Heft 2/2019 - Illiberal!


Es gibt keine Häfen mehr für den Fliegenden Holländer

Über den Populismus der „IAE“-Kritik

Boris Buden


Erinnern wir uns noch einmal an den seltsamen Fall des IAE, des „International Art English“. Der 2012 unter diesem Titel auf Triple Canopy publizierte Essay ist inzwischen einer der bekanntesten Texte, den das amerikanische Magazin je veröffentlicht hat.1 Er hat ein enormes Echo ausgelöst: Polemiken, öffentliche Diskussionen, internationale Presseberichte. Diese vergleichsweise unerwarteten Reaktionen weisen jedoch auf eine Problematik hin, die weit über die ursprüngliche Absicht des Essays hinausgeht, nämlich die Kritik an einer speziellen Form der englischen Sprache, die sich in den regelmäßigen Pressemitteilungen des Online-Kunstmagazins e-flux herausgebildet hat. Dabei geht es um weit mehr als die Sprache der zeitgenössischen Kunst, für die besagte Pressemitteilungen, nach Ansicht der AutorInnen des Essays, beispielhaft sind. Was genau hat diesen Wirbel verursacht und ein so großes öffentliches Echo hervorgerufen?

Meint ihr das ernst?
Im Grunde ist die These der AutorInnen Alix Rule und David Levine recht simpel: In bestimmten Medien und Institutionen der zeitgenössischen Kunst tritt ein neuer Sprachgebrauch in Erscheinung, der sich deutlich von der etablierten Norm des Englischen unterscheidet. So weit, so gut. Doch dann folgt das normative Urteil: Diese besondere Sprache „weist sämtliche Kennzeichen des Englischen auf [...], und doch handelt es sich in strengem Sinn nicht um Englisch“2. Sie sei „auf merkwürdige Weise pornografisch“3. So wird eine andere Art und Weise des Sprachgebrauchs in unserer sich ständig wandelnden sozialen und kulturellen Praxis als eine an Obszönität grenzende Abweichung stigmatisiert. Letztendlich war es diese moralische Empörung über einen speziellen Sprachwandel, der als stellvertretend für die zeitgenössische Kunst bzw. als Symptom ihrer Dekadenz verstanden wurde, die all die öffentliche Aufmerksamkeit erregt, die emotionalen Kritiken ausgelöst und das Publikum über Fragen aufgebracht hat, die weit über den Kunstbereich hinausgehen. Rules und Levines Pamphlet zielt also, wenn auch eher implizit als explizit, auf eine viel größere Bühne ab, auf der die Zusammenhänge von politischer Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit Teil eines globalen Dramas sind, in dem die Kunst mit ihrer Klage über die eigene pervertierte Sprache eher eine Nebenrolle spielt.
Doch was werfen sie dem International Art English eigentlich vor? Letztlich, dass es von der Norm des (britischen) Englisch abweicht. Wie haben die AutorInnen diese Abweichung festgestellt? Durch die präzise, empirische, „objektive“ Messung der Abweichung dieser „besonderen Sprache“ von der Norm in Gestalt des sogenannten BNC, des British National Corpus, einer Sammlung von etwa 100 Millionen Wörtern aus verschiedensten Quellen, die als repräsentativer Durchschnitt des gesprochenen und geschriebenen britischen Englisch des späten 20. Jahrhunderts gilt.4 Mithilfe einer neu entwickelten Software haben Rule und Levine die Häufigkeit bestimmter Wörter in den Korpora des BNC und des IAE verglichen, wobei das IAE-Korpus die in den Pressemitteilungen von e-flux verwendeten Wörter umfasst. So etwa kommt das Wort „reality“ im IAE-Korpus viermal so oft vor wie im BNC. „The real“ erscheint 2.148-mal in einer Million Einheiten des e-flux-Korpus im Vergleich zu nur zwölfmal pro Million im BNC, also 179-mal so oft.5
Diese „exakt“ gemessene lexikalische Differenz führen die AutorInnen als Hauptargument dafür an, dass das International Art English eine eigene Sprache sei.6 Dieses Argument macht außerdem deutlich, worum es den AutorInnen des Essays wirklich geht, nämlich um Abgrenzung: Zum einen wird eine Sprache durch das Ziehen einer Grenze von einer anderen getrennt, und zum anderen wird die neu definierte sprachliche Einheit mit ein wenig sozialem Substrat und normativer Bedeutung bzw. einer ideologischen Legitimation unterfüttert.
An dieser Stelle gilt es, eines deutlich zu machen: Grenzen, die vermeintlich Sprachen voneinander trennen oder Sprachen von ihren Dialekten unterscheiden, werden willkürlich gezogen. Sie stellen Konventionen dar und entspringen weder einer intrinsischen noch einer sprachlichen oder sonstigen Notwendigkeit. Anders gesagt, sprachliche Grenzen lassen sich nicht empirisch ermitteln und in diesem Sinne auch nicht wissenschaftlich verifizieren.7
Das gilt es angesichts der Schlussbemerkung der AutorInnen in der Einleitung zu beherzigen, die die Leserschaft dazu auffordert, ihr Argument nicht als „übertrieben raffinierten Scherz“ zu betrachten. Es sei, so wollen sie uns glauben machen, „nichts Seltsames“ an der Sprache, die sie gerade erfunden haben:8 „Wir meinen es ziemlich ernst.“9

