Heft 4/2019 - Netzteil


Von der Teilnahme zur Aneignung

Ein Horizont künstlerischer Praxis?

Felix Stalder


Den Fokus auf vielfältige Aneignung einer geteilten Ressource zu setzen, eröffnet einen Horizont künstlerischer Praxis jenseits von Funktionalisierung und Fremdbestimmung, die so oft die Praxis partizipativer Projekte kennzeichnen

Seit den 1960er-Jahren, als die kulturelle Ordnung der Moderne – McLuhans „Gutenberg-Galaxis“ – ins Rutschen kam, spielt das Konzept der „Partizipation“ eine wichtige Rolle in der Erweiterung der Praktiken der Kunst und der Neudefinition der Rollen und Verhältnisse von KünstlerInnen und Publikum. FluxuskünstlerInnen öffneten mithilfe von Handlungsanleitungen („scores“) die Ausführung einer künstlerischen Handlung, sozial- und politisch-orientierte „Post-studio“-Praktiken bezogen das Publikum oder andere nicht künstlerische AkteurInnen mit in die Produktion von künstlerischen „Situationen“ ein, interaktive Kunst machte die aktive Teilnahme der BetrachterInnen zur Rezeptionsbedingung. Unter dem Banner der „relationalen Kunst“ wurde Partizipation, reduziert auf ein unspezifisches gemeinsames „Verleben von Zeit“, zum eigentlichen Fokus des künstlerischen Handelns erhoben.
Diese Entwicklung war weder zufällig noch isoliert, sondern eingebettet in größere gesellschaftliche Veränderungen. Zum einen in die Entstehung einer medialen Infrastruktur, die massenhafte Selbstkommunikation ins Zentrum rückte und Subjektivierungsweisen jenseits des stummen Rezipienten begünstigte. Zum anderen in den Aufstieg der kommunikativen und informationellen Dimensionen der Arbeit und der damit einhergehenden zunehmenden In-Wert-Setzung von bisher marktfernen sozialen und kulturellen Alltagshandlungen.

Kritik der Partizipation
Entlang der Utopien und Ernüchterungen, welche diese Prozesse über die letzten 50 Jahre begleiteten, erfuhr auch die Idee der Partizipation in der Kunst eine Umwertung. Stand sie zu Beginn, und teilweise immer noch, für das Aufbrechen traditioneller kultureller Konfigurationen und Machtverhältnisse, so wurde Partizipation auch von neuen, flexiblen Ausbeutungs- und Machtverhältnissen in Dienst genommen. Spätestens an der weitgehend sinnentleerten Idee der Partizipation in Nicolas Bourriauds Ansatz einer „relationalen Ästhetik“ (1998) entzündete sich eine grundsätzliche Kritik an der Idee der Partizipation als künstlerische Strategie. So betonte etwa Claire Bishop (2012) die Kompatibilität von partizipativen Ansätzen mit neoliberalen Formen der Kontrolle durch Aktivierung und der wenn nicht direkten Ökonomisierung, so doch Funktionalisierung von Kunst gemäß den wechselnden Agenden von Ausstellungshäusern und Fördereinrichtungen. Auf der Rezipientenseite zeuge die Bereitschaft zur Teilnahme, so Bishop, von einer problematischen Tendenz zur „freiwilligen Unterordnung unter den Willen des/der KünstlerIn und zur Kommodifizierung des menschlichen Körpers in der Dienstleistungsindustrie“. Der Modus der Unterordnung komme daher, dass es meist der/die KünstlerIn ist, welche/r die Bedingungen der Teilnahme im Voraus bestimmt sowie das Gegenüber mit einer bereits vorbestimmten Situation konfrontiert und ihm/ihr nur die Möglichkeit lässt, sich entweder den gesetzten Bedingungen zu fügen oder die Teilnahme zu verweigern. Wirkliche Freiheit ist das nicht. Denn was auf den ersten Blick wie eine Aufgabe von Macht aussieht – schließlich werden ja gewisse Elemente Dritten überlassen –, stellt sich bei genauerer Betrachtung als die Ausübung einer anderen Form von Macht heraus: die Bedingungen der Interaktion, die sozialen und technischen Protokolle festzulegen und damit von Anfang an auf die eigenen Interessen auszurichten, ohne den Beteiligten je sagen zu müssen, was sie zu tun haben. Die Kommodifizierung kommt daher, dass auch unbezahlte, freiwillige Tätigkeiten eine Form von Arbeit darstellen, deren Wertschöpfung an anderer Stelle organisiert werden kann. Die sozialen Massenmedien haben diese beiden Prinzipien sehr erfolgreich institutionalisiert, mit all den Problemen, die wir heute deutlich sehen können.
Bishop führt gegen diese Indienstnahme der Kunst durch KuratorInnen und Fördereinrichtungen eine erneute Autonomie der Kunst, die als symbolische Aktivität immer einen Schritt von der Gesellschaft entfernt sein sollte, ins Feld. Sie bleibt jedoch vage, wie denn eine solche Autonomie des künstlerischen Handelns aussehen könnte. Viele interpretieren dies als eine Rückkehr zu einem recht konventionellen Kunst- und Werkbegriff, vielleicht auch deshalb, weil sich dies sehr gut in den konservativen Zeitgeist einfügt.

