Heft 4/2019 - Digital Unconscious


Unheimliche Nervensysteme und Digitales Unbewusstes

Konrad Becker


Ein heute gängiges Narrativ lautet so: Autonome Maschinen mit nahezu perfektem Wissen und unerschütterlicher Präzision, basierend auf eindeutiger Mathematik und objektiver Logik, ersetzen voreingenommene und unzuverlässige Menschen auf der Suche nach höherer Effizienz und faireren Ergebnissen. Aber je genauer diese Erzählung durchleuchtet wurde, desto zweifelhafter wurde der darin skizzierte Vorgang, und umso ähnlicher wurde sie einem Glaubensakt oder einem Zaubertrick auf der Ebene von Sprache und Substitution. Die Gleichsetzung von „automatisiert“ und „autonom“ ist eine der dabei stattfindenden Manipulationen. Automatisierung ist ein einfaches Prinzip der vollkommen regelgeleiteten Ausführung, autonome Maschinen, die Regeln selbst festlegen und nach eigenen Kriterien ausführen, sind etwas völlig anderes. Schon mit kleinen sprachlichen Umformulierungen können die Akteure auf diese Weise in „autonomen Systemen“ verschwinden und die Türe von innen verschließen, so wie bei Wolfgang von Kempelens „Schachtürken“.
Im Rahmen der Veranstaltung Hypernormal Hybrids präsentierte die US-amerikanische Politologin S. M. Amadae eine Geschichte der Logik, worin Spieltheorie und paranoide Annahmen über die menschliche Natur im Kontext des Kalten Kriegs zur unaufhaltsam bestimmenden Formel des Handelns wurden. Dabei wurden Rationalität und Paranoia auf gefährliche Weise miteinander verflochten.[1 In den darauffolgenden technologischen Entwicklungen sind solche Annahmen als verborgene systemische Regeln tief verankert, ja sie enthalten diese mathematischen Modelle bis heute. Wenn einstmals bewusst getroffene Entscheidungen automatisiert werden, wenn Urteilsfindung zum Produkt von Maschinen wird, kolonisieren algorithmische Regime die menschliche Vorstellungskraft und beginnen, die Zukunft in eine bestimmte Richtung zu lenken. Zu diesen unsichtbaren Steuerungssystemen meint Steve Kurtz von Critical Art Ensemble: „Es gibt heute mehr und bessere Technologien als je zuvor um sicherzustellen, dass, wenn sie verinnerlicht werden, sie nicht nur das Verhalten vorantreiben, sondern tatsächlich die Subjektivität bestimmen.“ Maschinencodes unterwandern die Grenzen von Körpern und gestalten die Horizonte des Bewusstseins. Erik Davis zitiert H. P. Lovecraft: „Es ist nicht der Schlaf der Vernunft, der Monster hervorbringt, sondern Augen der Vernunft voll Verlangen.“ Komplexe Konfigurationen aus biologischen Akteuren, kommunizierenden Objekten, technischen Protokollen und automatisierten Entscheidungsprozessen werden zu hypernormalen Hybriden, in denen sich die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verlieren. Im Wandel realer und virtueller Territorien manifestiert sich eine grundlegende Erosion existenzieller Gewissheiten, vor allem was die Grenze zwischen vermeintlichen und realen Bedrohungen angeht.
Die Fortsetzung der Untersuchungen zu Hypernormal Hybrids führte zu einem merkwürdigen, aber faszinierenden Thema der algorithmischen Welt: dem Unbewussten. Welche Kräfte des Unbewussten wirken in diesen digitalen Prozessen? Welche Geheimnisse moderner Informationsgesellschaften sind nicht im Schattenreich der Technologie, sondern im menschlichen Nervensystem zu finden? Wie kann die heterogene Komplexität dieser Zusammenhänge beschrieben werden und welche Formen des Zugangs können kulturelle Herangehensweisen dabei eröffnen? Daraus ergab sich eine Sammlung von Positionen und Texten, die hier erstmals unter dem Titel Digital Unconscious ausschnittweise zusammengefasst werden.
