gesellschaft Angst breitmacht: die Angst, staatliche Mittel zu verlieren, Aufträge, Konzessionen oder Öffentlichkeit, je nachdem, was für die Beteiligten, seien es Firmen, Organisationen oder Veranstaltungsorte, gerade auf dem Spiel steht. Systemische Zensur fordert ihren Preis und führt zur Zähmung radikalen, kritischen Denkens oder zum Rückzug aus alternativen Veranstaltungen.

Der Sozialismus hat seinerzeit viel investiert, um seinem offiziellen Kunststil, dem Sozialistischen Realismus, eine Form zu geben. Und auch wenn die strengen formalen Kriterien mit der Zeit gelockert wurden, musste die Kunst inhaltlich stets regimekonform bleiben. Heute ist man da pragmatischer und kümmert sich nicht weiter um die formalen Kriterien der Kunst, solange sie traditionelle, konservative, nationale Werte und Ideen repräsentiert; Loyalität ist hier wichtiger als Repräsentation.

Installation des Softwareupdates
Was die aktuelle Situation des ungarischen Kunst- und Kulturschaffens angeht, so finden sich auffallende Ähnlichkeiten zum gesellschaftlichen und künstlerischen Klima der sozialistischen Zeit, wenn es um moralische Zwickmühlen geht, um künstlerische Strategien oder erzwungene Entscheidungen, um in einer geteilten (Kunst-)Szene Partei zu ergreifen. Es ist nach wie vor schwierig, den gegenkulturellen Diskurs der heroischen Ära des Kalten Kriegs an die heutige Zeit anzupassen, insbesondere da das Schwarz-Weiß-Denken des Kalten Kriegs, mit dem repressiven Staat auf der einen und der Gesellschaft als Opfer auf der anderen Seite, überholt ist und sich heute ein sehr viel komplexeres und differenziertes Bild bietet. Das Verhältnis zwischen staatlicher Gewalt und öffentlichem Widerstand definierte sich durch ein ständiges Neuverhandeln der Macht zwischen allen Beteiligten.13 In ihrer Charakterisierung der Gesellschaft der Ära Kádár hält Edit Sasvári fest, dass sich „nur sehr wenige Leute weigerten, am einvernehmlichen Diskurs des Opportunismus teilzunehmen“14. Was die Geisteshaltung (die Forderung nach Einheit und Parteidisziplin, Unterwerfung subkultureller Identitäten etc.) und die Sprache des Diskurses betraf (dominant, militant, sexistisch, intolerant etc.), so standen sich beide Seiten in nichts nach.
Aufgrund der Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas im Laufe der letzten Jahre und einem Prozess der „Normalisierung“, Verfestigung und Akzeptanz verlieren die KritikerInnen der Zentralisierung und des Rechtsrucks der Gesellschaft und Kulturszene zunehmend an Schärfe. Die allgemeine Erschöpfung wirkt sich auch auf die Protestbewegung aus; sie hat ihren Elan verloren, und nur noch einige wenige ihrer Mitglieder, quasi der harte Kern, haben die radikalen, kompromisslos kritischen Positionen vom Anfang der Protestbewegung beibehalten.15 Andere, die einst auf den Stufen des Ludwig Múzeums saßen und gegen das auf politischen anstelle von professionellen Kriterien basierende Auswahlprozedere protestierten und die Eigenständigkeit der Kunstinstitutionen forderten, kollaborieren heute auf die eine oder andere Weise mit der Institution, da die Betätigungsfelder für Kunst- und Kulturschaffende immer kleiner werden. So gibt auch die Kunsthalle Budapest, Műcsarnok, ihr Bestes, um die Empörung wegzuerklären, mit der sie auf die offizielle Ernennung der MAA als wichtigstem Veranstaltungsort für Kunstausstellungen reagiert hatte; schließlich war diese bislang nur durch antiquierte Kunst ohne Bezug zum zeitgenössischen Kunstschaffen aufgefallen, die sie in nationalen, kunstsalonartigen Ausstellungen präsentierte. Nun hat die Ungarische Kunstakademie selbst ehemals oppositionelle neoavantgardistische KünstlerInnen am Haken und wird diese in ihren finsteren Räumen ausstellen. Was die Selbstreflexion der Gesellschaft und der Kunstszene in der Kádár-Ära betrifft, herrscht heute die Ansicht, dass „sie [die KünstlerInnen] nicht nur dem Druck der Behörden standhalten mussten, sondern genauso unter den Missständen litten wie die Mehrheitsgesellschaft; noch dazu bereitete ihnen ihr Opportunismus ein schlechtes Gewissen“16. Ich fürchte, dass den Kunst- und Kulturschaffenden, die heutzutage mit dem Regime kollaborieren, ihr Opportunismus kein schlechtes Gewissen mehr bereitet. Sie lassen eher eine kognitive Dissonanz erkennen, wenn ihre Eitelkeit, sprich ihr Opportunismus (in Form der Annahme eines Postens oder eines Ausstellungsprojekts als KuratorIn oder KünstlerIn im Hauptquartier der offiziellen Kultur), von DissidentInnen kritisiert wird: Die Kritik selbst wird beschuldigt, Gräben zu ziehen – und nicht das System der Kunstinstitutionen, das Kunst- und Kulturschaffende zwingt, Partei zu ergreifen.