Verfremdung als Abweichung
Auch wir sollten das International Art English ernst nehmen, jedoch nicht als eine auf empirischen oder in diesem Fall statistisch belegten Daten basierende sprachliche Gegebenheit, sondern als willkürlich umrissene sprachliche Einheit, deren Leere sie zu einer perfekten Projektionsfläche für eine Reihe normativer sowie politischer Forderungen macht. Das IAE mag eine imaginäre Sprache sein, doch es als Sprache zu bezeichnen hat reale Auswirkungen, mit denen wir uns ernsthaft befassen sollten.
Eine ergibt sich daraus, dass die AutorInnen dem IAE eine soziale Substanz zuschreiben, eine eigene Sprachgemeinschaft, die sie, nicht weniger willkürlich, in zwei Schritten konstruieren. Auf einer deskriptiven Ebene definieren sie die Gemeinschaft des IAE zunächst schlicht und einfach als die Kunstwelt: „das Netzwerk von Personen [...], die in professionellen Zusammenhängen die materiellen und nichtmateriellen Objekte erschaffen, die in der Öffentlichkeit als zeitgenössische Kunst wahrgenommen werden.“10 Dazu zählen nicht nur KünstlerInnen und KuratorInnen, sondern das breite Spektrum derer, die in irgendeiner Weise an der Produktion zeitgenössischer Kunst mitwirken, unter anderem GaleristInnen, MuseumdirektorInnen, SammlerInnen, AutorInnen, HerausgeberInnen von Kunstzeitschriften, PraktikantInnen und KunstgeschichtsprofessorInnen.11 Was diese Personen verbindet, ist ihr Wille, ein internationales Publikum anzusprechen, und die Verfügbarkeit der dazu notwendigen Technologie, das Internet.
Nun zur normativen Ebene. Sie wird schon im Motto des Essays angekündigt, einem Zitat des britischen Anthropologen Edmund R. Leach12, der auf ein bestimmtes Sprachregister hinweist, nämlich das „Englisch der oberen Mittelschicht“ bzw. einfach eine „elitäre Sprache“, die einer Elite nicht nur dazu dient, ihre Mitglieder zu identifizieren und ihren sozialen Status zu bestätigen, sondern auch dazu, „sich von der gemeinen Masse abzugrenzen“, die versucht, sie nachzuahmen.13 Rule und Levine möchten offenbar, dass wir das IAE ähnlich verstehen, nämlich als Instrument der Klassendistinktion, das die soziale und kulturelle Distanz zwischen der Elite und „dem gemeinen Volk“ sprachlich festschreibt und immer wieder aufs Neue bestätigt. Sie verleihen dieser Sprache genau genommen eine gesellschaftsbildende Funktion, die Fähigkeit, performativ eine eigene (elitäre) Gemeinschaft zu erschaffen. Sie verwenden sogar explizit Althussers Konzept der „Interpellation“ (Anrufung) und verweisen damit auf den ideologischen Charakter des IAE: Es adressiert seine Sprecher als Mitglieder einer gemeinsamen, „auf fantastische Weise mobilen und glamourösen“14 (Kunst-)Welt.
