„Die Theorie darf nicht schlüssiger auftreten als die Gesellschaft, der sie gilt. Sie darf nicht darauf verzichten, noch den Übergang, das Unklare, das Unschlüssige in eine Theorie der Gesellschaft zu integrieren.“1 Dies gibt Dirk Baecker zu bedenken und bringt damit eine Annahme auf den Punkt, die gouvernmentales Kalkül spätestens seit 9/11 prägt: Die Welt, die berechenbar werden sollte und im Zuge dessen wie ein Rechnerprogramm strukturiert worden ist, behauptet heutzutage ein gewisses Maß an Unberechenbarkeit; die Zukunft, die einst berechenbar schien, wird ungewiss. Infolgedessen avanciert das Ungewisse, das manchen lediglich als Störfall oder verstörendes Nebenprodukt einer computable world erscheinen mag2, nach 9/11 zu einem wichtigen Gestaltungselement rechnergestützter Gouvernmentalität. Symptomatisch dafür ist das Management chaotischer Menschenmassen, wie sie in Zeiten von klima- oder kriegsbedingten Katastrophen im zunehmenden Maße auftreten.
Ein Trainingslager für crowd management-Programme, die Ungewissheiten produktiv machen wollen, stellen groß angelegte Proteste dar wie etwa beim G20-Gipfel in Hamburg 2017. Die verlautbarten Zahlen der dort aufgebotenen PolizistInnen stiegen rund um den Gipfel wie bei einem Fieberthermometer: 15.000, 20.000, 23.000, zuletzt wurden gar über 31.000 gemeldet. So illustrierten neueste Zahlen öffentlichkeitswirksam das berechnete Krisenszenario und darüber hinaus den Anspruch der Polizei, die den größten und härtesten Einsatz der jüngsten Gegenwart angekündigt hatte. Dazu wurde am Stadtrand eine Containergefängnissiedlung mit Schnellgericht aufgebaut und das „gesamte deutsche Polizeiequipment“ vor Ort in Stellung gebracht: Drohnen, gepanzerte Wasserwerfer etc. Allen voran Hubschrauber, die, teils ohrenbetäubend laut über der Stadt schwebend, schon Wochen vorher präsent waren und dann auch während des Gipfels die ständige Allgegenwart der militarisierten Polizei repräsentierten.
Der Hubschrauber lässt sich in diesem Kontext als minimaler systemischer Eingriff begreifen, der, vom Kybernetiker James Wilk in den 1990er-Jahren erstmals als „Nudge“ theoretisiert3, einen psychopolitischen Standard setzt, welcher die Umwelt dahingehend modifiziert, dass automatische kognitive Prozesse getriggert werden: Menschliche Verhaltensweisen ändern sich bzw. artikulieren eine Tendenz und werden auf diese Weise nicht zuletzt auch vorhersehbarer und steuerbarer. In dieser Eigenschaft supplementiert der Hubschrauber jene Protokolle in programmierten Umgebungen, die Bühnen schaffen, „auf denen sich mehrere Akteure treffen können und [...] dabei nicht nur die Dimensionen der Bühne [definieren], sondern auch deren Schräglage, so dass die darauf agierenden Akteure in ihrer Bewegung – scheinbar aus eigenem Willen – eher in die eine Richtung als in die andere tendieren.“4
So verstanden, wurden Hubschrauber bei dem Polizeieinsatz während des G20-Gipfels zum zentralen Instrument einer Polizeistrategie der Präemption. Anders als die Strategie der Prävention, die darauf aus ist, Unwillkommenes zu verhindern, anders auch als die Strategie des „predictive policing“, die Verbrechen vorhersagen will, um sie zu verhindern, geht die Strategie der Präemption davon aus, dass Bedrohungen zwar nicht vollständig verhindert werden können, aber doch bis zu einem gewissen Grade berechenbar sind. Um sie berechenbarer zu machen, wartet man nicht erst, bis sich etwas als Bedrohung manifestiert, sondern generiert das Bedrohungsszenario selbst – um die Spielregeln selber bestimmen und das Ganze auf diese Weise beherrschen zu können. Präemption ist also eine Machttechnik, bei der Kontrolle und Repression gewissermaßen aus der Zukunft kommen: Auf der Basis von Maschinenintelligenz berechnete Zukunftsszenarien stecken einen Handlungsrahmen ab, dessen Schräglage auf die Gegenwart wirken soll.
