Heft 4/2018 - #Fortschritt
Fortschritt ist mehr als ein nur überdeterminierter Begriff. Die Idee des Fortschritts ist relativ jung. Viele Jahrhunderte glaubte man, der Istzustand sei der beste und es gäbe keine Entwicklung. Der Begriff des Fortschritts entwickelte sich erst im 18. Jahrhundert als säkulare Teleologie. Er fußte auf der Überzeugung, man könne auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnis die Welt verbessern; die Welt werde notwendigerweise eine bessere werden. Diese optimistische Vorstellung steht heute unter massivem Beschuss. Angesicht von erfolgreicher (neo-)rassistischer Gerechtigkeitspolitik, mit der die Rechten zunehmend auf dem Vormarsch sind, bleiben die Linken oft kontur- und ratlos. Ein Gespräch mit Oxana Timofeeva und Dmitry Vilensky von der Moskauer Künstlergruppe Chto Delat versucht, Alternativen aufzeigen.
Pascal Jurt: Im August haben Sie mit dem Kollektiv Chto Delat an der Summer School in der Vierten Welt in Berlin ein Experiment in performativer Pädagogik präsentiert. Warum haben Sie sich dabei auf Malewitschs legendäres Zitat „Go and stop progress“ bezogen?
Dmitry Vilensky: Die Schule konzentrierte sich darauf, die Idee des Fortschritts infrage zu stellen. Wir dachten, dass dieses provokante Zitat uns helfen würde, mithilfe verschiedener Ideen und Praktiken (westlichen und nicht westlichen) den Fortschrittsbegriff zu hinterfragen.
Oxana Timofeeva: Das Zitat ist nicht so simpel, wie es sich anhören mag. Die Frage, die sich stellt, ist folgende: Wohin, in welche Richtung muss man gehen, um den Fortschritt zu stoppen? Wie kann man ihn stoppen? Warum sollte man ihn überhaupt stoppen? Wie Walter Benjamin in seinem berühmten Essay über den Begriff der Geschichte geschrieben hat, ist Fortschritt der Name des Sturms, der den Engel der Geschichte aus dem Paradies bläst. Was der Engel unter dem Namen des Fortschritts angehäuft sieht, sind Trümmer und Katastrophen. Er möchte anhalten und heilen, was in dieser Bewegung zerschlagen wurde, aber das scheint nicht möglich zu sein.
Jurt: Ist der Begriff des Fortschritts, der so lange die Narrative von Modernisierung und sozialem Ausgleich bestimmt hat, heute noch eine maßgebliche Kategorie? Sind im kulturellen Feld vielleicht noch eher Momente des Progressiven bzw. tragfähigere Ansätze zur Überwindung ungerechter, nicht egalitärer Verhältnisse zu finden?
Vilensky: Wir müssen zunächst herausfinden, was wir unter Fortschritt verstehen. Natürlich gibt es eine offensichtliche und einfache Fortschrittskritik, eine Kritik am Wirtschaftswachstum und an der Erhöhung der menschlichen Fähigkeiten zur Kontrolle und Ausbeutung aller Arten von (menschlichen und technologischen) Ressourcen. Aber es gibt noch viel ausgefeiltere Ansätze, die unter der Idee einer Suche nach nicht entfremdeten Lebensformen, die Menschen glücklich machen und in denen sie in Harmonie mit sich selbst und der Umwelt leben, subsumiert werden können. Und genau darum geht es in der Kultur.
Timofeeva: Offensichtlich wollen wir immer noch fortschrittlich und nicht reaktionär sein. Fortschritt ist ein zweifacher, besserer mannigfaltiger Begriff. Auf der einen Seite haben wir den Fortschritt der kapitalistischen Technologien, der manchmal als eine ziemlich schnelle Entwicklung mit katastrophalen Folgen erscheint. Technologische Entwicklungen, die der Wertproduktion untergeordnet sind, sind paradox: Was wir von Technologien erwarten, ist wachsende Freiheit, aber was wir stattdessen bekommen, ist ein erhöhtes Level der Versklavung und der (Selbst-)Entfremdung. Wie Byung-Chul Han in einem seiner Essays ausführt, sind unsere Gadgets unsere persönlichen mobilen Arbeitsplätze, die uns ständig – sogar noch im Bett – begleiten. Sie machen uns allzeit verfügbar, stets bereit zum Produzieren, um gleichsam alles erreichen zu können, was erreichbar ist. Um die Überlebensbedingungen unserer Spezies global zu perfektionieren, zerstören wir nach und nach den Planeten und erobern gleichzeitig den kosmischen Raum, um vielleicht irgendwann dorthin zu entfliehen. Das ist der kapitalistische Fortschritt. Das beste Bild davon ist eine Müllkippe, Berge von Müll, tote Wale und Plastik im Ozean. Aber heißt das umgekehrt, dass wir zurück zu Mutter Natur gehen sollten, zurück zur vorindustriellen Produktionsweise?