Aus der Sicht von Rule und Levine, den ErfinderInnen des IAE, ist es nicht nur die Sprache einer Elite, ein Code, in dem die Kunstwelt sich erkennt und reproduziert, sondern gleichermaßen eine elitäre Sprache,15 eine Sprache, die schon in ihrer Struktur elitär ist, also in der Art und Weise, wie sie unsere Beziehung zu anderen und zur Welt bestimmt.
Im Guardian äußerte die Autorin Alix Rule, dass das IAE „die Undurchlässigkeit der zeitgenössischen Kunst verstärkt“ und „Kunst für Laien schwieriger gemacht habe“16. Im Essay selbst spekulieren die AutorInnen darüber, dass die Kunst sich dieser besonderen Sprache bediene, um sich „dem kritischen Blick eines breiteren Publikums“17 entziehen zu können. Bei ihrer Analyse des Begriffs Dialektik und seiner Verwendung in Pressemitteilungen werfen sie einer „führenden deutschen Kunstzeitschrift“ die Behauptung vor, „Dialektik besser zu verstehen als die DurchschnittsleserInnen“18. So schließe das IAE „die Durchschnittsleserschaft“, „Laien“ sowie „ein breiteres und lokales Publikum“ aus. Anders gesagt, diese nehmen es als Fremdsprache wahr und die zeitgenössische Kunst mithin als befremdlich. Solange sie IAE spricht, spricht die zeitgenössische Kunst eine Sprache, die normalen Menschen fremd ist und die sie nicht verstehen.
Doch hier ist Vorsicht geboten: Es geht nicht um das alte Problem, dass zeitgenössische oder moderne Kunst normalen Menschen generell unverständlich erscheint. Rule und Levine möchten uns etwas anderes glauben machen: Würde die zeitgenössische Kunst verständliches Englisch sprechen, wäre sie für den Durchschnitt (leichter) verständlich.19 Dies legt nahe, dass der befremdliche Charakter des IAE, der in einer gegenseitigen Entfremdung von zeitgenössischer Kunst und der Allgemeinheit zum Ausdruck kommt, eine Art Kollateralschaden einer viel schwerwiegenderen Erscheinung ist. Es handelt sich kurz gesagt um die Nebenwirkung der Entfremdung einer Sprache von ihrem Ursprung, ihrer authentischen Form. Und genauso verstehen Rule und Levine Entfremdung, nämlich als „Abweichungen von der sprachlichen Norm“20. In diesem konkreten Fall bedeutet das, dass das IAE eine verfremdete Form des Standardenglisch ist, deren Entfremdungsprozess so weit fortgeschritten ist, dass es zu einer anderen Sprache geworden ist, einer Sprache, die ihrem Ursprung fremd ist. Wir sollten uns nun also fragen: Wie ist das passiert und was hat dazu geführt, dass die Sprache sich selbst fremd geworden ist?