Ansätze, das Unbewusste in der digitalen Kultur zu erforschen, sind vielfältig. Im Rahmen des Projekts What Is To Be Done? beleuchtete Felix Stalder mit einem sozialgeschichtlichen Beitrag zur Ökonomie der Wahrheit die gesellschaftliche Konstruktion unterschiedlicher Wahrheitskonzepte.2 Für Painted by Numbers beschrieb die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston die wechselvolle Bedeutung von Begriffen wie Objektivität und Rationalität in der Geistesgeschichte: „Objektivität wird immer herangezogen, um Fehler in Bezug auf ein Thema zu unterdrücken […]“.3 Forscherinnen wie Mireille Hildebrandt von der Vrije Universiteit Brussel zeigen demgegenüber die tief greifenden Beziehungen zwischen der gerade entstehenden soziotechnischen Infrastruktur und der Autonomie des menschlichen Subjekts anhand des Trends der „Behavorial Economics“ und Konzepten wie „Nudging“.4 Bereits 1992, also lange bevor von algorithmischen Regimen die Rede war, interpretierte Michael Taussig in seinem Buch The Nervous System historische und kulturelle Entwicklungen als Dynamik neuronaler Netzwerke.
Lydia Liu hingegen denkt über das psychische Innenleben von intelligenten Maschinen nach. Sollte es gelingen, das menschliche Bewusstsein in Maschinen nachzubilden, so entsteht laut Liu auch ein maschinelles Unbewusstes, ein „Freud’scher Roboter“, wie Liu es nennt. In ihrer Präsentation 2018 in Wien beschrieb sie diese neue Generation von Robotern als etwas äußerst Unheimliches im kollektiven Bewusstsein.5 Der Beitrag in diesem Heft hinterfragt nicht nur, inwieweit Roboter den Menschen immer ähnlicher werden, sondern auch, warum Menschen im Gegenzug Robotern immer ähnlicher werden: „Entwickeln sie sich zu Robotern im selben Tempo wie die Ingenieure künstlicher Intelligenz Maschinen erschaffen, die wiederum Menschen ähneln?“ Lius Annahme besteht darin, dass Menschen sich immer mehr in Richtung von Maschinen entwickeln, denen sie umgekehrt menschliche Verhaltensweisen beizubringen versuchen. Der Versuch, Roboter nach Gottes Ebenbild zu erzeugen, erschafft Menschen, die sich wie Roboter verhalten: Das Uncanny Valley wird zur Zweibahnstraße. Diese Endlosschleife führt laut Liu zur Entwicklung besonderer Mensch-Maschine-Schnittstellen neuer Cyborg-Generationen. Google DeepDream vermittelte eine Ahnung davon, aber die Ergebnisse werden nicht so sehr hübsche Bilder sein, sondern die bewussteren Dimensionen maschineller Rationalität werden wohl untrennbar mit dem menschlichen Nervensystem verbunden sind. Um das Leben berechenbar zu machen, wurden Weltbilder geschaffen, die Menschen in Roboter verwandelt und Entwicklungen ausgelöst, die Norbert Wiener, der Vater der Kybernetik, als die „schwarze Magie des 21. Jahrhunderts“ beschrieb. Ist wirklich ein Aufstand der Roboter zu befürchten, oder sind es nicht vielmehr computergestützte Kulturen der Psychose?
Mit dem technischen Neuerungsschub des Zweiten Weltkriegs entwickelten neue Kommunikationstechnologien ihre Wirkung. Unter der Bezeichnung Kybernetik wurden Kommunikation, Kontrolle und Computer zur bestimmenden Grundlage der Sozialwissenschaften und institutionellen Macht der Nachkriegszeit. Doch erst in den 1970er-Jahren, wie der Soziologe Manuel Castells in The Rise of the Network Society argumentiert, beschleunigte sich diese Entwicklung und näherte sich einem neuen Paradigma an. Netzwerke waren nicht mehr nur dazu da, um Information zu organisieren, sondern wurden zu einer Technologie, um Gesellschaft, Bewusstsein und Kultur zu leiten, wie Erik Davis in seinem Artikel „The Netweird Society“ betont. Um diese Untiefen des digitalen Unbewussten auszuloten, zitiert er aus Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow: „Sie müssen zwei Fragen stellen. Erstens: Worin besteht die wahre Natur der Synthese? Zweitens: Worin besteht die wahre Natur der Kontrolle?“ Was bedeutet es, heterogene Materialien zu Figuren des Realen zu verschmelzen und Simulakren zu schmieden? Was ist menschliche Handlungsfähigkeit angesichts sozialer Programmierung, kognitiver Skripts und namenloser Kräfte, die als Unbewusstes wirken? Was krönt die Kontrollhierarchien der technokulturellen Achterbahnen, welche Macht ist am Ende dafür verantwortlich? Wie lassen sich die Bruchlinien solcher Hybridsysteme identifizieren und welche Handlungsoptionen bleiben bestehen?
