Heft 4/2018 - #Fortschritt


Von der Zukunft der Vergangenheit

Künstlerisches Fortschrittsdenken und der Traum von einer aufgeklärten Gesellschaft

Edit András


1771, während den Anfängen der Französischen Revolution, erschien der futuristische Roman L’An Deux Mille Quatre Cent Quarante: Rêve s’il en fût jamais [dt. Das Jahr 2440: Ein Traum aller Träume] von Louis-Sebastien Mercier – ein Entwurf für den Fortschritt der Menschheit, der auch die bevorstehende Revolution vorhersah. 2440 schien im späten 18. Jahrhundert noch so weit entfernt in der Zukunft, dass 60 Jahre nicht wirklich zählten und die Zahl in der englischen Übersetzung auf 2500 aufgerundet wurde.1 Da diese erst nach der Revolution herauskam, hatte sich der Übersetzer zudem die Freiheit genommen, das Wort memoir (Erinnerung) statt dream (Traum) zu verwenden. Das Buch, das als das Erste seiner Art galt, war eine zeitliche Utopie, das heißt eine Utopie der Zukunft, dazu gedacht, die Welt zu verändern, zu reformieren oder zu revolutionieren.2
In Merciers Vision erfüllte sich ein Traum der Aufklärung: „Die Gelehrten sind zu den verehrungswürdigsten Bürgern geworden.“3 In seiner Welt waren alle BürgerInnen SchriftstellerInnen und die Meritokratie der neue Souverän. Reinhart Koselleck zufolge ist Merciers Zukunftsutopie eine „Variante der Fortschrittsphilosophie, ihr theoretisches Fundament ist die Verzeitlichung der ‚Perfectio-Ideale‘ … Der Autor ist in erster Linie kein Historiker oder Berichterstatter, sondern Produzent der kommenden Zeit, Vollstrecker seiner Anlage zur Perfektibilität.“4
Ádám Albert, ein ungarischer Künstler und zudem studierter Historiker, schaut in seiner Einzelausstellung im Museum Kassák, einer kleinen, abgelegenen, aber fortschrittlichen Institution, aus der Zukunft auf die ungarische Revolution von 1919 zurück, die bald ihren 100. Geburtstag feiert. Die Ausstellung mit dem Titel Everything is ours5 ist Teil des Forschungs- und Ausstellungsprogramms Lifestyle and Social Movements of Modernism des Museums und konzentriert sich auf einen einzigen Tag in der 133 Tage währenden Diktatur des Proletariats: die Feier zum 1. Mai mit ihrer Zusammenstellung aus monumentalen Bauwerken und Kunstwerken, die den Anspruch auf die visuelle Darstellung einer neuen Welt erhoben. Ausgangspunkt des forschungsbasierten Projekts ist eine Behauptung, die Walter Benjamin in seinem Passagen-Projekt formulierte und der zufolge Geschichte in Bilder zerfällt, nicht in Geschichten. Auf der Suche nach Agenda, Beschreibungen, Choreografien oder Modellen für die Dekoration der Hauptstadt Budapest fanden die Kuratorin Judit Csatlós und der Künstler kaum Dokumente, jedoch zahlreiche Fotos. Diese Fotografien dienten dem Künstler als Referenz für seine Objekte. Sie sind eine Reflexion zu symbolischen Handlungen im Zusammenhang mit der Produktion von Waren und Dienstleistungen und deren (Um-)Verteilung, zum Beispiel die kostenlose Nutzung der Brücken und des Stadtparks für alle als Auftakt zu einer neuen, gerechteren Gesellschaft.
Die verzierten Brückenköpfe sind aus unterschiedlichem Material nachgebildet: Sperrholz soll an die billigen Materialien erinnern, die damals für die Dekoration verwendet wurden; Kalkstein war der bevorzugte Baustoff, mit dem der Sozialismus der Arbeiterbewegung gedachte; Plexiglas ist ein Zeichen für Transparenz, das Motto der revolutionären Zeit, während der Polyurethanschaum die verschwommene, formlose Natur der turbulenten Ereignisse wachruft. Diese Objekte sind makellose, sterile, imaginäre Modelle zur Dekoration der bombastischen Feierlichkeiten. Sie muten wie archäologische Funde oder visuelle Zeichen aus einer fernen Zukunft an, die nicht in der Lage ist, den Sturm der Ereignisse, die Motivationen, die Gewalt und die Kontroversen, die durch den Lauf der Zeit bereinigt wurden, zu rekonstruieren.
Die Kunst der Russischen Revolution, die heute gefeiert und in führenden Museen gesammelt bzw. ausgestellt wird, wollte ursprünglich eine bis in ihre kleinsten Elemente neue visuelle Sprache schaffen, die genauso radikal revolutionär und anders als die alte Welt sein sollte wie die politische Revolution. KünstlerInnen betrachteten sich als ebenbürtig mit den führenden PolitikerInnen, was die Schaffung der neuen Welt anbelangte. Abstraktion entstand somit nicht aus dem Wettstreit verschiedener Stile (oder war zumindest nicht so angedacht), sondern vielmehr aus dem Dilemma, dass die Visualität des Proletariats nicht auf der künstlerischen Sprache bürgerlicher Kunst beruhen konnte. Dies steht hinter dem Motto vom „Tod der Staffeleimalerei“, wollten KünstlerInnen doch der Revolution dienen und an der Entstehung eines neuen Menschengeschlechts und einer neuen Welt beteiligt sein. Anstatt also allein im Atelier zu arbeiten, reisten sie mit den Agitprop-Zügen herum, um die analphabetische Landbevölkerung mittels visueller Elemente wie revolutionärer Plakate, Zeichnungen und Dekorationen aufzuklären, und wirkten so an der Entstehung einer neuen materiellen Kultur mit.
