New York. Ein dreidimensionales, höchst komplexes Koordinatensystem spannt die letzte Gruppenausstellung des Brooklyn Museum New York auf – Radical Women: Latin American Art, 1960–1985. Kunst aus Lateinamerika ist bereits im Titel zentral gesetzt und wird einerseits durch den Verweis auf die geschlechtsspezifische Perspektive („Radical Women“) und andererseits durch die historische Zeitspanne (1960–1985) ergänzt. Die mehrfache Verschiebung hin zu einer feministischen, dekolonialen Kunstgeschichtsschreibung mag zunächst übermotiviert anmuten, ist jedoch keineswegs zu viel versprochen. Denn die Fülle an künstlerischen Praktiken, die einem/r hier begegnen, sind nicht nur in einem positiven Sinne überfordernd, sie tragen auch das Potenzial, den bisherigen kunsthistorischen Kanon in Bezug auf die Neoavantgarden der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre grundlegend zu verändern.
In einer mehrjährigen Recherche haben die beiden Kuratorinnen Cecilia Fajardo-Hill und Andrea Giunta eine Schau von mehr als 120 Künstlerinnen aus 15 Ländern zusammengestellt, die zuerst in Los Angeles im Hammer Museum gezeigt wurde und nach der Station in New York weiter nach Brasilien wandern wird. In den frühen 1990er-Jahren fanden große Sammelausstellungen lateinamerikanischer Kunst statt, jedoch immer nur mit einer geringen Anzahl von Künstlerinnen. Erst nach 2000 finden sich vereinzelte Positionen auch in den großen internationalen feministischen Ausstellungen. Die Kuratorinnen fragen in Anbetracht dieser offensichtlichen repräsentationspolitischen Problematik, warum es so lange gedauert hat, dass bestimmte Positionen in der öffentlichen Wahrnehmung auftauchen bzw. nur wenige (wie Ana Mendieta, Lygia Clark oder Lygia Pape) internationale Annerkennung finden konnten. Der zeitliche Rahmen der Ausstellung will die große Bandbreite an konzeptuellen und experimentellen Formen betonen und auf die konstruierte Abwesenheit der Künstlerinnen hinweisen. Radical Women ist somit nicht eine biologistische Setzung der Kuratorinnen, sondern problematisiert notwendigerweise eine sozial hergestellte Differenz, die dem bisherigen Ausschluss gedient hat und unabhängig von der individuellen Identifikation der beteiligten Künstlerinnen stattfand.
Radical Women fasst sehr unterschiedliche nationale Geschichten zusammen. Die Timeline der historischen Ereignisse in der Ausstellung gibt zwar Anhaltspunkte, kann jedoch aufgrund der Fülle an politischer Komplexität nur redundant bleiben. Es handelt sich oft um Militärdiktaturen, die mit den US-Interventionen in Lateinamerika seit den 1950er-Jahren Hand in Hand gehen bzw. durch diese eingesetzt wurden. Andrea Giunta schreibt im Ausstellungskatalog, dass die Identifikation mit der politischen Szene in Lateinamerika maßgeblich von revolutionären Bestrebungen gegen die politischen Systeme geprägt war. In diesem Zusammenhang ist auch die Befragung des Körpers und seiner Repräsentation zu verstehen. Die Künstlerinnen agieren immer im Widerstand zu den regionalen Diktaturen und deren Eingriffen in Subjektivitäten. Viele der gezeigten Künstlerinnen wurden inhaftiert bzw. gefoltert. Die Methoden der körperlichen und psychischen Gewalt, die weibliche Körper in ganz spezifischer Weise betreffen (Vergewaltigung, Geburten in Gefängnissen, Kindesraub etc.), wurden daher von vielen der gezeigten Positionen behandelt. In Mexiko ist dafür Polvo de Gallina Negra (Schwarze Henne Pulver), gegründet 1983 von Maris Bustamante, Herminia Dosal und Monica Mayer, beispielgebend. Das Kollektiv bringt durch seine interventionistischen Performances, Medienauftritte und Manifeste etwas dadaistische Schwerelosigkeit in die Politiken der Gewalt. Receta contra el mal de ojo (Rezept gegen den bösen Blick, 1984–85) oder Receta para causarle el mal de ojo a los violadores o el respeto al derecho del cuerpo ajeno es la paz (Rezept, um den bösen Blick an Vergewaltiger zu richten, oder Friede ist das Respektieren der Körperrechte der anderen, 1983–84) sind die bekanntesten ihrer Performances. Das Pulver der Schwarzen Henne soll gegen den bösen patriarchalen Blick beschützen, der Frauen zum Verschwinden bringt. Die Anspielung bezieht sich auf die Frauenmorde und Vergewaltigungen in Mexiko. Die Aktionen der Polvo de Gallina Negra lösen sehr viele Gegenangriffe aus, unter anderem auch weil das Kollektiv mit der Kommunistischen Partei zusammenarbeitet und Feminismus nur im Zusammenhang mit linker Politik versteht. Sexuelle Gewalt, staatliche Gewalt und die Regulierung und Normalisierung von Sexualität stehen für die Künstlerinnen in einem engen Zusammenhang und werden auch in dieser Verbindung bloßgestellt. Monica Mayers Lo normal (Quiero hacer el amor) (Das Normale (Ich will Liebe machen), 1978) zeigt Selbstporträts der Künstlerin in lachenden, ratlosen, manchmal staunenden Mimiken. Diagrammatisch ist der wiederkehrende Satz immer in einer neuen Version zu Ende geführt: „I want to make love with my father / with a woman / with an animal“ usw. Zusammen mit Paz Errázuriz‘ Porträts von Transleuten in Chile La manzana de Adan (Adams Apfel, 1982–90), Patsi Valdez‘ Selbstinszenierungen Portrait of Patssi (1975) oder Yolanda Andrades Dokumentationen des Gay Pride March Marcha gay (1984) in Mexiko zeigen die Arbeiten das weite Spektrum an sexualpolitischen Bewegungen.