Im Jahr 1989 wurde der gesellschaftliche und kulturelle Wandel zwischen der herrschenden Elite des sozialistischen Regimes und den verschiedenen oppositionellen Kräften Ungarns friedlich an einem runden Tisch ausgehandelt. Eine gesellschaftliche Debatte über das Wesen „des einvernehmlichen opportunistischen Diskurses“ in den unterschiedlichen Bereichen hat hingegen nie stattgefunden; Grautöne wurden nie zugelassen. Man ließ die HüterInnen der sozialistischen Normen davonkommen. Die Phase der Aufarbeitung der Traumata der kommunistischen Diktatur und der normativen Kultur wurde einfach übersprungen, sodass die Wunde nie richtig verheilen konnte. Stattdessen lieferte dies der (extremen) Rechten Munition für ihre Hexenjagden gegen noch aktive sozialistische AkteurInnen. Politische Koalitionen werden im Allgemeinen dadurch geschmiedet und aufrechterhalten, dass man sich einen gemeinsamen Feind sucht. Um Einheit zu wahren, werden Differenzen beigelegt. Als das Land langsam in einen rechten Autoritarismus zurückfiel, verbündeten sich die ehemals sozialistischen KulturrepräsentantInnen (offizielle KritikerInnen, ZensorInnen, HerausgeberInnen, HüterInnen der sozialistischen Kultur) gegen das neue autoritäre Regime. So konnten jene, die in der Kádár-Ära die Kunst reglementiert und kontrolliert hatten, ihr Gesicht wahren.
Die Strategie, geschlechtsspezifische, sexuelle und ethnische Unterschiede erst einmal dem gemeinsamen Ziel unterzuordnen, wurde bereits in der Gegenkultur der Kádár-Ära praktiziert; im Namen einer vermeintlichen Einheit mussten sexuelle oder ethnische Identitäten maskiert oder verleugnet werden. Für die Belange von Minderheiten war kein Raum; die Konsequenzen dieser Politik sind bis heute spürbar. Der Zwang, im Staatssozialismus Partei zu ergreifen, lenkte auch auf der Mikroebene von ungleichen Machtverhältnissen (in Bezug auf Geschlecht, Sexualität, Familie etc.) in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten ab, und so blieben diese unberücksichtigt. Das Ausbleiben von Solidaritätsbekundungen wurde weitervererbt, was diese heute immer noch sehr selten macht. Minderheitendiskurse oder kritisches Denken werden weiterhin marginalisiert und finden keinen Eingang in den Mainstream. Die männliche Dominanz in der postsozialistischen Staatspolitik sowie in den Kunst- und Kulturinstitutionen hat sich nicht nur gehalten, sie wird auch selten hinterfragt; und sollte doch einmal Kritik laut werden, wird sie unverhohlen niedergeschrien und lächerlich gemacht. Früher einmal galten FeministInnen, die LGBTQ-Community und andere Minderheiten als VorreiterInnen, die Kunst einsetzten, um die bestehenden Institutionen der globalen Kunstszene infrage zu stellen. Diese Radikalität wurde jedoch nie an die (post-)sozialistischen Bedingungen angepasst, und die heute gefeierte „Frauenkunst“ der lokalen ungarischen Kunstszene befriedigt den Markt mit ausgesuchten Frauenthemen, die den Status quo eher festigen als hinterfragen. Als die Diskurse der feministischen Kritik über das Patriarchat in den 1960er- und 1970er-Jahren die westliche Welt dominierten, waren diese hinter dem Eisernen Vorhang genauso abwesend wie jede Form von Institutionskritik. Heutzutage wird die „verspätete“ linke Kritik der elitären Hochkultur vom rechten Autoritarismus einfach für seine populistischen Zwecke vereinnahmt, um damit die akademische und die Kunstwelt anzugreifen.
[Picture # 3.]