Gewalt aus der Zukunft
Die Strategie der Präemption wurde nach 9/11 in den Berater-Thinktanks rund um Georg W. Bush entwickelt und richtete sich zunächst auf das schier unbegrenzbare Feld des Terrors. Später wurde die Strategie auch bei Naturkatastrophen und Demonstrationen aktiviert, beispielsweise im Rahmen des G20-Gipfels in Toronto 2010 5 oder während des Hurrikans Sandy 2012. Dafür gibt es keine Beweise im klassischen Sinne, aber eine Reihe von Indizien, was auch für den Einsatz während des G20-Gipfels zutrifft: Erstens gab es dort keine Bemühungen, Ausschreitungen zu verhindern, im Gegenteil, Gesetzesmodifikationen und politisch-mediale Stimmungsmache schufen schon im Vorfeld des Gipfels eine Bühne für Eskalation. Dieses produktive Moment der Schräglage im Blick konstatiert die Soziologin Elke Stevens: „Wer jeden Protest kriminalisiert, trägt letztlich zur Eskalation bei.“6 Zweitens gab es keine Anzeichen, die AnwohnerInnen und ihre Stadt vor den Folgen etwaiger Eskalation zu schützen. Wie Polizeiakten zeigen, bezog sich der Schutzauftrag der Polizei lediglich auf die hochrangigen Staatsgäste des Gipfels.7
Angesichts dessen ist Präemption der Öffentlichkeit kaum vermittelbar, dennoch bleiben öffentlichkeitswirksame Effekte nicht aus: Mit dem Gewaltmonopol des Staats konnte eine Bühne geschaffen werden, auf der die Polizei nicht nur crowd management-Verfahren unter teils bürgerkriegsähnlichen Zuständen testen und demonstrieren, sondern auch die Stadt von „feindlichen Elementen“ sowohl symbolisch als auch realiter zurückerobern konnte – ein Echo auf den Einsatz nach dem Hurrikan Katrina im Jahr 2005, der im Zeichen der Losung „taking back the city from insurgents“ stand.8 Die Stadt war damals New Orleans. Die „Aufständischen“ waren AfroamerikanerInnen, in Hamburg hingegen „die linke Szene“.
Nicht zufällig spielen bei dieser Strategie die Logiken der Kybernetik eine zentrale Rolle. Sie beanspruchen, große Systeme auf der Basis von Berechnungen ganzheitlich manageable zu machen. Das Konzept ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer wieder weiterentwickelt worden und erfährt in Zeiten der Digitalisierung eine neue Aktualität. Schließlich werden nun jene Datenmengen generiert, die notwendig sind, um gouvernmentale Managementoptionen im größeren Stil kalkulieren zu können. Bekanntlich werden Daten heute en masse hervorgebracht, gesammelt, gehortet und ausgewertet. Allein die schier unüberschaubaren Menschenmassen, die sich in Hamburg während des G20-Gipfels versammelt hatten, dürften für ein beträchtliches Datenaufkommen gesorgt haben. Trackable devices wie Handys und Digitalkameras gehören heute wie selbstverständlich zur Protestausrüstung.
Kybernetische Steuerungsfantasien sahen sich in Hamburg mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert: Wer an den strategischen Planungen beteiligt war, wusste, dass alle, die in den Tagen des G20-Gipfels auf den Straßen sind, irgendwie beteiligt sein würden. Außenstehende konnte es nicht geben. So würden die Profile in den Protestmassen quasi ununterscheidbar. Wie damit umgehen? Die Polizei forderte die Leute auf den Straßen immer wieder dazu auf, das ununterscheidbare Miteinander aufzuheben (die Aufrufe lauteten entsprechend „die an der Demo Unbeteiligten sollen sich von den Beteiligten lösen“, „die Friedlichen sollen sich von den Unfriedlichen entfernen“ oder „die Vermummten sollen ihre Vermummung abnehmen“). Doch die polizeilichen Handlungen ließen einen übergeordneten Ansatz erkennen. Individuelle Unterscheidbarkeit herzustellen erschien als zweitrangig gegenüber dem Bestreben, die Massen zu fragmentieren: Die polizeilichen Manöver drängten darauf, Gruppenzusammenhänge und solidarisches Miteinander aufzulösen, so dass alle im Für-sich-Sein ununterscheidbar werden. Dabei spielten die allgegenwärtigen Hubschrauber eine wichtige Rolle, gemäß der militärtheoretischen Annahme, dass „whoever controls the air, generally controls the surface“, wie Philip Meilinger konstatiert.9