Viele Installationen in der Ausstellung stellen Bezüge zwischen Gewalt, Objekten und Körpern her, so wie Feliza Bursztyns La histerica (Die Hysterische, 1968), eine zitternde Stahlskulptur, oder Carmela Gross‘ überdimensionaler liegender Stoffsack Presunto (1968) – „Schinken“ steht umgangssprachlich für „Leiche“. Regina Silveras A arte de desenhar (Die Kunst des Zeichnens, 1980) zeigt eine Verbindung zwischen den Gesten des Zeichnens und der Handhabung einer Pistole, beides erscheint als verkörperte Technik, die erst sozial erlernt werden muss. Gleichzeitig ist die Zeichensetzung hier nur im buchstäblichen Schatten einer Waffe möglich. Inwiefern gelingt also die (künstlerische) Artikulation in einem politischen Gewaltregime, der Diktatur in Brasilien, die von 1964–85 gedauert hat? Die gleiche Fragestellung taucht auch in Catalina Parras Diario de vida (Tagebuch des Lebens, 1977) auf. Als eine systematische Verletzung von Menschenrechten mit illegalen Inhaftierungen und einer Einschränkung der freien Meinungsäußerung in Chile beginnt, verschweißt Parra einen Stapel der Zeitung El Mercurio in Plexiglas. Das fragile Zeitungspapier ist mit grober Schnur verknebelt und das Plexiglas mit vier schweren Flügelmuttern angebracht.
Viele der Künstlerinnen, die in Radical Women gezeigt werden, haben im Exil gelebt und eine intensive Beziehung zu Lateinamerika aufrechterhalten. Auch Sylvia Palacios Whitman, deren Performances von Babette Mangolt fotografiert wurden und in der Ausstellung zu sehen sind, lebte zuerst in Chile und dann in New York. Sie schuf überdimensionale Objekte, die von ihr selbst und anderen Performerinnen, meistens Laien, in Bewegung gesetzt wurden. Whitman lässt ein gigantisches Briefkuvert durch die Gegend tragen oder benutzt in der Performance Passing through (1977) Papiertreppen als Körpererweiterungen. Ihre Arbeit ist die offensichtlichste Verbindung zwischen der New Yorker Performanceszene und Lateinamerika. Aber auch Marta Araujo löst in ihren Kostümen Körper, Objekt und Umgebung auf – Habito/Habitante (1985) spiegelt sich auch im Wortspiel zwischen Gewohnheit und Wohnen wieder.
Herausragend ist Radical Women in der Behandlung von Kolonialismus unter geschlechterkritischen Aspekten. Was die in der Ausstellung vertretenen Länder gemeinsam haben, ist eine koloniale Geschichte, insofern ist der umstrittene Begriff „Latin America“ auch bewusst eingesetzt, um darauf hinzuweisen, dass es nicht nur ein „Amerika“ gibt, das mit den USA gleichgesetzt wird, sondern eine Geschichte der politischen und sozialen Hierarchie. Marisols Self Portrait (1961–62) bewegt sich in diesem Spannungsfeld. Die Holzskulptur kombiniert flache Holzelemente mit geschnitzten Beinen und Köpfen, die nebeneinander aufgereiht sind und teilweise bemalt wurden. Marisol, eine Künstlerin, die in den 1960er-Jahren so bekannt war wie Andy Warhol, geriet in Vergessenheit, möglicherweise gerade, weil ihre Skulpturen Anleihen aus vorkolonialer Plastik aus Venezuela verarbeiten, jedoch nicht um der modernistischen Verdinglichung willen, sondern als subjektive, involvierte Träger von Botschaften. Mehrere Selbstbilder bestimmen die Ästhetik der hier versammelten Künstlerinnen, nicht die objektifizierte Sicht auf ein koloniales Außen. Dass seit den späten 1970er-Jahren die Kolonisierung Lateinamerikas ein großes Thema in der künstlerischen Praxis ist, zeigen auch die Arbeiten von Anna Bella Geiger, wie zum Beispiel Brasil nativa, Brasil alienigena (Gebürtiges Brasilien, fremdes Brasilien, 1977). Die Künstlerin stellt hier exotisierende Postkarten von Indigenen ihren eigenen Nachstellungen derselben Posen und Gesten gegenüber. In der Fotoserie Desaparece una cultura (Das Verschwinden einer Kultur, 1980–84) zeigt Sara Modiano das langsame Abtragen von Sandpyramiden an einem Strand in Kolumbien, die sie zuvor als Modelle in vorkolonialer Bauweise errichtet hatte. Claudia Andujars Marcados (Markiert, 1981–83) ist eine bis heute andauernde Dokumentation der indigenen Yanomami aus dem Amazonas.
