Palermo. Die zwölfte Ausgabe der wandernden europäischen Biennale wurde vom Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, als großartige Möglichkeit begrüßt, der Komplexität der Stadt Ausdruck zu verleihen, die seit jeher Ort ständiger Migrationen und Hybridisierungen war. Zunächst der griechischen, dann der arabischen und normannischen, heute der nordafrikanischen, jener aus dem Mittleren Osten und aus Südostasien.
Aufgrund dieser spezifischen Geografie und Geschichte war die Stadt selbst auch federführend in der urbanistischen Recherche des Kuratorenteams (Bregtje van der Haak, Andrés Jaque, Ippolito Pestellini Laparelli und Mirjam Varadinis) rund um Hedwig Fijen, der Direktorin der Manifesta in Rotterdam, involviert.
An deren inhaltliche Vorarbeiten, die in der Publikation Palermo Atlas zusammenfließen, schließen vor Ort zwei Referenzmodelle an. Das Erste ist lokaler Natur und nimmt Anregung bei Francesco Lojaconos Veduta di Palermo (Ansicht von Palermo) von 1875, in der keines der dargestellten Naturelemente autochthon ist; das Zweite ist globaler: Es ist die 1997 vom Botaniker Gilles Clément vorgenommene Definition der Welt als „planetarischer Garten“. Davon leitet sich der Titel Der planetarische Garten. Koexistenz kultivieren ab, dessen narrative Abfolge über 50 Installationen umfasst, die anhand dreier thematischer Linien über die Stadt verstreut sind: Garden of Flows, inspiriert vom Werk Lojaconos und vom Konzept des Planetarischen Gartens; unter Out of Control Room beschäftigt man sich damit, wie die Kontroll- und Machtnetze der medialen Ära greifbar gemacht werden können, und City on Stage schließlich ist Palermo gewidmet, den mündlichen und ephemeren Überlieferungen, die die Stadt so einzigartig machen.
Die drei Sektionen artikulieren sich an etwa 20 ungewöhnlichen Standorten: Zu den wichtigsten gehört das Teatro Garibaldi, das Herz der Veranstaltung, das sowohl Hauptquartier als auch Austragungsort des Veranstaltungsprogramms ist, und etwa im Rahmen der Sektion City on Stage Schauplatz einiger der interessantesten Interventionen war. Unter anderem vom Projekt von Invernomuto rund um das Thema Black Mediterranean. Ein Konzept, das Alessandro Di Maio, Professorin für Englische Literatur an der Universität in Palermo, von Paul Gilroy adaptierte. Anstelle einer fixen Installation umfasste das Projekt eine Online-Plattform sowie Live-Events und Lectures, die um die ehemalige Offenheit und den mediterranen Austausch gegenüber der aktuellen Abschottung des Meeres kreisten.
Aus der Sektion Garden of Flows indes ist die Serie von Interventionen What Is Above Is Below des Londoner Kollektivs Cooking Sections zu nennen, die auf das Wasserkanalisierungssystem und auf die Terrassenförmigkeit der sizilianischen Landschaft verweisen.
Auf das Thema des Baums als Erinnerungsschrein spielt Wishing Trees von Uriel Orlow im Palazzo Butera an und anschließend an den Zitrusgarten – dem wahren Schatz Siziliens – sind noch drei weitere Arbeiten zu sehen: das Ambiental Notte di San Lorenzo und der Film Luce von Renato Leotta sowie Theatre of the Sun, eine Installation des Kollektivs Fallen Fruit, zusammengesetzt aus Tapeten und aus der Public Fruit Map von Palermo, die alle Obstbäume der Stadt verzeichnet.
Die stärkste Sektion der Ausstellung ist sicher Out of Control Room. Versammelt wurden vor allem Videos, die alle eine starke emotionale Wirkung entfalten. John Gerrards Videosimulation über das fürchterliche Ereignis, das im Sommer 2015 auf der österreichischen Autobahn bei Parndorf stattgefunden hat. Ein Lkw-Fahrer hatte einen Wagen mit 71 Flüchtlingen, die alle erstickt sind, dort einfach abgestellt; oder auch die Videoinstallation Liquid Violence des Londoner Kollektivs Forensic Oceanography. Die flüssige Gewalt, auf die sie anspielen, ist jene des Mittelmeers und resultiert nicht nur, was offensichtlich ist, aus der illegalen Überquerung auf unzureichenden Gefährten, sondern mehr noch aus der bedauernswerten Entscheidung Italiens und der Europäischen Union, die Hilfskräfte zu beschränken. Der Videoinstallation gelingt es, die Aufmerksamkeit über die ganze Länge einzufangen, indem sie nicht so sehr auf die Hilfsversuche fokussiert, sondern vielmehr auf jene Teile, die eine Ästhetik verwenden, die wir weniger gewohnt sind, und zwar jene des Radars, der Grafiken, der Statistiken, die Daten liefern, die wir mit den normalen medialen Informationsmitteln nicht mehr sammeln können.
Dasselbe Meer sieht man dann in natura durch die Fenster des Palazzo im anschließenden Raum, wo die Arbeit von Kader Attia über den postkolonialen Körper gezeigt wird. Sie handelt vom selben Meer, und das unsichtbare Netz von Macht und Kontrolle wird sofort spürbar.
Stark emotional affiziert wird man auch vor dem Werk von Cristina Lucas im Casa del Mutilato (Haus des Versehrten), wo die dreifache Videoprojektion Unending Light die Auswirkungen von Luftangriffen auf die Zivilbevölkerung sichtbar und spürbar macht, auch hier eher durch das „mapping“, die Aufbereitung von Daten und den Klangteppich als, paradoxerweise, durch die „realen“ Bilder von zerstörten Ländern und versehrten Menschen.
Vom Meer bis in den Himmel reichen die Auswüchse von Intoleranz und Vernachlässigung. Doch in Palermo braucht man nur durch die Straßen zu schlendern, um sich darüber klar zu werden, wie eine mögliche Alternative dazu aussehen könnte. Eine Alternative, für die die Stadt ein Modell darstellt, durch die Anerkennung der internationalen Mobilität als unveränderliches menschliches Recht, enthalten in der Charta von Palermo, und durch die Anwendung des Geburtsortsprinzips, für das ethnische Vermischung Bereicherung und Wachstum darstellt.
Übersetzt von Nicole Streitler-Kastberger