Heft 2/2019 - Netzteil
In ihrem Essay „It’s About Time: Temporality in the Study of Social Movements and Revolutions“ unterscheiden Doug McAdam und William Sewell vier verschiedene Rhythmen und Zeitdimensionen von politisch-sozialen Bewegungen, wobei sie die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung und die Französische Revolution als Beispiele nehmen. Dies sind erstens langfristige Änderungsprozesse, die „die herrschenden Machtverhältnisse destabilisieren und zugleich bestimmten Gruppen eine neue organisatorische Grundlage für ihre Mobilisierung verschaffen“; zweitens Protestzyklen, womit jene kurzen Perioden gemeint sind, in denen eine Revolution am meisten Aktivität entfacht; drittens transformative Ereignisse in „unterschiedlichen Ausformungen und Auswirkungen“ bzw. mit der „typischen Dauer des Einzelereignisses“; sowie viertens kulturelle Epochen oder Großperioden, in denen „eine bestimmte aufständische Politik über längere Zeiträume und oft auch weite Räume aufrechtbleibt“.1 Im Grunde postulieren McAdam und Sewell für die Erklärung der Zeitrahmen sozialer Bewegungen „einen ereignisbezogenen Ansatz“. Ereignisse, die „punktuell und diskontinuierlich sind und nicht zyklisch, linear oder kontinuierlich“, würden zu „Angelpunkten struktureller Änderungen, konzentrierten Augenblicken politischer und kultureller Kreativität, in denen die Logik der geschichtlichen Entwicklung durch Aktion neu definiert wird“.
Diese ereignisbezogene Zeitlichkeit hat viel gemein mit der indigenen afrikanischen Auffassung von Raum und Zeit.2 Die Zeitauffassung in Afrika ist nämlich rückwärts linear, das heißt, wenn sich etwas ereignet, dann geht es umgehend rückwärts in die Zeitdimension „Zamani“, die Makrozeit ein. In vielen indigenen Kulturen und spirituellen Traditionen Afrikas kann die Zeit mithin erschaffen werden und ist unabhängig von Messungen. Sie ist erst real, wenn sie erlebt wird. Die Zeit besteht also aus Ereignissen, während Tage, Monate oder Jahre nicht mehr als ihre Zahlendarstellung sind. So schreibt etwa Bert Hamminga: „Wir müssen die lineare physikalische und tote Zeit des Westens mit ihrer ‚Vergangenheit‘, ‚Zukunft‘ und einem sich permanent verschiebenden ‚Jetzt‘ der ‚lebendigen Zeit‘ in Afrika gegenüberstellen“.3
Der autochthone Zeitbegriff steht in Afrika im Allgemeinen also entweder mit Naturereignissen wie Regenfällen oder dem Sonnenauf- bzw. -untergang in Verbindung oder mit natürlichen Geschwindigkeiten wie der Dauer eines Fußmarschs von einem Ort zum anderen. Die Zeit wird erlebt mit „Augenmerk auf die Details eines Ereignisses, egal wie lange dieses dauert, auf die Erörterung eines Problems, bis es restlos gelöst ist, und auf die Betonung des jetzigen Erlebnisses und nicht eines vergangenen oder zukünftigen“4. Auch zukünftige Ereignisse hängen nicht von Uhrzeit oder Kalenderdatum ab. Vielmehr hängt die Zeit von der Qualität des Ereignisses und der Person, die es erlebt, ab. Sobald das zukünftige Ereignis erlebt wird, geht es in Gegenwart und Vergangenheit ein.
Die feministische Bewegung hat ebenfalls alternative Zeitbegriffe vorgelegt, die „uns die Vielgestaltigkeit der Zeit“ aus weiblichen Perspektiven nahelegen. Darin werden unter anderem „Zeit, Alter, Veränderung, Selbstbild und die Folgen der neuen Rolle von Frauen“5 untersucht. So merkt Irma Garcia an, dass „die Zeit der Frauen rein affektiv ist und damit die althergebrachten Schemata und Denkordnungen stört“6. Die weibliche Zeit sei allgemein so, dass „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voneinander abhängig sind und ineinanderfließen“7. Tradition, so wie sie hier verstanden wird, betont das Überlappen von Vergangenheit und Gegenwart und damit ihren innigen Zusammenhang. Wenn man der Zeit den üblichen linear fortschreitenden Aufbau unterstellt, kommt notwendig die Zukunft hinzu.
Im November 2015 stand auf dem Cover von Wired in fetten neonrosa Lettern: „Let’s Change the Future“. Das Heft widmete sich den Themen Ethnizität, Gender und Gleichheit im digitalen Zeitalter und wurde vom Tennisstar Serena Williams gastredigiert. Enthalten waren Artikel über die Bewegung #BlackLivesMatter als Bürgerrechtsbewegung des 21. Jahrhunderts, über die fehlende Diversität in der Technikindustrie und über einen aktuellen Streit um Diversität in der Science-Fiction-Szene. Über Letztere schreibt Amy Wallace, dass „SF immer nur eine Zukunft, eine Art Politik und eine Person, die den Job erledigt, kennt“8.
