Heft 1/2019 - Netzteil


48 Hours Sleep

Die Linzer Stadtwerkstatt widmete sich im Rahmen der Ars Electronica 2018 einem immer rarer werdenden Luxusobjekt – dem Schlaf

Barbara Seyerl


Seit jeher pflegt der Mensch ein ambivalentes Verhältnis zum Schlaf. Für die einen ist er die segensreiche Flucht aus einem überfordernden Wachzustand, für die anderen reine Zeitverschwendung oder notwendiges Übel. Unsere Gesellschaft scheint zusehends auf einen Schlafpessimismus zuzusteuern. Welche Rolle spielt diese letzte natürliche Barriere der menschlichen Selbstoptimierung in einer „24/7“-Gesellschaft, die niemals schläft? Diesen und anderen Fragen zum „kleinen Bruder des Todes“ widmete sich die vierte Ausgabe der Reihe „STWST48“ im Rahmen der Linzer Ars Electronica 2018, kuratiert und konzipiert von der Multimediakünstlerin Shu Lea Cheang und dem Autor des Buchs How to Sleep: The Art, Biology and Culture of Unconciousness, Matthew Fuller.1
Die Themen des Formats lauteten grob umrissen, Effizienz, Öffentlichkeit und Überwachung. In einem von dem russischen konstruktivistischen Architekten Konstantin Melnikow inspirierten „Schlaftunnel“2 – einem umfunktionierten Gewächshaus – durfte man sich der voyeuristischen Beobachtung anderer Menschen beim Schlafen hingeben. Die Atem-, Herz- und Gehirnströme offenbarten sich den BetrachterInnen als ästhetische Graphen, die über den Schlaf- oder auch Wachzustand der „Sleeper“ Aufschluss gaben, während man es sich auf aufgereihten Feldbetten gemütlich machen konnte. Die SchläferInnen traten dabei ganz im Sinne der Effizienzsteigerung gegeneinander an. Kurzum, wer besser schlief, hatte gewonnen.
Dass der Schlaf einer der wenigen Bereiche ist, in dem man Menschen nicht steuern oder beeinflussen kann, bzw. er von keinem direkten „Nutzen“ ist, war dem Kapitalismus schon immer ein Dorn im Auge. Mittlerweile, könnte man jedoch behaupten, ist es nicht mehr nur der „blutsaugende“ Kapitalismus, der den Arbeitenden den Schlaf raubt, sondern sie sind es vielfach selbst. Demonstrativ wird auf Social-Media-Kanälen um die Wette nicht geschlafen. Influencer rühmen sich mit Yoga- und Meditationssessions um fünf Uhr früh, und die „erfolgreiche“ globale Elite schläft nicht mehr als sechs Stunden. Eine Ausnahme bildet Mark Zuckerberg, der angeblich weltliche sieben bis acht Stunden schläft.3 Während die einen sich also freiwillig selbst kasteien, können oder dürfen andere – angesichts der enormen Anforderungen der Arbeitswelt – nicht länger als sechs Stunden schlafen. 30 Prozent der Erwachsenen in den USA leiden unter chronischem Schlafmangel.4 Kein Wunder also, dass eines der profitabelsten Medikamente in den Vereinigten Staaten gegen Schlafstörungen hilft.5 Zu wenig Schlaf löst bekanntlich alle möglichen gesundheitlichen Probleme aus.
Das erkannte man bereits in der Blütezeit der Industrialisierung, nachdem die Installation von künstlichen Lichtquellen in den Fabriken das Arbeiten rund um die Uhr ermöglicht hatte. Während die Produktion exponentiell in die Höhe schoss, fielen Arbeiter der Reihe nach um. Konstantin Melnikow entwarf in den 1920er-Jahren im Rahmen eines Wettbewerbs für eine „Grüne Stadt“ nahe Moskau die SONnaia SONata (Sonate des Schlafs), ein Gebäude, das einzig und allein zum Schlafen gedacht war. In unmittelbarer Nähe der Produktionsanlagen sollten sich die erschöpften Arbeiter in einer Art riesigem Glashaus unter ständiger Beobachtung von MedizinerInnen und TechnikerInnen dem Schlaf hingeben können. Den akustischen Background dazu boten beruhigendes Vogelgezwitscher und Blätterrauschen.
