Eine bruchstückhafte Riesenhand aus gehämmertem Kupfer, zusammengehalten von einem Holzlattengerüst, begrüßte im Frühjahr 2018 die BesucherInnen am oberen Ende der Rampe des New Yorker Guggenheim-Museums. Die Arbeit ist eine von mehr als 300 Einzelskulpturen, die gemeinsam Danh Võs Werkgruppe We the People (2011–16) bilden. Sämtlich sind sie Teile der Freiheitsstatue, die der Künstler maßstabsgetreu nachbauen ließ. Manche Teile – darunter auch die Hand – sind leicht erkennbar, andere, wie beispielsweise ein Faltenwurf des Kleids oder der Lidstrich eines Auges, wirken geradezu abstrakt und auf ihr formales Gerüst reduziert. Die Teile findet man überall auf der Welt, manchmal einzeln, dann wieder in kleinen Gruppen. „Lasst sie doch um die Welt reisen, lasst sie ausschwärmen“, meinte Võ, „lasst sie doch formbare Materie sein, die auf ihrer Reise zu etwas ganz anderem wird.“
Võs We the People öffnet einen Raum für verschiedene Deutungen der Freiheitsstatue. Wie die Kuratorin Katherine Brinson im Ausstellungskatalog zu Võs Retrospektive im Guggenheim darlegt, besteht einer der Stränge, die der Künstler verfolgt, in ihrer Positionierung als „spontan und weltweit erkennbares Symbol für die Freiheit Marke Amerika“. Die Hand und die anderen ausgestellten Statuenfragmente regen uns also an, nicht nur die Ikonenhaftigkeit der Freiheitsstatue genauer zu betrachten, sondern auch zu fragen, was Freiheit – insbesondere jene der „Marke Amerika“, die auch schon vor der Einweihung der Statue 1886 global von großer Bedeutung war – für die Welt bedeutet hat.
Der Bau der Freiheitsstatue in ihrer heutigen Form erforderte mehr als zehn Jahre koordinierte Anstrengungen. Vom Bildhauer Frédéric Auguste Bartholdi entworfen und auch energisch vorangetrieben, begann ihr Leben bereits in Fragmenten. Die rechte, die Fackel hochreckende Hand wurde 1876 auf der Centennial Exhibition in Philadelphia gezeigt, um Spenden für die nötigen Baukosten zu lukrieren. Gemäß der faszinierenden Dokumentation in der New York Public Library wurde die Hand hernach nach New York verfrachtet, wo sie bis 1882 am Madison Square aufgestellt war. Der Kopf der Statue verbrachte Anfang der 1880er-Jahre einige Zeit als Touristenattraktion in Paris.
Während der Bauzeit konnte man im New Yorker Hafen die innere Stützkonstruktion des Monuments bestaunen, was in der Tagespresse mit zahlreichen Illustrationen festgehalten wurde. Ein anlässlich der Enthüllung der Statue veröffentlichtes Souvenirheft beschreibt die mühsame Montage wie folgt: „Der Bau entpuppte sich als äußerst zeitraubend, da sich nur wenige Arbeiter gleichzeitig außen an der Statue abseilen konnten, um das Blech zu vernieten, während andere von innen die Nietenköpfe mit Hämmern fixierten. Mit wachsender Höhe schritt der Bau somit immer langsamer voran.“
Doch so sehr sich das Gedenkheft der nüchternen Beschreibung der Baudetails widmet, so sehr stützt es auch den Mythos der Statue. Schon der Umschlag greift die in einem etwas länglichen Essay entfaltete Idee auf, dass sie „ein Ausdruck des Respekts und der Wertschätzung des französischen Volks für das der Vereinigten Staaten“ sei. In der Tat ist das bis heute einer der hartnäckigsten Mythen über die Freiheitsstatue: Sie sei ein Geschenk der Französinnen und Franzosen an die AmerikanerInnen zu Ehren ihres gemeinsamen Glaubens an eine freie und demokratische Gesellschaft.