Der Horizont der Appropriation
Allerdings muss das nicht die einzige Schlussfolgerung sein, die man aus der nicht unberechtigten Kritik der Partizipation ziehen kann. Eine Reihe von ambitionierten künstlerischen Projekten, die vom Forschungsprojekt Creating Commons untersucht werden, verabschiedet sich ebenfalls von der Idee der Partizipation. Sie stellen dafür, explizit oder implizit, die Idee der „freien Ressource“ und die Praxis der Aneignung ins Zentrum. Wobei hier nicht wie in der klassischen „appropriation art“ die Aneignung durch ein privilegiertes Künstlersubjekt im Zentrum steht, sondern der Prozess der Aneignung selbst geöffnet wird.
Kenneth Goldsmith, der seit 1997 ubuweb, ein Online-Archiv der audiovisuellen Avantgarde, betreibt, bietet keinerlei Möglichkeiten für die NutzerInnen des Archivs an, selbst etwas beizutragen. Er alleine trifft alle Entscheidungen, von den technischen bis zu den kuratorischen, wie er in einem Interview mit Cornelia Sollfrank (2013) ausführte. Hier wird nicht auf die „wisdom of the crowds“ gesetzt, noch soll eine multiperspektivische Auswahl getroffen werden. Nein, im Zeitalter des überbordenden Chaos, betont Goldsmith, sei es die Aufgabe des/der KünstlerIn, hineinzugehen und Ordnung zu schaffen, das heißt, einen Kontext zu entwickeln, in dem Dinge wieder in einen spezifischen Sinnzusammenhang gestellt werden. Gleichzeitig handelt es sich aber auch nicht einfach um eine definitive, zeitlose Auswahl basierend auf der Autorität des/der KennerIn, sondern um eine hochgradig situierte. Goldsmith wird nicht müde zu betonen, dass er als Künstler eigentlich die falsche Person sei, um ein kunstgeschichtliches Archiv zu betreiben, und dass es sich streng genommen gar nicht um ein Archiv (mit dem Anspruch auf langfristige Sicherung) handle. Vielmehr könnte das „persönliche Projekt“ von einem Tag auf den anderen zu Ende sein und ubuweb wieder von Netz verschwinden, aus welchem Grund auch immer. Die Aufforderung, die sich daraus ergibt, ist, dass jede/r doch das herunterladen sollte, was ihm/ihr persönlich wichtig sei, um so die eigene Auswahl vor dem Verschwinden zu schützen. Damit das auch praktikabel ist, ist jedem Werk auch ein Download-Link hinzugefügt. Die Möglichkeit des Downloads ist aber nicht nur wegen der ephemeren Struktur des Archivs relevant, sondern weil es jedem/r erlaubt, aus der Rolle des/der RezipientIn herauszutreten und das Werk in einen vollkommen anderen Nutzungskontext zu überführen.