Leere Dinge!?
Die Antwort ist recht einfach: Es liegt an der Übersetzung. Oder um es mit den Worten der AutorInnen zu sagen: „Wie kommt es, dass die Texte, die wir über Kunst schreiben, wie schlecht übersetztes Französisch klingen?“21 Den Ursprung der Selbstentfremdung des Englischen bis hin zur Erschaffung der neuen Fremdsprache IAE führen sie auf den Einfluss der 1976 gegründeten Zeitschrift October zurück. Genauer gesagt geht es darum, wie sich die Übersetzung (post-)strukturalistischer Theorien aus dem Französischen, die in der Zeitschrift stark propagiert wurden, auf die Sprache der amerikanischen Kunstkritik ausgewirkt hat. So schrieb zum Beispiel die Kunsthistorikerin Rosalind Krauss, die Barthes, Baudrillard und Deleuze für October übersetzt hatte, auch „in einem Stil, der ganz offensichtlich von diesen Übersetzungen geprägt war“22. Um den Einflüssen des Französischen auf das IAE nachzugehen – insbesondere lexikalischen Eigenheiten wie „die Suffixe -ion, -ity, -ality und -ization, die im Englischen geläufigere Alternativen wie das Suffix -ness ausstechen“ oder etwa die Übersetzung des französischen „le vide“ mit „The Void“ anstatt, wie sie vorschlagen, „empty things“, also „leere Dinge“ (!?) –, nutzen Rule und Levine erneut die Sketch-Engine-Software. Damit vergleichen sie die Häufigkeit bestimmter Wörter in drei Korpora, dem French Web Corpus, dem BNC und dem e-flux-Korpus. Und was stellen sie fest? Eine Abweichung von der etablierten Sprachnorm: Im e-flux-Korpus tritt ein durch die Übersetzung aus dem Französischen ins Englische geprägtes Wort wie „the void“ „signifikant“ häufiger auf als im BNC.23 Na und?, könnte man fragen. Die Antwort der AutorInnen ist jedoch mehr als entschieden: „Die Diktion der Texte über Kunst, die während der October-Ära ausgebildet wurde und auf zahlreichen übersetzerischen Idiosynkrasien beruhte, wirkte aus normalsprachlicher Sicht befremdlich“24, „Wer die Texte las, konnte sich zu Recht ausgeschlossen fühlen“25, „Diejenigen aber, die auch die esoterischeren syntaktisch-semantischen Verrenkungen erkannten, hatten entweder ausführlichen Kontakt mit übersetzten Texten französischer Theoretiker oder zumindest Texte gelesen, die sich wie solche Übersetzungen lasen.“26 Kurz gesagt, es war der Einfluss der Übersetzungen aus Fremdsprachen, der zur fatalen Selbstentfremdung des Englischen führte und seinen illegitimen, degenerierten Nachkommen namens IAE in die Welt setze.
Sollte dies das Hauptargument der Kritik von Rule und Levine sein, dann ist es erstaunlich, dass sich die AutorInnen überhaupt nicht mit dem Grundgedanken des Übersetzens befasst haben. So hätten sie zum Beispiel der klassischen deutschen Übersetzungstheorie (Humboldt, Schleiermacher und andere RomantikerInnen) entnehmen können, dass eine „Verfremdung“ der eigenen Sprache der eigentliche Zweck von Übersetzungen aus anderen Sprachen ist. Durch die Einführung fremder Elemente aus anderen Sprachen bereichert die Übersetzung eine Sprache. Sie ermöglicht es ihr sowie ihrer Gemeinschaft und Kultur, den Erfahrungs- und Wissenshorizont zu erweitern.27 Weit davon entfernt, ein Behelf der „richtigen“ Form des Sprachgebrauchs zu sein, den wir gelegentlich nutzen, um den Unterschied zwischen zwei Sprachen zu überbrücken und eine Kommunikationslücke zu schließen, ist das Übersetzen genau die Form, die diesen „richtigen“ Sprachgebrauch produziert. Es ist seine Fähigkeit zur Hybridisierung, die das Gemeinsame über eine abstrakte Vielheit verschiedener Sprachen hinaus adressiert und performativ neu erschafft. Das Übersetzen hat die Bühne nicht erst betreten, als die Sprachen sich schon vollständig herausgebildet hatten. Es war seit jeher da, sogar schon, als das British National Corpus mit seinen 100 Millionen Wörtern noch im Entstehen begriffen war, und es hat seinen Inhalt von Anfang an verfremdet. Tatsächlich besteht das BNC vorwiegend aus den Spuren unzähliger Begegnungen mit anderen Sprachen und Kulturen wie Französisch und Deutsch.