Die Kontrolle über die Luft bedeutete in Hamburg zweierlei: Erstens erweiterten die Hubschrauber, die von der Industrie gerne als force multiplier angepriesen werden, das Netzwerk aus stationären und mobilen Rechenzentren, indem sie als fliegende Knotenpunkte des urbanen code/space fungierten; und sie ergänzten das Drohnen- und Satellitenraster um bemannte Luftmodule, von denen automatisierte Berechnungen sowie Anweisungen an Bodentruppen ausgehen konnten. Zweitens erfasste der nervenaufreibende Rotorlärm die gesamte Stadt wie ein alles einhüllender Infosmog; er vereinte alle, die sich in ihn hineinbegaben als TeilnehmerInnen an einer „Ausschreitung ohne Narration“, also ohne sinngebenden Zusammenhang, wie bereits beim G8 in Genua zu beobachten war.10 Somit bestätigte sich, was David Correia und Tyler Wall feststellen: „Air power obliterates any useful distinction between suspect and bystander, target and non-target.“11
Bei dieser körperlich und psychisch spürbaren Schräglage entstanden Bedingungen, unter denen die Ununterscheidbarkeit des Miteinanders praktisch generiert wurde. Das zeigte sich auch am Vortag des Gipfels bei der „Welcome to Hell“-Demo. Aufgefordert, sich zu formieren, stand die Demo zunächst mehr als eine Stunde in der Startformation: am vorderen Ende des Demozugs ein enger Straßenkorridor mit hohen Wänden zu beiden Seiten und einem großen Aufgebot an neuesten Wasserwerfern, die die Hafenstraße in angedachter Laufrichtung der Demo blockierten; am hinteren Ende, dem Fischmarkt, wo die Menschenmassen auf engstem Raum zusammengepfercht waren, ein lebensgefährlicher Abgrund an der Elbe. Unter dem Vorwand, dass nicht ausreichend Leute der Aufforderung gefolgt seien, die Vermummung abzulegen, stürmte die Polizei maßlos-martialisch hinten und vorne in die Demoblöcke, worin sich auch RollstuhlfahrerInnen befanden. Unter dem teils widerrechtlichen Einsatz von Riot-Einheiten, CS-Gas, Granatpistolen, Gummimunition, Pfefferspray, Schlagstöcken, Wasserwerfern und Helikoptern wurde wie aus dem Nichts ein schockierender Gewaltexzess entfesselt. Dies versetzte die statische Situation urplötzlich in chaotisch anmutende Bewegungen und ließ sich retrospektiv als Foreshadowing der höchsten Eskalationsstufe lesen, die am darauf folgenden Abend bei der „Widerstandsbekämpfung“ durch das Spezialeinsatzkommandos erreicht wurde.
Aufgrund der Schräglage der Bühne taumelten die Menschenmassen zwischen Ohnmacht und Widerstand, weshalb der Grad der Ununterscheidbarkeit immer wieder variierte. So mögen zwar präemptive Vorstöße „Gewaltbereite“ hervorgebracht haben, doch wurde indessen die Ununterscheidbarkeit des Miteinanders nicht aufgehoben, sondern moduliert. Die fluiden Grenzen zwischen PassantIn, ZuschauerIn und DemonstrantIn wurden immer wieder neu gezogen. Insofern konnte der Eindruck entstehen, dass die Polizei nicht darum bemüht war, frühestmöglich die „G20-Verbrecher“12 zu identifizieren, am besten noch bevor sie eine Straftat begangen haben. Eher schien es darum zu gehen, Bewegungsmuster der Massen zu modellieren. Anders gesagt ging es weniger um die Auflösung der Ununterscheidbarkeit als vielmehr um die Herstellung und Modellierung der Ununterscheidbarkeit zu den Bedingungen der Polizei. Nicht die Profile Einzelner, sondern das Bewegungsprofil einer fluiden Masse stand im Fokus.
Hier offenbarte sich der hohe Preis der Präemption, die aus dem Unberechenbaren etwas Berechenbares und aus dem Unbeherrschbaren etwas Beherrschbares machen will: Man habe Tote in Kauf genommen, sollten später zahlreiche Kommentatoren im Hinblick auf den Polizeieinsatz bei der „Welcome to Hell“-Demo sagen. Und im Hinblick auf die Gesamtbilanz des Gipfels: Man habe die Sicherheit der HamburgerInnen und aller in der Stadt Versammelten aufs Spiel gesetzt – von Privatbesitz und öffentlicher Infrastruktur ganz zu schweigen.