Jurt: Was meinen Sie damit?
Timofeeva: In den letzten Jahrzehnten sind solche konservativen Stimmungen auch unter Linken populär geworden. Aber wir alle wissen natürlich, dass die Natur in solchen Narrativen nur Gegenstand von Marktspekulationen ist: Ein umweltfreundliches Leben ist ein neuer Luxus für Erste-Welt-BewohnerInnen oder die herrschenden Klassen. Dies ist definitiv nicht das, worauf wir hinauswollen.
Auf der anderen Seite, und das ist der zweite wichtige Aspekt, glauben wir, dass andere Technologien und andere Fortschrittsbegriffe möglich sind. Das Problem mit technologischem Fortschritt ist nicht, dass er schlecht ist, sondern dass er schiefläuft. Man muss ihn stoppen, um seine Richtung zu ändern, um ihn von der Last der Notwendigkeit der Wertproduktion zu befreien. Es gibt versteckte, nicht realisierte Potenziale in der Geschichte. Wir können sie nur in einer utopischen Perspektive erfassen, und in dieser Hinsicht hängt vieles davon ab, wie weit die KulturarbeiterInnen in ihren Experimenten gehen können.
Jurt: Soll man also den Fortschrittsideologien vertrauen, die diesen vor allem im technologischen Bereich ansiedeln, womöglich mit dem Hintergedanken, dass die gesellschaftliche Mechanik dem technisch erreichten Stand der Dinge schon irgendwie folgen wird?
Timofeeva: In gewisser Weise ja. Man muss wie gesagt unterscheiden zwischen real existierenden kapitalistischen Technologien, die vom Kapital eingenommen werden, und utopischen, nicht kapitalistischen Technologien – sagen wir: kommunistischen Technologien. Unter kommunistischen Technologien verstehe ich etwas, was der große Schriftsteller Andrei Platonow bereits in den frühen Sowjetjahren formuliert hat: Die Technologie ist dazu da, die Natur „freundlicher zu machen“, weil die Natur weder großartig noch reich ist, sondern sich widersetzt. Das Ziel der kommunistischen Technologie ist nicht, die Natur zu konsumieren, sondern die Menschheit mit ihr zu verbinden, aber nicht einfach nur in dem Sinn, in dem die Kommunisten mithilfe von Technologie das Wesen der Natur verändern wollten. Offensichtlich war das keine gute Idee, und die naiven Versuche der Sowjets, Flüsse etc. umzukehren, führten zu ökologischen Katastrophen.
Jurt: Woran lag dieser Irrglaube?
Timofeeva: Das passierte, weil die Idee von Fortschritt und Technologie immer noch „allzu menschlich“ bzw. zu anthropozentrisch war. Dies zu ändern bedeutet nicht, die Natur gewaltsam zu beherrschen, sondern Möglichkeiten zu schaffen, um die Natur zu verändern. Denken Sie nur an die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Worts téchne – Handwerk oder Kunst. Der Kommunismus sollte nicht an etwas Natürliches appellieren (das machen Faschisten, wenn sie dazu einladen, der grausamen natürlichen Ordnung von Gewalt und Herrschaft zu folgen), sondern dazu, dem Künstlichen, das heißt dem Neuen, Erfundenen, Produzierten – oder besser gesagt: dem kooperativ Produzierten – zu folgen. Kommunistische Technologien sollten zu dieser Bedeutung zurückkehren und den Geist der Erfindung, der der Spezies immanent ist, hochhalten. Aber Technologien werden sich nicht von selber in diese Richtung bewegen; sie haben keine Instanzen der Selbstbestimmung. Die einzige Möglichkeit, dass Technologien zu einem sozialen Wandel beitragen können, ist meines Erachtens so etwas wie die Rebellion des Roboters: ein Effekt von Maschinen, die Bewusstsein erlangen, der sie in den emanzipatorischen Kampf treibt. Heutzutage, wo eine neue Sklaverei dieser nicht menschlichen Organisationen entsteht, erscheint eine solche Perspektive nicht unrealistisch. Andernfalls können Technologien uns nicht automatisch in eine bessere Zukunft tragen.
Jurt: Der linke Akzelerationismus betont die Verbindung zwischen Emanzipation und technischem Fortschritt und fordert Antizipation und Beschleunigung. Was halten Sie von dieser Strategie?
Vilensky: Ich sehe das eigentlich in ziemlichem Einklang mit den klassisch marxistischen Ansätzen. Der Ansatz mag legitim sein, aber gleichzeitig wächst auch das Gefühl, dass nicht mehr viel Zeit übrig bleibt. Wir sehen auch, dass der technische Fortschritt, dem irgendwie eine Verheißung und ein Potenzial für Befreiung innewohnt, mehr und mehr zur Versklavung führt. Dystopische Tendenzen treten heute ganz offensichtlich in den Vordergrund.