Doch wie sah diese Gesellschaft in den beiden Nationen zur Zeit der Aufstellung der Statue eigentlich aus? Das Souvenirheft legt nahe, dass sich die amerikanische Kultur damals in einem goldenen Zeitalter befand, angetrieben von sich rapide entwickelnder Industrie, technischem Fortschritt und Konsum. Im Heft gibt es passenderweise zahlreiche Anzeigen für diverse Produkte und Dienstleistungen, angefangen von Korsetten über Gummimatten bis hin zu Nähmaschinen. Der Essay verkündet enthusiastisch, wie „die starken elektrischen Lampen [in der Fackel der Statue] mit ihren Lichtstrahlen den Hafen erleuchten werden“. Der elektrische Strom war in New York erst wenige Jahre zuvor, nämlich 1882, eingeführt worden, als in der Pearl Street Station im südlichen Manhattan erstmals Edisons Lampen angingen.
Es waren dies die Vorboten jenes Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen. Aber auch die Wurzeln anderer gesellschaftlicher und politischer Realitäten, die sich durch das folgende Jahrhundert verfolgen lassen, lassen sich an der Geschichte der Statue ablesen. So setzten sich, wie der Historiker David Glassberg festgehalten hat, einige der in den 1860er- und 1870er-Jahren an der Planung der Statue Beteiligten vehement für die Abschaffung der Sklaverei ein, und die Spendenkampagne für ihren Bau erstreckte bis in die Gewerkschaften. Im Gegensatz dazu protestierte, wie Glassberg hervorhebt, das Editorial einer Zeitung mit afroamerikanischen Eigentümern: „Werft die Bartholdi-Statue doch mitsamt ihrer Fackel und allem ins Meer, bis die ‚Freiheit‘ in diesem Landes einem arbeitsamen und arglosen Farbigen im Süden ermöglicht, für sich und seine Familie ehrlich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ohne dass er dabei vom Ku-Klux-Klan terrorisiert oder gar ermordet, seine Tochter und Frau in Angst und Schrecken versetzt und sein Eigentum vernichtet wird“.
Eine weitere historische Rekontextualisierung betrifft die französischen Ursprünge der Statue. Während ihrer Planungs-, Finanzierungs- und Bauzeit wurde nämlich die französische Kolonisierung Vietnams vorangetrieben. Der Vertrag von Huế, der die 70-jährige französische Herrschaft in diesem Land einleitete, wurde 1884 unterzeichnet – also zwei Jahre vor der Enthüllung der Statue in New York. Bereits ein Jahr später wurde eine Miniaturversion von ihr auf dem Dach des Tháp-Rùa-Tempels (dem „Schildkrötenturm“) im Zentrum Hanois aufgestellt und blieb dort bis 1945. Nur wenige Jahre danach leiteten die Vereinigten Staaten ihr Engagement in Vietnam ein und begannen, die dortigen französischen Truppen mit Geld zu unterstützen.
Danh Võ wurde in Vietnam geboren und wuchs in Dänemark auf, wohin seine Familie aufgrund der amerikanischen Invasion geflohen war. Die Aufstellung einer Kopie der Freiheitsstatue in Hanoi hat also ebenfalls mit We the People zu tun, ist sie doch nur in einer vernetzten und globalen Geschichte möglich – kurz, in einer Welt, die für viele gerade nicht von jener Freiheit geprägt ist, die die Statue angeblich symbolisiert. Vermeintlich verteidigten die USA in Võs Geburtsland die Demokratie gegen den vordringenden Kommunismus. In Wahrheit aber exportierten sie nur eine neue soziokulturelle Gewalt in jenes Vakuum, das der europäische Kolonialismus zurückgelassen hatte. Wie viele Werke Võs betont also auch dieses die unauslöschliche Wirkung der vielen Wellen westlicher Expansion.
Es gibt aber auch einen poetischen Strang, die der Künstler in dieser Geschichte der Gewalt am Werk sieht. Die Metallhaut der Statue, die er für We the People nachbauen ließ, ist selbst kaum mehr als eine dünne Hülle. Wie in dem genannten Souvenirheft beschrieben, „besteht die Statue aus 3 Zoll 16 [ca. 8 cm, Anm.] dickem Kupferblech.“ Võ lässt uns also die physische Präsenz der Statue unmittelbar erleben. Wir sehen ihre zarten Metallkurven, und das uns so wuchtig vorkommende Symbol erscheint in einem völlig neuen Licht. Oder wie der Künstler sagt: „Das kolossale […] Symbol erweist sich als nachgerade zerbrechlich.“
Die englische Originalversion wurde erstveröffentlicht auf Guggenheim Blogs; blogs.guggenheim.org. © 2018 The Solomon R. Guggenheim Foundation, New York. Übersetzung ins Deutsche mit freundlicher Genehmigung.
Übersetzt von Thomas Raab