Heft 1/2019 - Netzteil


Glatt poliert, lebendig, brüchig

Marmor als Material, Motiv und Textur in postdigitaler Kunst

Ellen Wagner


Kaum ein Material ist künstlerisch so aufgeladen wie der Marmor: Seit der Antike wird der geäderte Stein in besonderer Beziehung zum menschlichen Körper gesehen, der ihn mit physischer Kraft zum Leben bringt, behaut und poliert und in figürlichen Werken häufig auch selbst dargestellt wird. Seit Jahrhunderten wird die Arbeit am Marmor in Zusammenhang mit der Nachahmung und Steigerung der Schönheit menschlicher Natur diskutiert und gelehrt.
In Zeiten, in denen Hammer und Meißel von Algorithmen und CNC-Fräsen abgelöst wurden, erscheinen Materialien leichter transformierbar denn je. Dennoch stehen neue Werkstoffe und digitale Technologien nicht nur für gestalterische Prozesse zur Verfügung – wir werden auch selbst im Umgang mit ihnen geprägt. Gerade im postdigitalen Umgang mit Marmor als Material, Motiv und Textur von Kunst wird die Spannung zwischen fleischlicher Lebendigkeit und dem Eindruck eines fest in Form und Stein Gemeißelten neu gefasst. Was aber sagt dieser Umgang über das Verhältnis zwischen unseren Körpern und den Werkzeugen aus, mittels derer wir uns und unsere Umgebung im Analogen wie im Digitalen aufeinander zuschneiden? Haben wir es hier mit dekorativen Effekten zu tun oder mit der Fortführung einer künstlerischen Linie, die sich über die in ihrer Zeit jeweils neuen Techniken und Materialien der Formbarkeit menschlicher Körper nähert?
In Extended Operations (2013) präsentiert Yngve Holen Marmorblöcke, die in Verona nach 3D-Scans von Rinderhälften aus einer Berliner Metzgerei gefräst wurden. Aufgebahrt auf höhenverstellbaren Bühnenelementen mit Flugzeugteppich drauf wirken die Stücke des rotweiß gemaserten mineralischen „Formfleisches“ wie die Schaustellung zerlegter Körper in einem Anatomietheater der Frühen Neuzeit. Die surreale Kombination scheint auf die Transportabilität von Waren und Körpern in globalen Netzwerken anzuspielen. Neben den Marmorstücken sind vereinzelt Vorrichtungen zur Taubenabwehr positioniert. Sie vermitteln die Unerwünschtheit eines Landens oder Innehaltens von fliegenden Objekten und Maschinen, Tieren und Menschen, die stetig als Waren zirkulieren. Statt um aktive Fortbewegung, scheint es, geht es um Logistik.
Catherine Biocca wiederum nutzt in Blushing Sculptures (2015) den Marmor als flächiges Motiv. Über zwei Aufsteller aus Metall wurden Kunststoffplanen mit digital aufgedruckten Marmoroberflächen vor chromafarbenem Hintergrund geworfen. Die beidseitig ansichtigen Skulpturen haben Augen, erinnern jedoch weniger an Körper als an Grabsteine. In beiden ist eine Animation eingebunden, in der eine Hand die „Marmorblöcke“ mittels Meißel bzw. einer surrenden Tätowiernadel bearbeitet und den Skulpturen Schmerzensschreie „entlockt“. In der geloopten Animation bleibt der Marmor widerständig – die aufgedruckte Form hingegen ist „angefressen“ wie von einem Radierwerkzeug in einem Bildbearbeitungsprogramm. Gestaltbar wie ein Marmorblock durch eine Tätowiernadel – die Absurdität dieser Kombination könnte ebenso auf die Absurdität der Vorstellungen von flexibler Formbarkeit des Selbst verweisen.
Auch Jon Rafman arbeitet in Poor Magic (2017) mit digital generierten bewegten Bildern von Marmor und spielt auf die Wandelbarkeit an, die menschliches Inkarnat wie digitale Oberflächentexturen bestimmt. In albtraumartiger Atmosphäre durchdringen einander Räume, die in unendliche Weiten und Tiefen führen: Dunkelheit, weite Ebenen, mehrere Röhren, funkelnde Körperwelten. Auf einer zum Ausrutschen feucht und glatt wirkenden Fläche, die lachsfarbenem Marmor nachempfunden scheint, agieren wie in Trance modellhafte Gliederpuppen. Sie sprengen auseinander, stürzen von Vorsprüngen, werden auf der Fläche wie gerakelte Farbmasse verteilt. Im Lauf des Videos wird die Textur des Grundes immer gröber und zeigt sich aus Innereien und Gedärmen geflochten. Die Figuren sind spürbar fremdgesteuert als frei verschiebbare Farb- und Formimpulse aus digitalem Code, während der fleischliche Marmor zum schwelenden Labyrinth aus Barrieren und Abgründen gerät.
