„Die Geschichte des menschlichen Fortschritts ist wahrhaft heroisch“, schreibt der amerikanische Philosoph Steven Pinker in seinem kürzlich erschienenen Buch Aufklärung jetzt. Pinkers faktenreiches Plädoyer für einen vernunftzentrierten Humanismus scheint zur rechten Zeit geschrieben – in einem Moment bzw. soziokulturellen Klima, in dem genau diese Grundkategorien zunehmend in Zweifel gezogen werden. Aufklärung, menschliche Ratio, tatsachenbasiertes Wissen, ja auch ästhetische Erfahrung – all diese Eckpfeiler des modernen Menschen- und Weltbilds, die heute zusehends in Verruf geraten, haben eines gemeinsam: nämlich dass sie alle dem bis dato Bestehenden oder Erreichten etwas Besseres entgegenhalten. Ja, dass sie einen Übergang anstreben von einem als mangelhaft diagnostizierten „Alten“ hin zu einem als weniger defizient erachteten „Neuen“. Einem Neuen, das möglichst vielen zugutekommen soll und das Versprechen von Wohlstand und Wachstum miteinschließt.
Der Name dieses Übergangs lautete lange Zeit: Fortschritt – ein Begriff, den sich heute nicht einmal die kühnsten OptimistInnen (mit Ausnahme von Philosophen wie Pinker, die in längeren Zeitperioden denken) vorbehaltlos in den Mund zu nehmen getrauen. Und der in den gegenwärtigen politischen Heilslehren durch Ausdrücke wie „Reform“ oder das neue Zauberwort „Veränderung“ ersetzt wird, mit dem man Offenheit nach allen Seiten hin signalisieren will, wiewohl darunter im Kern meist ein Rückbau von erreichten Errungenschaften gemeint ist.
Wie ist es also aktuell um die Kategorie Fortschritt bestellt? Entwickeln sich unsere (westlichen) Gesellschaften noch weiter? Weiter in dem „fortschrittlichen“ Sinn, dass als ungerecht erkannte Zustände zu beseitigen versucht und Prozesse, die ein ausgeglicheneres Zusammenleben fördern sollen, aktiv in Gang gesetzt werden? Ist Fortschritt, der so lange die Narrative von Modernisierung und sozialem Ausgleich, aber auch die von künstlerischer Entwicklung und ästhetischer Bildung bestimmt hat, heute noch eine maßgebliche Größe? Sind im kulturellen Feld, in dem man sich lange Zeit ausgiebigst mit (postmoderner) Aufklärungs- und Vernunftkritik befasst hat, heute vielleicht eher wieder Momente des Progressiven zu finden? Gemeint sind tragfähige, projektive Ansätze zur Überwindung ungerechter, nicht egalitärer Verhältnisse, wie man sie in der Politik längst hinzunehmen bereit ist? Und soll man Fortschrittsideologien Glauben schenken, die diesen primär im technologischen (oder wie Pinker im wissenschaftlichen) Bereich ansiedeln – mit dem Hintergedanken, dass die gesellschaftliche Dynamik dem technisch erreichten Stand der Dinge schon irgendwie folgen wird?
All diese Fragen bilden in Summe den Ausgangspunkt der Ausgabe #Fortschritt. Wobei diesem Fragenkonglomerat der Hashtag # vorangestellt ist, um auf die komplexe Verwicklung zwischen heutigen technologischen Grundbedingungen und den nolens volens in sie eingelassenen kritischen Denkbewegungen zu verweisen. Eine dieser Denkbewegungen breitet Yvonne Volkart in Bezug auf den Ökologiediskurs und die daran anknüpfende Kunst aus. Inwiefern ist Fortschritt, wenn es um den klimatischen bzw. ökologischen Zustand der Welt geht, eine in irgendeiner Form brauchbare Kategorie? Würde Fortschritt hier nicht notwendig Rückschritt, sprich die Umkehr aus der verheerenden Situation bedeuten? Ein Zurück, das jedoch, wie alle wissen, nicht mehr ohne Weiteres möglich ist. Volkart begegnet diesem Dilemma, indem sie den Begriff des „Events“, des ereignishaften Werdens (eines Besseren, aus kleinen Schritten sich Summierenden), starkzumachen versucht.
Dem linearen, in gewisser Weise unumkehrbaren Voranschreiten hält auch Diedrich Diederichsen ein erweitertes, gleichwohl unverzichtbares Konzept des Progressiven entgegen. Diese Progressivität, von vielen schon als irreal oder zu kompliziert verabschiedet, müsste tatsächlich vielerlei Fronten (Stichwort „Intersektionalität“) in sich aufzunehmen bereit sein; und könnte, wie Diederichsen geltend macht, bei einer recht naheliegenden Subjektpositionen ansetzen: jener der Hauptleidtragenden der gegenwärtigen globalen Lage, die vielerorts zur Flucht getrieben werden.
Wohin die vermeintlich weltoffene Gesellschaft des Westens tendiert, ist bekannt, und Lawrence Grossberg legt in seinem Beitrag noch einmal die Wurzeln des diesbezüglich um sich greifenden Pessimismus dar. Grossberg, der seit Jahrzehnten den Aufstieg der neuen Rechten analysiert, wird nicht müde, an einen Optimismus des Intellekts zu appellieren – ein nach wie vor auf Fortschritt und Vorankommen zielendes Denken, das gerade in Zeiten der Krise von Wissen(schaftlichkeit) und Wahrheit bei gleichzeitig zunehmender sozialer Polarisierung mehr denn je vonnöten ist.
Die Kunst ist dem allen vielleicht immer schon einen Schritt voraus. Schließlich operiert sie aus der Spezifik der ästhetischen Erfahrung heraus und versucht, von einem Anderem her, von der Zukunft bzw. einem utopischen Bild aus, auf ein unerquickliches Hier und Jetzt einzuwirken. KünstlerInnen wie die hier vertretenen Danh Võ, Catherine Sarah Young oder Chto Delat setzen genau an diesem Punkt an – Letztere etwa, wie sie im Interview ausführen, indem sie das historische Diktum von Kasimir Malewitsch „Go and Stop Progress!“ auf die Gegenwart umzulegen versuchen.
Insgesamt breitet diese Ausgabe vielerlei, auch aus der österreichischen Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre stammende Szenarien eines solchen Einwirkens auf die Gegenwart aus. In der Hoffnung, einen erweiterten Resonanzraum und Offenheit zu schaffen für eine (nicht bloß technologische) Idee von Fortschritt – eine, die diesen Namen tatsächlich auch verdient.