Timofeeva: Paradoxerweise lässt sich im Akzelerationismus ein versteckter Heidegger’scher Glaube orten. Wo es eine Katastrophe gibt, soll es auch Rettung geben. Es gibt dieses messianische Moment, wonach sich der Kapitalismus auf wundersame Weise selbst zerstören wird und wir direkt im Kommunismus landen werden.
Jurt: Daran glauben Sie nicht?
Timofeeva: Ein Problem damit ist, dass der Kapitalismus nicht sich selbst, sondern die Welt zerstört. Es wird niemanden geben, der diese wunderbare Zukunft erleben wird, die nach der vermeintlichen Katastrophe und Erlösung (nennen wir es ruhig Armageddon) kommt. Das zweite Problem ist, dass die Katastrophe nicht irgendwo in der Zukunft lauert, sondern dass sie im Hier und Jetzt stattfindet. Wir sollten nicht einfach passiv herumsitzen und warten, bis die Dinge wirklich schlecht werden. Sie sind schon schlimm genug, alle sind heutzutage deprimiert; sogar Katzen sind depressiv. Ich denke nicht, dass wir den kapitalistischen technologischen Fortschritt beschleunigen sollten. Wir sollten ihn vielmehr stoppen, das ist der Punkt.
Jurt: Ich denke, es ist nicht so sehr die Strategie an sich, die am Links-Akzelerationismus enttäuschend ist, ein „pensée de derrière“, wie Pascal gesagt hätte, sondern ihre Taktik, also ihre Politik. „Leninismus“ trifft da auf Debord’schen Radikalität. Könnte hier vielleicht der inzwischen nicht mehr so populäre Begriff der Multitude einen Ausweg bieten? Oder könnte eher eine kollektive Erfahrung, ein „general intellect“, in Richtung einer zu entwickelnden Taktik weisen?
Vilensky: Das Konzept der Multitude ist eine komplexe und ambivalente Konstruktion, die eine emanzipatorische, aber auch eine faschistische Dimension annehmen kann, wie wir jetzt überall in Europa beobachten. Es problematisiert zwar die Veränderung der Produktionsverhältnisse, thematisiert aber nicht das Problem der Organisation, weshalb es in der Praxis nicht wirklich nützlich ist.
Timofeeva: Der Begriff der Multitude wird häufig dem des „Volks“ („the people“) entgegengesetzt, der eine Art Einheit suggeriert. Wir sollten uns heute eher Gedanken darüber machen, was die Leute mit diesen Begriffen wirklich meinen. Warum „die Menschen“ nicht als eine stabile Einheit derer betrachten, die unter der Autorität eines Souveräns stehen? Leute, die gegen die Eliten (auf-)begehren. In Russland zum Beispiel sind diejenigen, die protestieren, die Mehrheit. Sie sind gegen den repressiven autokratischen Polizeistaat. Die Differenz besteht nicht zwischen der vermeintlichen Einheit des „Volks“ und der nicht reduzierbaren Vielfalt der Multitude, in der jeder einzigartig ist. Die Differenz besteht darin, dass es für die Menschen um genau den klassischen marxistischen Antagonismus zwischen den Unterdrückten (dem „Volk“) und den Unterdrückern geht. Die Unterdrückten und die Ausgeschlossenen – sie sind das „Volk“. Sie sind kein russisches oder amerikanisches Volk, die von ihren Machthabern repräsentiert werden. „Volk“ als Klassenbegriff und nicht als nationale Kategorie – das würde ich gerne in das Feld des Politischen wiedereinführen. Multitude ist eine Kategorie des immanenten Widerstands. Es mag eine Multitude geben, aber sie kann sich in das „Volk“ verwandeln – womit sich Widerstand in eine souveräne Revolte verwandeln würde.
Jurt: Die ganze Idee des Fortschritts ist auch eine sehr westliche Idee, eine Idee der Moderne. Sie bezogen sich in Ihren Arbeiten auch wiederholt auf eine indigene bzw. „vernakulare“ Wissensproduktion, die mit radikalen europäischen Denkansätzen der Negation verknüpft werden soll. Wie ist das zu verstehen?
Vilensky: Hier stehen wir vor einem ernsten Problem. Natürlich ist die westliche Tradition der Negativität weit entfernt von jeder indigenen Kosmogonie, die merkwürdigerweise gerade unter westlichen Kulturschaffenden modisch wird. Doch abgesehen von Yoga und Atemübungen haben sie keinerlei Praxisbezug zu diesem Wissen. Gene Ray hat das brillant analysiert,1 dem habe ich nichts hinzuzufügen.
1 Gene Ray, Writing the Ecocide-Genocide Knot: Indigenous Knowledge and Critical Theory in the Endgame; https://www.documenta14.de/en/south/895_writing_the_ecocide_genocide_knot_indigenous_knowledge_and_critical_theory_in_the_endgame.