Eine populistische Ansprache
Doch all das scheint den ErfinderInnen des Begriffs IAE leider unbegreiflich zu sein. Die in unserem Sprachgebrauch unabdingbare und allgegenwärtige Erfahrung der Verfremdung nehmen Rule und Levine lediglich als eine „Abweichung von der Norm“ wahr. Diese Norm stellen sie sich als einsprachiges Paradies totaler Transparenz und reibungsloser Kommunikation vor. Folgt man dieser Sichtweise, dann fristen Sprache und ihre grundlegenden sozialen Beziehungen ein Dasein in absoluter Einsamkeit und nüchterner Selbstgenügsamkeit, gut geschützt vor allen fremden Einflüssen, die die sprachliche Intimität – um nicht zu sagen Idiotie – der MuttersprachlerInnen gefährden könnten, in der nur Wörter und Dinge oder verschiedene soziale Klassen in Harmonie zusammenfinden können. Sollte es dennoch vorkommen, dass ein fremdes Element in diesen Körper eindringt, wird der Eindringling isoliert und entfernt. Genau das haben Rule und Levine mit dem IAE gemacht. Sie waren nicht in der Lage, den Sprachgebrauch und die damit einhergehenden sozialen Beziehungen aus der Perspektive ihres stetigen historischen Wandels zu betrachten. Da sie außerstande sind, in den besonderen Merkmalen des IAE einen bestimmten Moment in der Kontinuität ein und desselben sich stets wandelnden Sprachgebrauchs zu erkennen, sondern sie es als Anomalie aus. Wie hier: Aus der Feststellung, dass das Wort „reality“ im Korpus des IAE häufiger vorkommt als im BNC, folgern sie, dass Ersterer eine dekadente Form des Letzteren ist und daher eliminiert werden sollte. Aber warum eigentlich? Offensichtlich, weil die Realität ihrer Ansicht nach Standardenglisch spricht.
Aus einer anderen Perspektive lässt sich das, was Rule und Levine International Art English nennen,28 jedoch als eine zeitweilige, zufällige und gesellschaftsbildende Momentaufnahme im Verlauf einer fortschreitenden Revernakularisierung des Englischen betrachten. Während andere, „kleinere“ standardisierte Sprachen dies inmitten der Globalisierung häufig als erdrückende Dominanz des Englischen als Lingua franca erleben, das sie aus allen wichtigen Diskursen verdrängt bzw. fast aussterben lässt, wird das Englische selbst re- bzw. besser neu vernakularisiert, indem es sich von den bestehenden Maßgaben seiner institutionellen Kodifizierungen löst, kurz gesagt, von seiner standardisierten Form. Je mächtiger das Englische weltweit wird, desto gespenstischer erscheint es seinen „ursprünglichen“ MuttersprachlerInnen, die nun befürchten, ihre exklusiven Eigentumsrechte an ihm zu verlieren. Entfremdung bedeutet übrigens auch die Übertragung von Eigentumsrechten auf andere Personen oder Gruppen.
Letztlich geht es in diesem Drama um die Neuvernakularisierung des Englischen, das wie ein Geisterschiff durch die Weiten der globalisierten Welt treibt, dazu verurteilt, nie wieder vor Anker zu gehen – der Fliegende Holländer der neuen Vernakularsprachen. Das IAE ist in diesem Drama nur ein Akt und die zeitgenössische Kunst an Bord dieses Geisterschiffs nur eine Darstellerin unter vielen. Doch in ihrem Essay sprechen Rule und Levine dies nicht explizit an, obwohl sie sich des Dramas völlig bewusst sind.29 Doch wen oder was sprechen sie dann an?
Es scheint so, als sprächen sie im Namen eines durchschnittlichen Kunstpublikums, der Allgemeinheit, der MuttersprachlerInnen des Englischen (oder anderer standardisierter „Muttersprachen“), denen das International Art English sowohl die „ursprüngliche“ Sprache als auch die damit verbundene authentische Erfahrung zeitgenössischer Kunst entfremdet hat. Und sie scheinen sich gegen die dafür Verantwortlichen zu wenden: die IAE sprechende globale Elite der zeitgenössischen Kunst. Ist das nicht das Paradebeispiel einer durch und durch populistischen Ansprache? Noch nicht ganz. Aber das wird es, wenn die wahren Verantwortlichen beim Namen genannt werden. Am Ende des Essays vermuten die AutorInnen, dass das IAE möglicherweise implodieren werde, und sagen voraus, dass die Elite der Kunstwelt „sich dann auf das konventionelle Upper-Middle-Class-Bildungsenglisch besinnt und die damit verbundenen, erprobten Distinktionen“30. Das kann nur bedeuten, dass die Elite der Kunstwelt zuerst von allen nicht muttersprachlichen Englischsprechenden gereinigt werden muss bzw. all jenen, die sich eine Eliteausbildung nicht leisten können, die ihnen zum „herkömmlichen Intellektuellen-Englisch“ verhelfen würde, und dann von all den Kunststudierenden aus Skopje, die das „wahre Englisch“ mit ihrem dreckigen IAE-Jargon vermüllen,31 um wieder zu einer echten Elite zu werden, den unangefochtenen HerrscherInnen der Kunstwelt und der Welt selbst. Das sind die AdressatInnen, in deren Namen und in deren Interesse die Kritik am IAE verfasst wurde. Aber das ist nichts Neues. Wir kennen das schon: MEGA! Make English Great Again!