Als Künstler, der sich mit der Wirkungsmacht in systemischen Prozessen auseinandersetzt, sieht Graham Harwood ein Grundproblem in der Unfähigkeit, mit Komplexität umzugehen – „also erfinden wir Engel, um eine unsichtbare Hand schaffen“. Komplexität beherrscht nicht nur die Umweltkatastrophe, sondern auch endlose Kriege, weltwirtschaftliche Ungleichheit und die sich abzeichnende roboterhafte Arbeitsteilung.
Die Frage, was tun in komplex mediatisierten Zeichenwelten, beantwortete Critical Art Ensemble (CAE) mit einer Kommunikationsanalyse. In ihrer Präsentation und dem vorliegenden Text „Maschinen, Geister und der neue säkulare Okkultismus“ stellen sie die Überlegung an: „Falls es universelle Zeichen gibt, dann sind Geister vermutlich mitten unter ihnen.“ Geister sind nicht nur unumgänglich als Medium für Hoffnungen und Ängste, sondern auch als Zeichen, um die Kontinuität des Bewusstseins zu erhalten und das Unerklärliche zu erklären. Diese schemenhaften Kräfte konkretisieren und erklären die spukhaften Momente, die aus digitalen Netzwerken hervorgehen: „Wo immer es Hyperobjekte gibt, die so komplex sind, dass sie sich im Alltag nicht mehr entschlüsseln lassen, ist die Situation reif für Geister.“ Wie ein übernatürlicher Spuk heften sich diese Gespenster an (virtuelle) Orte und Menschen, wodurch die entsprechende Erfahrung zu einer sehr persönlichen wird. Geister der Schattenwelt kennen die Lüge des Homo oeconomicus und wissen, wie man die Schaltkreise des Gehirns manipuliert. Kommunikation verschiebt Motivationen und initiiert Verhaltensnotwendigkeiten. Beeinflussung lässt Zielpersonen glauben, dass Ideen und Wünsche ihnen selbst entspringen. Menschen können auf diesem Weg zu Entscheidungen gedrängt und angeregt werden, etwas zu tun, was eine vernünftige Person in ihrem besten Interesse niemals tun würde.
Mit Big Data verschiebt sich der Fokus der Beobachtung von Verhaltensweisen hin zu Modellen prognostischer Einschätzungen, was zu einer Blütezeit der Vorhersageindustrien geführt hat. „Social sensing“ gilt als das neue technowissenschaftliche Paradigma zur Erfassung sozialen Verhaltens, doch indem Maschinen lernen, Vorhersagen zu treffen, schreiben sie sich in die Verhaltensweisen menschlicher und nicht menschlicher Akteure ein. Diese undurchsichtigen Vorgänge bleiben ungreifbar, in einem Bereich, wo geisterhafte Datenkorrelationen ohne Kausalität existieren und seltsame Skripts ihr Eigenleben entwickeln. El Iblis Shah, der die nekropolitische Codierung der in symbolischen Systemen verborgenen Gewalt untersucht, sieht die Big-Data-Mythologie als menschenfeindlichen Kult, der den Untergang der menschlichen Spezies beschwört: „Datenzentren als Hochspannungsschreine des Bösen Blicks sind algorithmische Gebetsmühlen, dunkle Kathedralen unheilvoller Formeln, um den Planeten in den Altar von Idiotengöttern zu verwandeln.“
Schon in der Antike erfüllten Orakel und Prophezeiungen grundlegende gesellschaftliche Funktionen. In ihrem Artikel über sozialwissenschaftliche Wechselwirkungen moderner Orakel untersucht Katja Mayer die Macht okkulter Evidenz in sozialer Fernerkundung und fragt: „Was genau passiert am Kipppunkt zwischen Berechnung, Interpretation und Vorhersage? Wie schließt sich die Lücke zwischen Beobachtung und Prophezeiung? Mit welchen Erkenntnistheorien wird diesen Unsicherheiten permanenter Latenz begegnet?“ Der Publizist Ewen Chardronnet verortet den Nimbus der Supercomputer in antiken Mythen. Was heute als Anthropozän verstanden wird, die Art und Weise, wie sich das menschliche Verständnis auf Bio- und Geosphäre auswirkt, wurde im frühen 20. Jahrhundert noch als Noosphäre bezeichnet. Chardronnet hinterfragt in seinem Beitrag die seltsamen Kulte der Vernunft, die mit dem Supercomputer zur Vorhersage von Ereignissen verknüpft sind, und die Todeskulte der Noosphäre. Er verfolgt die Entwicklung der Technosphäre von ersten Computern zur Frühwarnung von Nuklearkriegen bis zum Global Consciousness Project, von Adam Smiths „Computer“ der unsichtbaren Hand bis zu den sich selbst erfüllenden Prophezeiungen der AnhängerInnen transhumanistischer Singularität. Dieser Logik folgend erscheint laut Chardronnet die Ära der geologischen Auswirkungen des Anthropozäns nur „als kurzlebiges Kapitel im Phanerozoikum, dem Zeitalter der Manifestation der Tiere“.
