Graz. Zum 100. Geburtstag des 2002 verstorbenen Künstlers, Autors und Gestalters Vjenceslav Richter arrangierte das Museum für zeitgenössische Kunst in seiner Heimatstadt Zagreb eine umfassende Retrospektive, die danach in abgespeckter Form in der Neuen Galerie Graz gastierte. Richter nahm schon zu Lebzeiten an Trigon-Festivals teil, „als ein Künstler aus den Pionierjahren der internationalen Avantgarde in Graz“, so der Leiter der Galerie Peter Peer. Damals hatte der Künstler seine beeindruckende Pionierzeit allerdings schon überschritten.
Richters coole und kühle sowie humanistische und universalistische Moderne bleibt in ihrer Abstraktion, Transparenz, Genauigkeit und Reinheit bis zum Ende ungebrochen. Mit unternehmerischer Neugier meisterte er die gereifte Moderne, als sie zur Form überlief. Die Retrospektive versammelt Spuren seiner forschungsorientierten Kunst – von Displays, zumeist öffentlichen Gebäuden und 15 Villen, Plastiken, Bühnenbilder, Möbelstücke oder einer eleganten Seifenfabrik bis hin zu Entwürfen für Religionsgebäude und einer Villa für Staatschef Tito .
Richter lagen Ideen, Skizzen und Konzepte näher als das direkte Material. Er arbeitete viel und ließ oft Assistenten oder Arbeitsgruppen die Details ausführen. Seine Künstlergruppe EXAT 51 machte keine Unterschiede zwischen bildender und angewandter Kunst. Das exilierte Bauhaus stand als idealer Pate bereit, was bei den plastischen Displaystrukturen der Ausstellung zum Autoput (Autobahn der Brüderlichkeit und Einheit) 1950 besonders deutlich hervortritt. Richters türenloser Pavillon bei der EXPO 1958 in Brüssel erinnerte so gar nicht an die damals geläufige Ostblockmoderne. Es war „ein einzigartiges Meisterwerk der Moderne, [...] gründlich mit der komplexen Erzählung des jugoslawischen politischen Kurses und der Identität beschäftigt“, heißt es im Katalog. Diverse regionale Marmorsorten am Boden markieren unterschiedliche Abschnitte der Ausstellung. Richters ursprünglicher Entwurf – ein an einem zentralen Mast hängendes Gebäude mit „schwebendem Fundament“ – wurde aus Kostengründen abgelehnt. Der Pavillon musste „geerdet“ werden.
Als privilegierter „freier Künstler“ war er nicht vorrangig dem Wiederaufbau des Landes verpflichtet. Das Archäologiemuseum im syrischen Aleppo war ebenso eine Sonderaufgabe wie ein Modell gebliebenes Museum der Volksrevolution in Sarajevo. Tragischster Fall ist wohl das Ruine gebliebene Museum für die Revolution der jugoslawischen Bevölkerung zwischen Kunstmuseum und dem Palast der Föderation. Im Regierungsgebäude selbst gestaltete Richter eine der sechs für die Bundesländer vorgesehenen Bars, die den zentralen jugoslawischen Salon umschließen und zum ersten Treffen der Blockfreien Staaten 1961 eröffnet wurden.
Schon in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg war Zagreb mit den internationalen Avantgarden verbunden. Daran konnte die Kunstszene in den 1950er- und 1960er Jahren wieder anknüpfen. Man experimentierte mit einer zwischen Ost und West pendelnden Ökonomie und der Politik des Dritten Wegs. Richter war im Zweiten Weltkrieg Partisan, später überzeugter jugoslawischer Sozialist und Anhänger der in den 1950er-Jahren eingeführten Selbstverwaltung (Dezentralisierungen, Abstand zu staatlichen Eingriffen sowie Partizipation auf allen Ebenen). Die bildende Kunst war ihm hierbei ein gesellschaftlicher Faktor der Demokratisierung.
Für eine Ausstellung in Turin entwarf er 1961 ein „Schema der Arbeiterselbstverwaltung“. „Richter transformierte ein Organigramm der Zentralregierung in Belgrad, das die jugoslawische Gesellschaft als ein Großunternehmen behandelte, welches aus einer Reihe ineinandergreifender Ringe bestand, die sich von den Föderationen zu den Republiken, Kommunen und Wohnungsbaugenossenschaften ausbreitet bis hin zu Unternehmen und der Wirtschaft als feinstes Korn der Struktur hin zu einer fotogrammartigen Struktur ineinandergreifender Glasringe, die den BesucherInnen die Möglichkeit bietet, die Beziehung zwischen den Teilen nach eigenem Gutdünken zu reorganisieren, ein Agent, mit dem man interagieren kann“, beschreibt Ivan Rupik im Katalog die „Simulation des Gesamtsystems der Selbstverwaltung“. Sie stand wie eine Fortsetzung des Raummodulators von Moholy-Nagy im Zentrum des von Richter verantworteten jugoslawischen Ausstellungpavillons.
Seine babylonischen Megacity-Projekte Zikkurat für je 10.000 Menschen verfolgte Richter zwischen 1962 und 1964 und wurde nicht müde, in immer neuen Zeichnungen die Details seiner Stadtmaschinen von innen und außen durchzubuchstabieren. Die Veröffentlichung Sinturbanizam begleitete die aus pyramidalen und drehbaren Blöcken bestehende „vierdimensionale Stadt“ der kurzen Wege. Auf den Spitzen befänden sich Versammlungsstätten kommunaler Demokratie, die 6.000 Menschen fassen sollten. Die Millionenstadt von Hunderten miteinander verbundenen babylonischen Türmen bildete eine Megastruktur, die heutzutage nicht mehr nur Euphorie auslöst.
Richter dachte groß: Während er auf einen persönlichen Computer wartete, entwickelte er 1968 einen „manuellen Rechner“ aus 10.000 wie Rechenschieber bewegbaren und miteinander verbundenen Aluminiumstangen. Die „Reliefmeter“ boten sich den BesucherInnen an, diese selbst zu verändern. Diese zwischen Kybernetik und Megastruktur pendelnde Arbeitsserie sollte im Rahmen einer Einladung zur legendären Ausstellung Art and Technology 1969 im kalifonischen LACMA mechanisiert werden, scheiterte aber an den geschätzten Kosten von damals einer Million Dollar.
Die zur Musealisierung und Auratisierung der einzelnen Objekte tendierende Grazer Ausstellung kann Richters Riesenschritten kaum folgen und blendet seine zentralen Überlegungen zur sozialistischen Idee des Selbstmanagements weitgehend aus. Umso reicher ist der Hauptkatalog aus Zagreb gelungen.
Martina Munivrana/Vestna Meštrić (Hg.), Vjenceslav Richter. Rebel with a Vision, Muzei Suvremene Umjetnosti. Zagreb 2017.
Neue Galerie Graz (Hg.), Ein rebellischer Visionär – Vjenceslav Richter. Graz 2018.