Melnikows Entwurf wurde zwar nie umgesetzt – man störte sich an der Tatsache, dass dem Schlaf dabei zu viel Bedeutung beigemessen wurde6 –, er erinnert aber an ein Konzept, das sich seit Jahren in jungen globalen Unternehmen durchsetzt. Egal ob Facebook, Google oder Nestle, alle haben inzwischen „Sleeping Pods“ – kompakte Schlafkämmerchen, die entfernt an futuristische Vampirsärge erinnern – in ihre Büroräume integriert. Diese erlauben es den Angestellten, unter dem wohlwollenden Segen der Chefetage für 15 bis 20 Minuten in eine Traumwelt zu flüchten. Auch hier gibt es die Option von Vogelgezwitscher und Blätterrauschen. Böse Zungen behaupten, dass dies nur eine weitere Methode sei, die Angestellten am Arbeitsplatz zu halten; andere loben den Versuch, auf die natürlichen Bedürfnisse der Arbeitenden einzugehen.7 Es ist jedoch nicht verwunderlich, dass ein Element, das vormals dem privaten Bereich des Menschen vorbehalten war – dem sogar ein eigener Raum gewidmet wurde –, angesichts der Tatsache, dass sich die Arbeitswelt umgekehrt längst im Schlafzimmer eingenistet hat, nunmehr einen Platz im öffentlichen Leben sucht. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie, unter welchen Umständen und vor allem wer im öffentlichen Raum schlafen darf.
Die Fabrikanlagen der Städte waren Mitte des 19. Jahrhunderts nicht die einzigen Bereiche, die im hellen Licht der künstlichen Lampen erstrahlten. London hatte bereits 1736 über 5.000 Öllampen im Stadtraum installiert, 1823 waren es dann mehr als 40.000 Gaslaternen, die so hell brannten, dass man Milchglas für die Leuchtkörper einsetzen musste. Die Nacht wurde zum Tag. Dadurch läutete oder besser: leuchtete man zwar das moderne Nachtleben ein, gleichzeitig erlaubte die verbesserte Sicht erstmals die flächendeckende Überwachung des öffentlichen Raums und veränderte, nebenbei bemerkt, auch unser Schlafverhalten.8 Wie A. Roger Ekirch in seinem Buch In der Stunde der Nacht – eine Geschichte der Dunkelheit bedauert, verloren wir mit der Entstehung des künstlichen Lichts auch die Fähigkeit, über unsere Träume zu reflektieren. Vormals gliederte sich unser Schlaf nämlich in zwei, durch einen ein- bis zweistündigen Wachzustand unterbrochene Intervalle. Dieser „meditationsartige“ Zustand erlaubte es den Menschen, so Ekirch, „über ihre Traumerlebnisse nach(zu)sinnen. Mit dem Übergang zu einem neuen, kompakteren Schlafmuster verloren immer mehr Menschen die Erinnerung an ihre Träume und damit auch einen traditionellen Zugang zu ihren tiefsten Empfindungen“9. Durch die Komprimierung der Nacht wurde logischerweise also auch der Schlaf komprimiert.
Ausgehend von ersten Versuchen in den 1930er-Jahren hat die Schlafforschung im letzten Jahrhundert enorm an Bedeutung gewonnen. So konnte man feststellen, dass die Menschen unabhängig von äußeren Einflüssen mit leichten Abweichungen dem zirkadianen Rhythmus folgen, einer 24-stündigen Abfolge von Wach- und Schlafzuständen, der auch bei den meisten anderen Lebewesen auftritt und somit uralt sein dürfte. Während das Militär seit Jahren an einer Methode forscht, um den Schlaf von SoldatInnen – wenn nicht völlig, dann zumindest partiell – abzuschaffen,10 können wir uns mithilfe unzähliger Schlaf-Apps gänzlich dem Streben nach dem perfekten Schlaf hingeben, vorausgesetzt wir haben genug Zeit dazu.
Wenngleich Schlaf, wie der Schriftsteller Jonathan Coe es ausdrückt, „der große Gleichmacher“11 ist, also einen letzten egalitären Prozess der Menschheit darstellt, nimmt die Verfügbarkeit von Schlaf und vor allem von gutem Schlaf immer mehr ab. Erst kürzlich machte der Erzherzog von Sussex aka Prince Harry mit einem ominösen schwarzen Ring auf sich aufmerksam, der den Wach- und Schlafzustand seines Trägers überwacht und Ratschläge für ein effizienteres Schlafen erteilt.12 Wird also guter Schlaf zusehends zu einem Luxus-Designobjekt, das man am Finger trägt?

 

 

[1] https://stwst48x4.stwst.at/
[2] Der Schlaftunnel war ein Projekt von No Architects; https://newcontext.stwst.at/projects/no_architects.
[3] Vgl. https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/nov/10/four-hours-sleep-yoga-dawn-todays-influencers-best-lives.
[4] Vgl. Jonathan Crary, 24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep. London 2014, S. 11.
[5] Ebd., S. 18.
[6] Vgl. http://versorgerin.stwst.at/artikel/aug-30-2018-2300/der-5-jahresplan-des-schlafes.
[7] Vgl. https://www.theguardian.com/business-to-business/2017/dec/04/clocking-off-the-companies-introducing-nap-time-to-the-workplace.
[8] Vgl. A. Roger Ekirch, In der Stunde der Nacht – eine Geschichte der Dunkelheit. Bergisch Gladbach 2006, S. 392.
[9] Ebd., S. 396.
[10] Vgl. Crary, 24/7, S. 2.
[11] Jonathan Coe, Das Haus des Schlafes. München 2006, S. 206.
[12] Siehe https://ouraring.com/.