In der Tat, um ubuweb zu nutzen, muss man weder Goldsmith’ Theorie der Unkreativität (2011) als Kontextverschiebung teilen, noch sich in einer anderen Weise auf den von ihm gesteckten Rahmen einlassen. Man kann sich auch einfach die Ressource(n) aneignen und damit machen, was immer man möchte. Dennoch ist ubuweb nicht nur eine funktionale Plattform, ein normaler File-Hoster, sondern symbolisch wie praktisch eine Untersuchung dessen, was künstlerisches Handeln heute, unter den Bedingungen einer chaotischen, überbordenden und durchkommerzialisierten Informationssphäre, bedeuten kann. Entsprechend verschwindet die Figur des/der KünstlerIn auch nicht. Im Gegenteil, Goldsmith ist inzwischen selbst zum Star geworden, der an Eliteuniversitäten lehrt und ins Weiße Haus eingeladen wurde. Aber er, und das ist neu, definiert nicht mehr alleine den Rahmen, in dem sich ein/e NutzerIn bewegen kann.
In dieser Verschiebung spielt die Idee der freien Ressource eine zentrale Rolle. Sie bietet die gemeinsame Grundlage, von der aus jede/r ihre/seine eigenen hochgradig kontextspezifischen Realitäten schaffen kann. Es geht hier also um eine neue Artikulation des Verhältnisses des Singulären zum Kollektiven. Liegt vielen partizipativen Projekten die Utopie der (temporären) Gemeinschaft zugrunde, so bleibt die Rolle der/des KünstlerIn als UrheberIn dieser einen Gemeinschaft doch unangetastet. Entsprechend sammelt sich der Mehrwert der Partizipation meist nicht bei den TeilnehmerInnen, sondern bei den KünstlerInnen. Die Möglichkeiten der Aneignung schaffen ein anderes Verhältnis. Die Rolle des/der KünstlerIn als AutorIn der Ressource bleibt weiterhin stark, aber die NutzerInnen haben die Möglichkeit, diese in ihren eigenen Kontext, der mit oder ohne Referenz zur „Quelle“ existieren kann, zu überführen oder selbst als AutorIn zu fungieren und damit deutlich an Handlungsfreiheit zu gewinnen.
Im Grunde könnte man die Praxis der Aneignung als eine Art „Personalisierung“ bezeichnen. Dinge werden in eine Form gebracht, in der sie der Situiertheit des/der NutzerIn entsprechen. Im Unterschied zur Personalisierung, wie diese von den „sozialen Massenmedien“ betrieben wird, liegt hier die Kontrolle über diesen Prozess aber nicht beim zentralen Anbieter, sondern an der Peripherie, bei jedem/r Einzelnen. Auch wenn dies die in partizipativen Projekten heute so deutlich sichtbaren Probleme der Unterwerfung und In-Wert-Setzung nicht automatisch aufhebt, schafft die Verschiebung hin zur Aneignung doch eine neue Freiheitsdimension, deren Möglichkeiten weder künstlerisch noch politisch ausgeschöpft sind.

Bishop, Claire, Artificial Hells: Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London: Verso 2012.
Bourriaud, Nicolas, Esthétique relationnelle. Dijon: Les Presses du reel 1998.
Creating Commons; http://creatingcommons.zhdk.ch/.
Goldsmith, Kenneth, Uncreative Writing. Managing Language in the Digital Age. New York: Columbia University Press 2011; https://monoskop.org/media/text/goldsmith_2011_uncreative_writing/.
Sollfrank, Cornelia, The Poetry of Archiving, Interview with Kenneth Goldsmith, 2013; http://creatingcommons.zhdk.ch/?p=365.