London. Selten hat ein künstlerisches Werk derart unverhohlen sich selbst thematisiert wie jenes von Julie Becker. Und selten war eine solche Selbstreflexion nüchtern und gleichzeitig so assoziativ, dissoziativ, halluzinatorisch. In dieser – wie in vielerlei Hinsicht – war die Personale der 2016 verstorbenen amerikanischen Künstlerin, die das Institute of Contemporary Arts in London diesen Sommer zeigte, eine verblüffende und fantastische Schau. Ihr Titel, I must create a Master Piece to pay the Rent, ist einer kleinformatigen Papierarbeit entnommen. Darauf steht der Satz mit Bleistift geschrieben, als handle es sich um eine knifflige Hausaufgabe, umrahmt von geschwungenen Zierlinien und skizzierten Bildsymbolen – da sind ein Schlüssel, ein Herz, ein Handspiegel, eine brennende Zigarette, eine Art Räderwerk (oder Unruh einer Uhr); darunter klebt ein Bündel grüner Dollarscheine in Miniaturgröße. Die platzsparende Bricolage verdichtet indes eine schwerwiegende Selbst- als Weltdiagnose: die fatale Beziehung zwischen Kreativität, Ruhm, Geld und (Über-)Leben, wie sie Julie Beckers umspannendes Thema war. Ein Pfund kostet der Eintritt in das ICA – und damit in Beckers anker- wie zügellosen Kosmos.
Julie Beckers Arbeit ist im emphatischen Sinn in Los Angeles angesiedelt, wo die Künstlerin 1972 geboren wurde und bis zu ihrem frühen Tod lebte. Während ihres Studiums am California Institute of the Arts Mitte der Neunzigerjahre avancierte sie bald zum „enfant-terrible step child of Los Angeles neoconceptual art“, wie die Autorin Chris Kraus einmal schrieb1. Kraus, eine Freundin und Weggefährtin Beckers, die deren Arbeit von Anbeginn essayistisch und kritisch begleitete, ist Teil eines Kreises von KollegInnen und FörderInnen, die Beckers posthume Retrospektive initiierten. Kuratiert von Richard Birkett und Stefan Kalmár zeigte das Londoner ICA auf zwei Etagen einen hochkomplexen Werkkörper aus Zeichnungen, Collagen, Foto- und Filmarbeiten, die begehbare Mixed-Media-Installation Researchers, Residents, A Place to Rest (1993–96) sowie das unvollendete (Selbstrealisierungs-)Projekt Whole (1999–2016).
Researchers, Residents, A Place to Rest erstreckt sich im Erdgeschoss über mehrere eingezogene Räume, deren hybrider Status zwischen Filmset, Vorführraum und Readymade-Behausung changiert. Im ersten Raum hängt hinter einem dunklen Schreibtisch mit dem Schild „REAL ESTATE AGENT“ eine Zeichnung zweier Grundrisspläne. Darauf ist ein Zimmer als „The Intuitive Approach“ eingezeichnet, ein anderes gegenüber als „The Objective Attempt“. Die Pläne sind in einer angrenzenden Zone in zwei lang gezogenen Architekturmodellen umgesetzt. Man muss sich zu ihnen hinabbeugen, um in lauter puppenhaushafte Wohnungen zu blicken – detailgenau „möbliert“ bis hin zur aufgeschlagenen Zeitung, für die eine ebenso mikroskopisch kleine Leselupe bereitliegt. Unheimlich wirken diese Einheiten: keine Spur darin von den titelgebenden BewohnerInnen. Hinter einer Stellwand verbirgt sich ein dritter Raum vollgeräumt mit Materialien, die die vorgelagerten Interieurs noch einmal anspielungsreich aufgreifen. Als BetrachterIn wird man intuitiv zum „Researcher“ dieser Szene, während sich unweigerlich die Frage stellt, ob nicht man selbst gerade Gegenstand einer übergeordneten Recherche ist. Diese instabile Kippbildperspektive lässt indes weitere Metaebenen sowie mögliche (Mit-)BewohnerInnen hervortreten: Danny Torrance etwa, den hellseherisch begabten Jungen aus Stephen Kings The Shining (1977), interimistischen Bewohner des Overlook Hotel, dessen fingierte Notizbücher hier auf Tischen ausgebreitet liegen. Aus einer Ecke meldet sich die – real existierende, allerdings per Video zugeschaltete – Hollywoodwahrsagerin Voxx zu Wort: „I can’t make sense of any of this“ (Conversations with Voxx, 1995).
In einem Raum im Obergeschoss des ICA läuft Victor Flemings The Wizard of Oz (1939) in einer von Pink Floyd vertonten Alternativfassung als Homemovie-Set-up (samt Fernbedienung) inszeniert. Die „karmische“ Übereinstimmung zwischen dem Film und einem synchron dazu abgespielten Pink-Floyd-Album ist offenbar ein unter KifferInnen verbreiteter Mythos. Hier ist diese „Stoner-Version“ dank Julie Becker in voller Länge zu sehen, komplettiert durch ein alternatives Skript auf A4-Blättern mit Anmerkungen der Künstlerin. Wenn Judy Garland alias Dorothy zum „Ch-ching!“ im Song „Money“ aus dem grauen Alltag in die Technicolor-Welt der Munchkins hinaustritt, setzt Becker hinzu: „A better future (supposedly) for Dorothy and the possibility of progress?“ (Suburban Legend, 1999). Julie Beckers Duktus ist der einer fantastischen Geschichtenerzählerin, und zweifellos ist die Großstadtlegende ihre liebste Form: Sie handelt stets von einer, die auszog, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten konnte.
Am Ende wurde die kausale Engführung von Werk und Miete ganz unmittelbar zur Triebfeder der Künstlerin, als diese 1999 in ein Ladenlokal im Stadtteil Echo Park zog. Eigentümerin der Liegenschaft war die California Federal Bank, die ihr Mietfreiheit für das Souterrain-Apartment in Aussicht stellte, wenn sie dieses im Gegenzug entrümpelte. Als sie unter den Habseligkeiten ihres verstorbenen Vormieters eine große Anzahl von Glasmalereien fand, begann sie hier – unterirdisch – ihr Studio einzurichten. Von hier aus überblickte und beobachtete sie das CalFed Bank Building gleich vis-à-vis, die Turbogentrifizierung rundherum, die Zirkulation von Polizeihubschraubern über der Stadt und von Träumen – deren Verschleiß durch die „Industry“; schließlich sich selbst mittendrin in diesem prekären Gefüge. Dabei entwickelte sie die Arbeit Whole als Konvolut von Zeichnungen, Filmskizzen, Fotos und gefundenen Materialien, die sie aus LA exkavierte und zu „moving images“ verarbeitete. Diese berühren und destabilisieren: „I hope my work will move people – from one place to another!“2. Verblüffend, dass dieses exquisite Werk erst posthum vollends hier angekommen ist.
1 Chris Kraus, „Falling Into the Whole: Julie Becker“, in: dies.: Video Green. Los Angeles Art and the Triumph of Nothingness. South Pasadena 2004, S. 213.
2 Julie Becker zitiert in Richard Birketts Einleitung im ICA Exhibition Guide, London 2018, S. 2.