Im Zuge ihrer Musealisierung durchliefen die Artefakte der russischen Avantgarde einen Säuberungsprozess, bei dem sie all ihre politischen Absichten und Verbindungen einbüßten, um heute als eine über Politik und Alltag stehende „sakrosankte und reine Kunst“ geschätzt zu werden. Dies ist die Perspektive, aus der die Objekte Alberts an das revolutionäre Dekor des 1. Mai 1919 erinnern. Sie machen uns die Mechanismen der Kunstgeschichte bewusst und vermitteln, wie Geschichte auf obligatorisch distanzierte Weise funktioniert, ganz nach Kosellecks Behauptung, dass jede historische Überlieferung eine diskursive Konstruktion vergangener Realität ist anstatt bloß eine Übersetzung der Fakten.6
Merciers revolutionärem Traum zufolge ist die Zensur 2440/2500 nicht abgeschafft, da in Zukunft nur Werke moralisch erhabener Personen veröffentlicht werden. Der Autor von Schriften, die „der gesunden Moral entgegen sind“, muss eine Maske tragen, „damit er seine Schande so lange verberge, bis er sie durch vernünftigere und weisere Schriften wieder ausgetilget hat“7. Die Logik der Gewalt der Vernunft, die Koselleck zufolge jede andere Gewalt vernichtet, ist die treibende Kraft, die in die Zukunft führt.8
Die lebensgroßen Schwarz-Weiß-Drucke von Imre Gábor, entstanden aus Papier, auf dem herumgetrampelt wurde, erinnern auf dystopische Weise an das, was von der visuellen Kultur der Gegenwart für die Zukunft geblieben ist, seien es Meisterwerke der Kunst oder ikonische Bilder populärer Kultur – Picasso, Muhammed Ali, Elvis Presley, Personen auf Pressefotos oder auch Kunstwerke wie der Rote Mann mit dem Hammer von Mihály Bíró, der für die Dekoration zuständig war. (Seine gigantische Arbeiterfigur wurde das Symbol der Revolution. In der Ausstellung von Albert wurde sogar ein Foto seiner Künstlermappe gezeigt, auf der die gleiche Figur prangte.) Alle Figuren tragen Masken, die, neben der identischen Größe, der schwarzen Farbe und ihrem skelettartigen Aussehen, zu ihrer Einheitlichkeit beitragen und aus ihnen eine angsteinflößende Geisterarmee der Kultur der Vergangenheit machen.
Als einstiges Scherenschnittgenre sorgten Silhouettenporträts für die „Demokratisierung der Porträtkunst lange vor dem Aufkommen der Fotografie“9. In ihrer zeitgenössischen künstlerischen Bearbeitung wird jedoch keinerlei Hinweis gegeben, ob die Figuren die Zukunft vorhersehen und Gasmasken tragen, um eine bevorstehende Katastrophe zu überleben, oder ob sie bereits zu Asche verbrannt sind, an jene Figuren erinnernd, die einst Sinnbild der sogenannten Zivilisation waren mit ihrer niemals zu rechtfertigenden Kolonialisierung und Sklaverei. Die schwarzen Scherenschnitte dienten in diesem Zusammenhang der Katalogisierung von menschlichem Eigentum; Details wurden vermieden, und die Umgebung wurde nicht benannt. Biografische Besonderheiten wurden nur bei weißen SklavenbesitzerInnen hinzugefügt. Die aktuellen Verwandten dieser „Ausschwärzungen“ könnten als Genugtuung verstanden werden gegenüber Auswüchsen der Zivilisation, die im Namen des Fortschritts eine ungerechte Welt hervorgebracht hat. Oder sie sind auf Rache aus, wie in der Vorstellung von Mercier, der auf die prächtige Statue eines Schwarzen trifft, zu seinen Füßen die Worte: „Dem Rächer der Neuen Welt!“10
Die beiden Kunstprojekte sind das genaue Gegenteil voneinander, als verschiedene Interpretationen der Gegenwart, wie sie aus der Zukunft gesehen wird. Während das eine, ohne jeden Menschen und jedes Gefühl, in dieser so hochpolitischen Zeit jegliches Urteil, jede Stellungnahme oder Politisierung vermeidet, enthält das andere ausschließlich menschliche Figuren, seien sie real oder erfunden, und ist voller brodelnder, ebenso verstörter wie verstörender Gefühle. Das eine ist geschliffen und fein, das andere roh und grob; das eine ausgewogen und künstlerisch, das andere voller Zerstörung. Beide jedoch stellen, wenn auch vielleicht unabsichtlich, eine Diagnose der Gegenwart aus der Zukunftsperspektive dar.
Merciers Buch wurde 1773 vom Heiligen Stuhl und 1778 von der spanischen Inquisition verdammt.11 Das Museum Kassák, sein Direktor, die Kuratorin sowie die AutorInnen des Katalogs und der Künstler wurden persönlich schikaniert und politisch angegriffen und trotz ihrer Neutralität, ihrer akademischen Distanz und des analytischen Konzepts in einem Forum der extremen Rechten denunziert. Der Angriff war Teil eines systematischen Vorgehens gegen die letzten Bastionen liberaler Kultur, eingeleitet durch die diktatorische Einschränkung der Unabhängigkeit der Akademie der Wissenschaften.12
Mercier wünschte sich Perfektion und Fortschritt als Kompensation für die herrschenden Verhältnisse seiner Zeit. Heute muss seine Prophezeiung jedoch umgekehrt gelesen werden: Das, worunter seine Generation gelitten hat und was sie in der Zukunft zu beseitigen hoffte, nämlich die Tyrannei, ist erneut Realität geworden. „Aber … zu meiner Zeit fürchteten Männer in Ämtern nichts so sehr als die Feder guter Schriftsteller. Ihre stolze und strafbare Seele schauderte in ihrem Inneren, sobald die Gerechtigkeit es wagte, dasjenige ans Licht zu bringen, was sie sich nicht geschämt hatten, zu begehen.“13 Was die Gelehrten angeht, so stellt er sich deren Zukunft wie folgt vor: „Die Zahl der Akademisten ist nicht bestimmt: jedes Talent findet seine Krone; es giebt ihrer genug, um alle zu belohnen.“14 Dies sollte sich jedoch als Wunschdenken herausstellen, funktioniert es doch mittlerweile genau andersrum. Merciers Traum von einer aufgeklärten Gesellschaft basierend auf Vernunft, Moral und Verdienst könnte 2018 nicht weiter von der Realität entfernt sein.

