Interviews finden nicht nur in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und professionellen Kontexten Anwendung, sondern auch im Kunstbetrieb und im Rahmen dessen wiederum als integraler Bestandteil künstlerischer Arbeiten. Ob als Rechercheinstrument eingesetzt oder als finale, stets medienabhängige (audio-)visuelle Form: Als künstlerische Praxis und deren Gegenstand betrachtet, werden Interviews vielfältig eingesetzt und übernehmen unterschiedlichste Funktionen – unabhängig davon, wie statisch oder prozesshaft sie angelegt sein mögen, oder in welcher Spannweite man den Werkbegriff denken mag. Ihr Zweck kann Informationsbeschaffung, Erkundung oder Ermittlung sein ebenso wie die Generierung von zitierfähigen Aussagen, Aufmerksamkeit oder der Drang, der eigenen Neugierde nachzugehen.
Die Aneignung von Interviews als künstlerisches Mittel korreliert damit auch mit ihrem Gebrauch in anderen Disziplinen, Lebens- und Arbeitsbereichen und bezieht sich mehr oder weniger explizit auf diese, schreibt der Kunstsoziologe Ulf Wuggenig.1 Nicht zuletzt rekurrieren Interviews, als Handwerkszeug und spezifische Gestalt der Kunst verstanden, einer Rückkoppelung gleich, auch auf sich selbst: Nicht selten steht das Begehren, das Befragen selbst einer Befragung zu unterziehen, im Zentrum, oder anders gesagt: Selbst das Fragen kann mit einer Kommentarfunktion ausgestattet sein.
Auch Karina Nimmerfall widmet sich in ihrem Künstlerinnenbuch Indirect Interviews with Women dem Interview. Herausgegeben von Reinhard Braun erschien es im Zuge ihrer rezenten, gleichnamigen Einzelausstellung in der Camera Austria Graz. Nicht dass sie selbst Interviews geführt hätte: Sie verpasst bereits vorhandenen Transkriptionen eine andere Rahmung und legt durch ebendiesen Vorgang des Rahmens den Blick auf deren Gemachtheit frei.
Fast drei Jahre ist es her, dass Nimmerfall im Mass Observation Archive an der Universität Sussex zu recherchieren begonnen hat und dabei auf eines der ersten Projekte stieß, das Mass Observation – eine disziplinenübergreifende britische Sozialforschungsinitiative, 1937 gegründet von einer kleinen Gruppe von „Künstler-JournalistInnen und Amateur-SozialforscherInnen“ – 1941 in verschiedenen Londoner Stadtteilen durchgeführt hatte. Indem Frauen aus dem Arbeitermilieu mittels Interviews zu ihren Wohn-, Lebensumständen und damit verbundenen Wunschvorstellungen befragt wurden (und auffällig häufig mit „I don’t know“ antworteten), versuchte man, empirische Grundlagen zu schaffen, um den medialen und politischen Diskurs in puncto bedarfsgerechter Stadtplanung und Wohnbaukonzepte mitzugestalten. Nimmerfall kombiniert in ihrer Arbeit Text und Bild: Transkriptionen einer Auswahl dieser Interviews werden – nach Stadtteilen geordnet – aktuellen Fotografien ebenjener Liegenschaften – oder „unbeweglichen Sachgütern“ – gegenübergestellt, in denen die befragten Frauen vor rund 80 Jahren gelebt haben. Während man in den Interviews also beispielsweise von Notting Hill unter dem Eindruck der Bombardierungen von London liest, lassen Nimmerfalls Haus- und Straßenansichten Gentrifizierungseffekte der letzten Jahre deutlich werden. So wie die Künstlerin den Blick auf die Stadtteile entlang einer Zeitachse anlegt, werden auch die Interviewtranskripte als Produkt eines Prozesses lesbar, der vor Änderungen und damit Bedeutungsverschiebungen nicht gefeit ist. Dass alle Kürzungen, Hinzufügungen und Kommentare der Künstlerin und EditorInnen qua Korrekturprogramm sichtbar bleiben, ruft den prekären Status jeder „Endfassung“ ebenso auf den Plan, wie es die Existenz des historischen Originals in Erinnerung bringt. Den finalen Klick auf „Alle Änderungen annehmen“ zu verweigern, nimmt hier nahezu politische Dimension an. Der Text wird als vielstimmige und -schichtige Bewegung nachvollziehbar, die die Publikation als Work-in-Progress, als ein in temporärem Status befindliches Artefakt erkennbar werden lässt. Die Lesenden lesen die Fragen und fragen damit auch selbst. In eine Position des Vermittelns zwischen verschiedenen Orten und Menschen entlang von Raum und Zeit gehievt, entspinnt sich ein imaginärer Dialog mit den interviewten Frauen, situierte Blicke finden sinngemäß Stadt.
Am Ende des 19. Jahrhunderts aus der Journalistensprache in den allgemeinen Wortschatz eingewandert, geht der Begriff „Interview“ auf das französische Verb entrevue zurück – zu Deutsch: „verabredete Zusammenkunft“. Und genau das ist es, was Nimmerfalls neuestes Buchprojekt präzise inszeniert: eine momenthafte, scheinbar unmögliche Begegnung mit anonym bleibenden, aber historisch konkreten Frauen und ihrer Stadt, die den Akt der Vermittlung ausstellt. Die Erzählungen der Perspektivenlosigkeit dieser Frauen hallen eindrücklich nach im Hier und Jetzt des Betrachtens und Lesens – und das gerade dank der editorischen „Umwege“, die sich Nimmerfall produktiv zu eigen gemacht hat, indem sie das Befragen qua Kommentarfunktion befragt.
1 Ulf Wuggenig, Eine Gesellschaft des Interviews, in: Texte zur Kunst 67/2007, S. 61–69.