KünstlerIn ist hier nicht die Profession, der gegenüber die AmateurInnen stehen. Die Macherinnen der Arbeiten sind meistens auch Arbeiterinnen, Mütter, Hausangestelle, Akademikerinnen, Revolutionärinnen etc. Das heißt, sie übernehmen bestimmte gesellschaftliche Aufgaben, die ihnen eigentlich keinen Raum für künstlerisches Schaffen zugestehen. Dass die Kunst trotzdem entsteht, macht diese Artikulationen besonders, die sichtbar nicht an einem sich abgrenzenden Kunstprodukt interessiert sind, sondern aus Selbstermächtigung und einem eigenständigen Ergreifen der Produktionsmittel entstehen. Das mag aus einer gegenwärtigen Sicht, in der künstlerische Praktiken vor allem an Professionalisierung (und damit zumeist an Kommodifizierung) ausgerichtet sind (und zwar nicht nur da, wo der Markt beheimatet ist, sondern auch in den globalen Regionen, in denen der Kunstmarkt schlichtweg nicht vorhanden ist), faszinierend sein, ist aber auch gleichzeitig unverständlich. Die Kuratorinnen berichten mitunter auch von Diskreditierungen der künstlerischen Positionen durch Annahmen des Amateurhaften, mit denen sie konfrontiert waren. Die Arbeiten wurden scheinbar oft als unprofessionell oder für den Kunstbetrieb unzureichend eingestuft. Das ist nicht zuletzt ein wiederkehrendes geschlechtsspezifisches Problem, weil das Amateurhafte von patriarchaler, konservativer Politik immer schon mit dem Hinweis auf Unprofessionalität abgewertet wurde. Die unprofessionelle Kunst in den weiblich konnotierten Raum des Privaten zu verlagern, ist also keineswegs ein Problem der Vergangenheit. Das macht diese Ausstellung umso notwendiger.
Es ist eine große Leistung zu zeigen, dass nicht nur die Stimmen der einzelnen Künstlerinnen oft verloren gegangen sind, sondern auch gerade jene Verbindungen, die emanzipatorische Effekte gegen ausschließende, nationalstaatliche (und damit migrationsfeindliche) Politiken hergestellt und weiterentwickelt hätten. Gerade bei den unbekannten frühen Arbeiten vieler Künstlerinnen, die sich später durchgesetzt haben, lässt sich diese Frage stellen. Die Kombinationen aus minimalistischen und surrealen Objekten und Choreografien haben ein einzigartiges Spektrum an künstlerischen Formen geschaffen, aus dem heraus die Geschichte der 1960er- und 1970er-Jahre-Neoavantgarde, die bisher an vereinzelte Namen aus den USA und Westeuropa geknüpft wurde, tatsächlich anders geschrieben werden könnte – nämlich mit viel stärkeren kapitalismuskritischen Stimmen. Wie hätten sich die analytischen, feministischen Tendenzen entwickelt, wenn nicht eine nun schon lang anhaltende Kommodifizierung der neoavangardistischen Praktiken das vorherrschende Narrativ dieser Zeit geworden wäre? Radical Women eröffnet die Chance, einer bisher US-zentrierten bzw. europäisch situierten künstlerischen Praxis ein Pendant entgegenzusetzen, nicht um die Lücke des anderen, fehlenden Feminismus zu schließen, sondern eher um entschieden darauf hinzuweisen, dass die etablierten (westlichen) Praktiken immer schon nur ein Teil eines Ganzen waren. Aus dieser Perspektive ließe sich der Zeitgeist der Minimal Art, Conceptual Art etc. nämlich ebenso gut aus einer lateinamerikanischen, linken feministischen Position artikulieren.
Die Ausstellung Radical Women: Latin American Art, 1960–1985 läuft in der Pinacotheca in São Paulo von 18. August bis 19. November 2018.