Von der Vereinnahmung von Konzepten wie Gemeinschaft, Partnerschaft, Solidarität und politischer Kunst, um nur einige zu nennen, durch die sozialistische Staatspropaganda und ihrer damit in den Augen einiger einhergehenden Kompromittierung war natürlich auch die Kunsttheorie betroffen. Um daran etwas zu ändern, müsste die Kunsttheorie über den eigenen Schatten springen, und das ist nicht möglich. Daher kommt es nur selten zu demonstrativen Gesten der Solidarität, und auch potenzielle Allianzen sind nur schwer erkennbar.17 Ihre Identitätskrise bzw. Schizophrenie rührt von ihrem Zögern her, ihre privilegierte Position als Teil der „Ersten Welt“, wenn auch nur an zweiter Stelle, aufzugeben, um nicht mit der ehemals „Dritten Welt“ bzw. dem Globalen Süden in einen Topf geworfen zu werden. Während die postkoloniale Welt nach Möglichkeiten der Entkolonialisierung sucht,18 um ihre eigene Kultur jenseits der Parameter der KolonisatorInnen zu definieren, betont Ostmitteleuropa stolz seinen europäischen Charakter: Heutzutage kommen die leidenschaftlichsten Stimmen zur Verteidigung der Moderne aus dieser Region, die den zögerlichsten geopolitischen Raum für Solidarität mit anderen Randzonen darstellt.
Man könnte argumentieren, dass zu einer Zeit, in der extremer Nationalismus, Fundamentalismus und Populismus in der ganzen Welt an Zuspruch gewinnen, das Ende der intellektuellen Differenziertheit und Interpretationsfreiheit der Postmoderne gekommen ist.19 Dies mag durchaus so sein, doch hieße dies im Fall von Ostmitteleuropa, und mit Sicherheit im Fall von Ungarn und aller, die diesem Modell folgen werden, dass man quasi erneut in denselben Fluss steigt, ohne vorher wieder ganz trocken gewesen zu sein.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

1 Vgl. Susan Buck-Morss, Dreamworld and Catastrophe: The Passing of Mass Utopia in East and West. Cambridge/London 2002, S. 174.
2 Ebd., S. 180–181.
3 Die Zeit vom 19. März 1944 bis zum 2. Mai 1990 wird in der neuen Verfassung als unrechtmäßig dargestellt.
4 Vgl. Steven J. Mock, Symbols of Defeat in the Construction of National Identity. New York 2012, S. 279.
5 Edit András, Renationalisierung in der ungarischen Kunst und Kultur, in: Europäische Rundschau, 2017/2, S. 85–94.
6 Vgl. Mock, Symbols of Defeat, S. 279.
7 Vgl. Edit András, Vigorous Flagging in the Heart of Europe: The Hungarian Homeland under the Right-Wing Regime, in: e-flux Journal, Nr. 57, September 2014; www.e-flux.com/journal/57/60438/vigorous-flagging-in-the-heart-of-europe-the-hungarian-homeland-under-the-right-wing-regime/.
8 Vgl. Fekete György, Meditációk egy lehetséges nemzeti kulturális stratégia természetésről [Betrachtungen zum Wesen einer möglichen nationalen Kulturstrategie], in: Nemzeti Érdek: A nemzetstratégiai gondolkodás Lapja [Nationales Interesse: Zeitschrift für Gedanken über nationale Strategien], 2013, Nr. 1, S. 39.
9 Mehr dazu unter http://nemma.noblogs.org/category/english/.
10 Vgl. Edit Sasvári, Autonomy and Doublespeak: Art in Hungary in the 1960s and 1970s, in: Edit Sasvári/Sándor Hornyi/Hedvig Turai (Hg.), Art in Hungary 1956–1980: Doublespeak and Beyond. London 2018, S.11.
11 Vgl. Gergely Nagy, Havi kétszáz fixszel: Az MMA ösztöndíjprogramjáról. [Zweihundert pro Monat: über das Förderprogramm des MMA], in: Artportal, 4. Dezember 2018; https://artportal.hu/magazin/havi-ketszaz-fixszel-az-mma-osztondijprogramjarol/.
12 Vgl. ebd.
13 Vgl. Sasvári, Autonomy and Doublespeak.
14 Ebd.
15 Vgl. András, Vigorous Flagging.
16 Vgl. Sasvári, Autonomy and Doublespeak.
17 Vgl. Piotr Piotrowski, Peripheries of the World, Unite!, in: Christiane Erharter/Rawley Grau/Urška Jurman (Hg.), Extending the Dialogue: Essays by Igor Zabel Award Laureates, Grant Recipients, and Jury Members, 2008–2014. Berlin/Ljubljana/Wien 2016 sowie #4 Propositions for a Pan-Peripheral Network, Mezosfera.org (Oktober 2017); http://mezosfera.org/category/issue/4-proposition-for-a-pan-peripheral-network/.
18 Siehe Walter D. Mignolo/Arturo Escobar (Hg.), Globalization and the Decolonial Option. London/New York 2010.
19 Siehe Timothy Snyder, 20 Lessons from the 20th Century on How to Survive in Trump’s America (21. November 2016); https://law.yale.edu/system/files/workshop_readings_-_february_2.pdf.