Krieg der Infrastruktur
Die Schräglage dieser Bühne war schon Wochen vorher geschaffen worden. So hatten die Vorbereitungen auf den Gipfel alle in der Stadt unter Generalverdacht gestellt, wie sich John F. Nebel erinnert.13 Dabei wurde die Stadt zur Falle: Subtile, teils kryptische und teils intransparente Modifikationen im Rechtsrahmen, etwa Anpassungen im Demonstrationsrecht, ließen die meisten in Hamburg Versammelten über ihre Rechte im Unklaren und begünstigten ein willkürliches Vorgehen der Polizei. So entstand die kaum wahrnehmbare Schieflage eines öffentlichen Szenarios, dessen bewusste oder großenteils auch unbewusste „Nicht-Hinnahme als [rechtswidriger] Widerstand geahndet“ werden sollte, wie Achim Szepanski und J. Paul Weiler rekapitulieren.14
Das lärmende Schweben der Polizeihubschrauber schuf einen Resonanzraum, der den neuen extralegalen Rechtsraum als allumfassendes environment erscheinen ließ – nicht wirklich konkret und greifbar, aber omnipräsent. Die politischen und psychologischen Konsequenzen dieses Zustands wurden am Nullpunkt des Politischen als Verwirrung spürbar: Wer kann mit wem zusammen ein „Wir“ bilden, sprich ein kollektives, politisches Subjekt? Die Ununterscheidbarkeit des Miteinanders lässt alle möglichen Antworten zu. Doch was, wenn der materiellen Infrastruktur, die Objekte und Subjekte miteinander in Beziehung setzt und somit auch so etwas wie den Sinn des Miteinanders zum Vorschein kommen lassen kann – was, wenn dieser Infrastruktur der Krieg erklärt wird? Attackiert man damit nicht auch den Nullpunkt des Politischen, also jenen Punkt, an dem sich politische Subjektivitäten in Relation zueinander, im Gemeinsamwerden, als solche überhaupt erst herausbilden können? Was passiert, wenn wir Schräglagen ausgesetzt werden, die, im Geiste präemptiver Gouvernmentalität, die Ununterscheidbarkeit des Miteinanders instrumentalisieren, um Massen als fluide und formbar steuern zu können? Leistet derartiges crowd management nicht einer Präemption des Politischen Vorschub?
Krystian Woznicki organisiert gemeinsam mit der Berliner Gazette die Konferenz Ambient Revolts, die politische Handlungsfähigkeit in Zeiten von Autokraten und Künstlicher Intelligenz zur Diskussion stellt; ZK/U – Center for Arts and Urbanistics, Berlin, 7.–10. November 2018; http://ambient-revolts.berlinergazette.de.
[1] Dirk Baecker, 4.0 oder Die Lücke, die der Rechner lässt. Berlin 2018, S. 12.
[2] James Bridle fußt die Problemdefinition seines Buchs auf dieser m. E. falschen Annahme. Siehe James Bridle, New Dark Age. Technology and the End of the Future. London 2018.
[3] James Wilk, Mind, Nature and the Emerging Science of Change: An Introduction to Metamorphology, in: Sonja Smets/Jean-Paul Van Bendegem/Gustaaf C. Cornelis (Hg.), Metadebates on Science. Vub-Press & Kluwer 1999, S. 71–87.
[4] Felix Stalder, Agency. Digitalität und Handlungsfähigkeit, in: Ines Kleesattel/Ruedi Widmer (Hg.), Scripted Culture: Kulturöffentlichkeit und Digitalisierung. Berlin/Zürich 2018, S. 77.
[5] Brian Massumi, Ontopower. War, Powers, and the State of Perception. Durham/London 2015, S. 227.
[6] Elke Stevens, Versammlungsrecht auf abschüssiger Bahn, in: Grundrechte-Report 2018. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Frankfurt am Main 2018, S. 113.
[7] „Die Akte Hamburg. Geheime Dokumente: Warum der Staat seine Bürger alleinließ“, in: Der Spiegel, Nr. 29, 15. Juli 2017.
[8] Stephen Graham, Cities Under Siege. The New Military Urbanism. London 2010, S. 24–26.
[9] Philip Meilinger, Propositions Regarding Air Power, in: AirForce Historical Studies Office. Washington DC 1995, S. 10.
[10] Oliviero Pettenati (Hg.), Die blutigen Tage von Genua – G8-Gipfel, Widerstand und Repression. Hamburg 2011, S. 39ff.
[11] David Correia/Tyler Wall, Police. A Field Guide. London 2018, S. 69–72.
[12] BILD Zeitung, 10. Juli 2017, S. 1.
[13] John F. Nebel/Linus Neumann/Tim Pritlove, LNP225 Dringende Bitte [Podcast], 20. Juli 2017; https://logbuch-netzpolitik.de/lnp225-dringende-bitte.
[14] Achim Szepanski/J. Paul Weiler, Einige Anmerkungen zur strukturellen Staatsfaschisierung, in: Karl-Heinz Dellwo/Achim Szepanski/J. Paul Weiler (Hg.), Riot – Was war da los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion. Hamburg 2018, S. 251.