Stichprobenartig erscheinen diese Werke als plakative Kulturkritik an einer Verflachung unseres Weltzugangs. Dennoch lenken sie die Aufmerksamkeit weniger auf die reine Oberflächlichkeit sinnlicher Wahrnehmung und körperlicher Interaktion als auf das Verhältnis zwischen Flächigkeit und Tiefe, fester Form und loser Anordnung, Vereinzelung und möglichem Zusammenschluss.
Sie bleiben nicht bei einem rein intellektuellen Nachvollziehen unserer Abhängigkeit von neuen Technologien stehen, sondern adressieren die Vorstellungskraft über verschiedene Sinne: durch basslastigen Sound bei Rafman, stark riechende Kunststoffe in den Installationen Bioccas, die Andeutung von Wehrhaftigkeit bei gleichzeitiger Verletzlichkeit bzw. unterschwelligem Schmerz durch die Taubenabwehr in Holens Objekten. Zur inhaltlichen Direktheit tritt eine körperliche, der man sich schwer entziehen kann.
Die hart geformte Fleischlichkeit „vorläufig“ gestalteter Umgebung steht dem beweglich anmutenden, doch physisch und moralisch standfest als exemplum virtutis dargestellten Körper in figurativen Marmorwerken seit der Antike bis ins 19. Jahrhundert entgegen. Während Letztere ihren Reiz aus der scheinbar mühelos geschaffenen schönen Form, die sich dennoch einem bildhauerischen Kraftakt verdankt, beziehen, präsentieren sich die postdigitalen Arbeiten als technisch mehr oder weniger virtuose Spielereien, die unsere Wahrnehmung ins Stolpern bringen. Nicht das harmonische Übereinstimmen eines Materials und „Wesens“ mit der Form und äußeren Gestalt, sondern die Einbettung eines Körpers in Gefüge aus wechselnden Verknüpfungen und Texturen gewinnt für dessen Handlungsfähigkeit an Bedeutung. Gleichzeitig erscheint dieses Gefüge als verdinglichende Transformationsmaschinerie, die uns stetig von einer Konsumierbarkeit in die nächste trägt.
In allen erläuterten Arbeiten werden stets mehrere Objekte gezeigt, jedoch keine Figurengruppen. Präsentiert werden keine vollkommen umrissenen Individuen, sondern gleich und ähnlich aussehende anthropomorphe Gebilde – als Pendants, Serien oder Massen. Im Vordergrund stehen Körperausschnitte, organische Texturen und einzeln gesteuerte Avatare, die keine zwischenmenschliche Beziehung zueinander aufbauen.
Gerade hier aber, im Verweis auf die Spannung zwischen Ermächtigung und Verdinglichung durch neue Technologien, die wir alle einzeln, doch parallel zueinander und damit potenziell als geteilt erfahren, wird es interessant. Indem die Arbeiten nicht nur die Möglichkeiten neuer Technologien – zum Beispiel der Transportation und Transformation – sowie deren Kippmomente visualisieren, sondern auch das Nebeneinander, in dem wir uns diesen Entwicklungen häufig aussetzen, erinnern sie wenigstens implizit an die sozialen Potenziale des Digitalen.
Tatsächlich also setzen sich im postdigitalen Umgang mit Marmor historische Linien einer künstlerischen Beschäftigung mit dem menschlichen Körper, seiner Formbarkeit, Beweglichkeit und Handlungsfähigkeit fort. Haptisches Sehen und der Bezug auf das Serielle, Distributionsfähige sind dabei zentral. Die Darstellung menschlicher Konsumierbarkeit und der sinnliche Reiz des Warenförmigen, das uns meist im Sortiment umschmeichelt, stehen dabei im Vordergrund. Dennoch lässt sich in den Anordnungen eine Lebendigkeit entdecken, die über den Warentisch hinausweist, sofern wir selbst sie weiterdenken, über die konkrete Gestalt des einzelnen Werks hinaus, hin zur Frage nach der Anschlussfähigkeit unserer pluralen, technologisch erweiterten und verengten „Selbste“ füreinander.