Michael Taussig, der seit Langem die Beziehungen zwischen „rationalem“ und „magischem“ Denken untersucht, sieht in indigenen Beobachtungen der modernen Welt ein kritisches Erkenntnispotenzial. Laut Taussig ist die Anthropologie befangen in einer nahezu magischen Illusion ihrer eigenen Objektivität – eine Disziplin, die sich ihrer eigenen Bedingungen und Annahmen nicht ausreichend bewusst ist. Den liminalen Zonen einer „Lehre vom Menschen“ nähert sich Taussig durch eine Auseinandersetzung mit der Realität des Instinktiven und ortet darin Grenzverschiebungen zwischen Mensch und Objekt im Zusammenhang mit dem von ihm beschriebenen „verkörperten Unbewussten“. Dass die analytische Unterscheidung zwischen Selbst und Objekt immer unklarer erscheint, wird beispielsweise auch von Lydia Liu im Zusammenhang mit dem „Uncanny Valley“ als entscheidendem Denkansatz zum Unheimlichen betont. So gelten die von Donald Winnicott beschriebenen Übergangsobjekte, beispielsweise die Teddybären von Kleinkindern, als Zwischenprodukt psychischer und äußerer Realität. Im Anschluss daran lassen sich Geräte wie Smartphones, die gleichermaßen Teile eines „Wir“ wie auch eines „Anderen“ in sich vereinen, als Übergangsobjekte für Erwachsene bzw. Beispiele für ein digital verkörpertes Unbewusstes verstehen.
Objekte, die zunehmend als lebendig angesehen werden können, sind keine von KI-Technologien geschaffene Novität, sondern eine sehr alte Geschichte, sowohl was Technologie (man denke an den „Schachtürken“) als auch kulturelle Erzählungen betrifft. Vorstellungen belebter Objekte basieren einerseits auf dem Glauben an die Fähigkeit des Objekts (oder des Tricksters, der damit umgeht) und andererseits auf einer Skepsis gegenüber dem Dargestellten. Glaube und Skepsis gehen Hand in Hand, wie Edward Evans-Pritchard bereits in den 1930er-Jahren in Bezug auf Magie feststellte. Dieser doppelte Charakter bildet sowohl ihre Machtbasis als auch die Quelle ihrer Bekämpfung – und den Ausgangspunkt für Hebelwirkungen bzw. eine Behauptung des Gegenteils. Im vorliegenden Interview anlässlich seiner Präsentation im Rahmen des Projekts Nervous Digital Systems6 plädiert Taussig für Offenheit gegenüber dem mimetischen Eigenleben der Dinge: „Die Sensibilität für die Resonanz von Dingen der Welt ist wichtig, damit die Kartierung von Diskursgebieten andere Abenteuer von Ideen ermöglicht.“ Gegen die Willkür des Signifikanten und die Saussure’sche Repräsentationslücke evoziert Taussig die organische Verbundenheit von und mittels Sprache, wobei „Schrift zu dem wird, worum es geht“. Darin zeichnet sich ein erweitertes Realitätsverständnis ab, in dem die Landkarte tatsächlich auch das Territorium ist.
Wenn sich Deep-Learning-Technologien als mythische Praxis von Big-Data-Priestern und Apologeten nicht menschlicher Todeskulte erweisen, wird die digitale Welt zum Uncanny Valley im Banne unbewusster Beschwörungen und trügerischer Erscheinungen – bevölkert von Untoten, psychotischen Robotern und inkommensurablen Hybridobjekten. In diesem Gewimmel unsichtbarer Hände verwandelt sich die Affektökonomie der sozialen Medien zum gespenstischen Friedhof der Kuscheltiere und zur schwelenden Brutstätte nervöser Leiden. Monströse Deutungsmächte und Legionen unsichtbarer Regeln im digitalen Labyrinth des Unbewussten können entmutigend wirken, aber die Einsicht ihrer konstruierten Bedingtheit ist tröstlich und erheiternd. Schon die ersten Geisterbahnen und „Geister-Daguerreotypien“ waren nicht nur technologische Errungenschaften, sondern auch populäre Formen der Unterhaltung.