 

Übersetzt von Anja Schulte

 

[1] Louis-Sébastien Mercier, Memoirs of the year Two Thousand Five Hundred. Übersetzt aus dem Französischen von W. Hooper. Philadelphia: Thomas Dobson, MDCCXCV [1795]. Deutsche Ausgabe: Das Jahr zwey tausend vier hundert und vierzig, übersetzt von Christian Felix Weiße. London (Schwickert in Leipzig) 1772.
[2] Vgl. Reinhart Koselleck, The Practice of Conceptual History: Timing History, Spacing Concepts. Stanford 2002, S. 86.
[3] Mercier, Das Jahr zwey tausend vier hundert und vierzig, S. 282.
[4] Reinhart Koselleck, Zeitschichten: Studien zur Historik. Frankfurt am Main 2000, S. 138.
[5] Der Titel Everything is ours! („Alles gehört uns!“) ist ein Verweis auf die letzten Zeilen des Buchs Magyar jakobinus dala („Lied des ungarischen Jakobiners“) des rebellischen ungarischen Dichters Endre Ady. Als die Budapester Margareteninsel im April 1919 ihre Tore für alle öffnete, nachdem der Zugang zum Park noch Wochen davor ausschließlich der bürgerlichen Elite vorbehalten war, wurden die BesucherInnen mit diesem Zitat willkommen geheißen.
[6] Vgl. Koselleck, The Practice of Conceptual History, XIII.
[7] Mercier, S. 61.
[8] Vgl. Koselleck, The Practice of Conceptual History, S. 91.
[9] Vgl. Black Out: Silhouettes Then and Now. Smithsonian National Portrait Gallery, Washington D.C, 11. Mai bis 10. März 2019; http://npg.si.edu/exhibition/black-out-silhouettes-then-and-now.
[10] Vgl. Mercier, S. 181.
[11] Laure Marcellesi/Louis-Sébastien Mercier: Prophet, Abolitionist, Colonialist; http://www.dartmouth.edu/~laurewik/publications/2011-studies/mercier.pdf.
[12] Eva S. Balogh, Viktor Orbán sets out to destroy „the last stubborn fortress of left-liberal ideology“; http://hungarianspectrum.org/2018/06/16/viktor-orban-sets-out-to-destroy-the-last-stubborn-fortress-of-left-liberal-ideology/.
[13] Mercier, S. 64.
[14] Ebd., S. 288.