Wallace sieht den Nutzen von Science-Fiction – besonders für benachteiligte Gruppen – in der Konkretisierung möglicher Zukunftsszenarien. Sie erinnert an Octavia Butler, die in ihrem Aufsatz „Positive Obsession“ fragte: „Was bringt es, wenn die Science-Fiction über Gegenwart, Zukunft oder Vergangenheit sinniert? Warum neigt sie immer zum Warnen und zur Suche nach einem neuen Denken und Tun? Was bringt es, über die Auswirkungen von Wissenschaft und Technik und über die Gesellschaftsordnung oder die politische Zukunft nachzudenken? Im besten Fall regt sie dadurch unsere Fantasie und Kreativität an […] Aber was nützt das uns Schwarzen?“9 Eine neue Generation von SF-AutorInnen versucht, diese Fragen zu beantworten. So verwenden Basisgruppen wie das Afrofuturist Affair and Metropolarity Queer Speculative Fiction Collective „Science-Fiction, um neue Welten, Identitäten und Ich-Modelle zu skizzieren und alte, schädliche zu zerstören“10. Andere Gruppen reklamieren bzw. schaffen Zukunft, indem sie alternative Zeitauffassungen ins Spiel bringen, um so die Bedeutung und Funktion von Zukunft und Vergangenheit, kurzum: die Geschichte zu verändern. Neue Zeitbegriffe wie die des Afrofuturismus oder des „Schwarzen Quantenfuturismus“ (Black Quantum Futurism, BQF) sind praktische Werkzeuge zur Untersuchung der aktuellen Wirklichkeit und Gestaltung von Geschichte und Zukunft.
So untersucht der Schwarze Quantenfuturismus die Möglichkeiten eines Raum-Zeit-Gefühls, das dem Überleben marginalisierter Völker in einer von der linearen Zeitauffassung beherrschten Hightechwelt dient. BQF schafft eine gemeinsame zeitliche Dynamik, die zu einem neuen Raum- und Zeitbewusstsein führt. Seine Theorie, Sichtweise und Praxis sind an der Schnittstelle von Quantenphysik, Futurismus und den schwarzen bzw. afrikanischen Raum-Zeit-Traditionen angesiedelt. Für den BQF sind Vergangenheit und Zukunft nicht von der Gegenwart abgeschnitten, sondern beeinflussen unser Leben, wer wir sind und zu wem wir werden. Unsere Position im Jetzt bestimmt, wie Vergangenheit und Zukunft aussehen und was sie in jedem einzelnen Augenblick bedeuten. Wir bestimmen also selbst, was diese beiden Zeitdimensionen für unser Jetzt bedeuten.
Auszug aus einem Essay, der im Katalog zur Ausstellung Organize Your Own: The Politics and Poetics of Self-Determination Movements erstveröffentlicht wurde (Soberscove Press 2016). Die Performance The Temporal Disruptors findet am 5. Mai 2019 im Rahmen des donaufestivals in Krems statt: https://www.blackquantumfuturism.com/
Übersetzt von Thomas Raab
[1] Doug McAdam/William H. Sewell, Jr., It’s About Time: Temporality in the Study of Social Movements and Revolutions, in: Ronald R. Aminzade et al. (Hg.), Silence and Voice in the Study of Contentious Politics. Cambridge University Press 2001, S. 112.
[2] Wichtig ist festzuhalten, dass die traditionelle Zeit- und Raumauffassung in den Kulturen, Ländern, Gruppen und bei Einzelnen in ganz Afrika stark variiert. Die Beobachtungen in diesem Essay basieren auf größer angelegten Forschungen über Raum, Zeit und Spiritualität in afrikanischen Kulturen und Gruppen, was grundlegende Verallgemeinerungen und Annahmen ermöglicht.
[3] Bert Hamminga, A Comparison of the Western and African Concepts of Time; http://www.eldrbarry.net/ug/afrtime.pdf.
[4] Ebd.
[5] Jerrilyn Fisher, Teaching ‚Time‘: Women’s Responses to Adult Development, in: Frieda J. Forman/Caoran Sowton (Hg.), Taking Our Time: Feminist Perspectives on Temporality. Oxford 1989, S. 137.
[6] Irma Garcia, Femalear Explorations: Temporality in Women’s Writing, in: Taking Our Time, S. 162.
[7] Michelle M. Wright, Physics of Blackness: Beyond the Middle Passage Epistemology. Minneapolis 2015, S. 56.
[8] Amy Wallace, War of the Words, in: Wired, November 2015, S. 97.
[9] Octavia E. Butler, Bloodchild and Other Stories. New York 2005, S. 134f.
[10] Metropolarity – Journal of Speculative Vision and Critical Liberation Technologies, März 2013 (Fanzine).