 

Übersetzt von Gülçin Erentok

 

[1] Die Zitate in diesem Essay stammen aus Alix Rule/David Levine, International Art English, in: Merkur, 6/2013, Jg. 67, S. 516–527, übersetzt von Bernadette Ott. In dieser Übersetzung nicht enthaltene Passagen des Originaltexts sind mit „Üs. G. E.“ gekennzeichnet. Der Originaltext ist 2012 erschienen auf Triple Canopy; https://www.canopycanopycanopy.com/contents/international_art_english; eine erweiterte E-Book-Version findet sich unter https://www.canopycanopycanopy.com/contents/international-art-english-ebook.
[2] Rule/Levine, S. 526.
[3] Rule/Levine (Originaltext, Üs. G. E.)
[4] Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/British_National_Corpus.
[5] Vgl. Rule/Levine, S. 519.
[6] „Was sie auszeichnet – und was aus ihr eine eigene Sprache macht –, ist gerade die von ihr stets kultivierte, ausdrückliche Distanz zum Englischen.“ (Ebd., S. 517) Diese Distanz wird in dem Essay nicht nur auf lexikalischer Ebene gemessen, sondern auch, obgleich nicht ganz so „exakt“, auf der Ebene von Syntax und Genealogie, das heißt der Geschichte „fremder“ Einflüsse auf das Englische.
[7] Selbst die strukturalistische Sprachwissenschaft war sich dessen vollkommen bewusst. Vgl. Ferdinand de Saussure: „So wie Dialekte nur willkürliche Unterteilungen der Oberfläche der Sprache sind, so kann die Grenze, die zwei Sprachen trennen soll, nur eine Konvention sein.“ (Cours de linguistique générale [1916]. Paris 1997, S. 279; Üs. G. E.)
[8] Ja, ich meine das ernst: erfunden, nicht entdeckt.
[9] Rule/Levine (Üs. G. E.).
[10] Rule/Levine, S. 516.
[11] Vgl. ebd.
[12] Vgl. Edmund R. Leach, Political Systems of Highland Burma: A Study of Kachin Social Structure. Harvard 1954.
[13] Siehe https://www.canopycanopycanopy.com/contents/international_art_english; das Zitat fehlt in der deutschen Übersetzung.
[14] Rule/Levine (Üs. G. E.).
[15] Vgl. ebd., S. 524.
[16] Vgl. https://www.theguardian.com/artanddesign/2013/jan/27/users-guide-international-art-english.
[17] Rule/Levine, S. 526.
[18] Ebd., S. 524.
[19] Oder genauer gesagt: Würde die zeitgenössische Kunst generell heimische Sprachen sprechen, also die normierten „Muttersprachen“ bestimmter Nationen, die von der Globalisierung noch unverdorbenen, von ihrem authentischen Kern noch nicht „entfremdeten“ Sprachen, so wäre sie Durchschnittsmenschen weltweit (leichter) zugänglich.
[20] Rule/Levine, S. 526.
[21] Ebd. S. 521.
[22] Ebd.
[23] Auf ähnliche Weise analysierten sie einen weiteren „schlechten Einfluss“ auf die englische Sprache, nämlich die Übersetzung deutscher Texte der Frankfurter Schule durch October. Auch hier hätten lexikalische Importe wie „production“, „negation“, „totality“ oder „dialectics“ das Standardenglisch verunreinigt.
[24] Rule/Levine, S. 523.
[25] Ebd.
[26] Ebd.
[27] Vgl. Antoine Berman, The Experience of the Foreign: Culture and Translation in Romantic Germany, übersetzt von S. Heyvaert, Albany 1992 (Originaltext: L’épreuve de l’étranger. Culture et traduction dans l’Allemagne romantique: Herder, Goethe, Schlegel, Novalis, Humboldt, Schleiermacher, Hölderlin. Paris 1984).
[28] Ungeachtet der Frage, ob seine besonderen Merkmale es überhaupt zulassen, es als eine eigenständige linguistische Einheit anzuerkennen.
[29] Sie sprechen von Revernakularisierung, ohne diese benennen zu können: „IAE verfügte nie über eine kodifizierte Grammatik. Stattdessen entwickelte es sich fort, indem es ständig neue Quellen und Taktiken absorbierte, um den erwünschten fremdartigen Sound zu erzeugen. Die Grenzen der Verstehbarkeit wurden dabei immer weiter ausgedehnt (und auch überdehnt, jedenfalls für den englischen Native Speaker).“ (Rule/Levine, S. 526)
[30] Ebd.
[31] „Wenn jedoch eine Kunststudentin aus Skopje zu ihrer Diplomausstellung einlädt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie die Einladung dazu per E-Mail in IAE verschickt.“ (Ebd., S. 517)