Heft 4/2019 - Netzteil
Edukatorische Formate und Projekte im Kunstfeld gehören inzwischen – jedenfalls seit dem „educational turn“1 – zur alltäglichen Praxis. Kunstinstitutionen bieten Workshops an oder stellen Ressourcen bereit für vielfältige Formate: Colleges, Akademien, Free Schools.2 Damit stellen sie Lernsituationen her, in denen spekuliert, reflektiert, aktualisiert und produziert werden kann – unabhängig von verordneten Notwendigkeiten, entlang selbstbestimmter Dringlichkeiten. Als Teil kuratorischer Praxis ausführlich theoretisiert und problematisiert stehen diese Aktivitäten für einen „Shift vom Ausstellungmachen zur Produktion von Wissen“3 und haben die ehemals eher stiefmütterlich behandelten Fragen von Bildung als (Teil-)Aufgabe der Kunst dem Bereich der klassischen Vermittlung entrissen und mit der Symbolkraft neuer diskursiver Macht ausgestattet. Darauf reagierte die Kunstvermittlung mit einem eigenen Shift, einem „educational turn in education“4, der darin besteht, vermehrt radikale und kritische Bildungsansätze aufzugreifen und weiterzuentwickeln – in eine kritische Praxis der Vermittlung.
Fragen, die sowohl im kuratorischen Feld als auch im Feld der Vermittlung diese Entwicklungen begleiten, sind Fragen nach dem eigenen Verhältnis zur Institution, aus der heraus bzw. innerhalb derer gearbeitet wird. Nicht selten produziert nämlich die direkte Verschränkung mit institutionellen Machtverhältnissen Widersprüche zur erklärten kritischen Praxis – und solche Widersprüche können allein durch Reflexion nicht immer positiv gewendet bzw. produktiv gemacht werden. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum KünstlerInnen und KulturproduzentInnen daran arbeiten, eigene Orte und Räume für den Umgang mit Wissen zu schaffen. Das Herstellen selbstbestimmter Situationen zum Lernen – und Verlernen – verspricht, institutionell gesetzten Grenzen zu entgehen und damit nicht nur inhaltlich freier agieren zu können, sondern darüber hinaus durch ein grundsätzliches Infragestellen von traditionellen Wissenspraxen neue Methoden der Produktion und Vermittlung von Wissen praktisch zu erproben.
Ausgehend von der Arbeit im Forschungsprojekt Creating Commons, worin ästhetische Praxen untersucht werden, die sich für die Herstellung oder den Erhalt digitaler Commons engagieren,5 möchte ich hier über einige ausgewählte Projekte reflektieren, bei denen auch edukatorische Aspekte eine wichtige Rolle spielen. Dabei handelt es sich um unterschiedliche Formate, die zum Großteil außerhalb traditioneller Institutionen angesiedelt sind. In den Projekten verschränkt sich das, was Philip Agre „Critical Technical Practice“6 genannt hat, mit Selbstorganisation im erweiterten künstlerischen Umfeld und emanzipatorischen pädagogischen Ansätzen.
The Public School
Ein inzwischen klassisches Projekt ist The Public School.7 Von dem US-amerikanischen Künstler Sean Dockray 2008 in L.A. gegründet hat es sich aus dem gemeinsamen Lesen in Reading Groups entwickelt, wobei auch der selbstorganisierte Kunstraum, in dem sich diese Gruppen trafen, ein wichtiges Element war. Es ist eine Schule ohne Lehrplan, die sich aus einer Gruppe Interessierter, einem Raum, in dem sie sich treffen können, sowie einer Website zusammensetzt, über die die einzelnen Seminare abgestimmt werden. Das Prinzip beruht darauf, dass Einzelne anbieten, was sie unterrichten können oder wozu sie gerne arbeiten würden, und andere bestimmte Wünsche platzieren. Das heißt, die Inhalte der Seminare werden nicht kuratiert, sondern entwickeln sich ausschließlich entlang der Bedürfnisse und Kompetenzen der Teilnehmenden. Der Prozess des Aushandelns findet online statt, auf der Website des Projekts, die alle Entscheidungsfindungen nicht nur transparent nachverfolgen lässt, sondern auch offen ist für alle Interessierten. Damit ist sie das organisatorische Herzstück des Projekts. Für die ProgrammiererInnen der Website bildet sich in der Software der politische Anspruch des Projekts am stärksten ab: „Jede Programmierentscheidung nimmt Einfluss darauf, was die UserInnen sehen und wie sie agieren können.“8 Damit sich der Anspruch größtmöglicher Inklusivität realisieren kann, wird die Website in Absprache mit den NutzerInnen immer wieder angepasst und weiterentwickelt. Damit ist das Tool, das neue Situationen der Wissensproduktion ermöglicht, selbst Teil des „Commoning“-Prozesses. Es begegnen sich nicht nur Form und Inhalt, um einen neuen Möglichkeitsraum zu eröffnen; es trifft sich auch digitale vernetzte Infrastruktur mit einer lokalen Community. Aufgrund seiner universell angelegten Struktur konnte sich das Projekt in etwa ein Dutzend andere Städte ausbreiten.
Mz* Baltazar‘s Lab
Ein Projekt, das im Gegensatz etwa zu AAAARG ganz wesentlich durch seine lokale Verortung und die Bildung einer Community an Schlagkraft gewinnt, ist das in Wien angesiedelte Mz* Baltazar‘s Lab9, ein seit 2008 bestehendes Hacklab, betrieben von einem trans*feministischen Kollektiv. Den Kern dieses Projekts bildet der Raum, in dem Workshops, Meetings, Vorträge und Ausstellungen stattfinden. Nach Aussage von Stefanie Wuschitz, einer der Mitbegründerinnen, stellt der physische Raum als gemeinsame Ressource ein wichtiges Moment dar, um die höchst diversen NutzerInnen zusammenzubringen und kollektive Praxen entstehen zu lassen.10 Kollektivität bedeutet gemeinsame Wissensproduktion, aber auch Sorge und Solidarität.11 Die Ethnologin Sophie Toupin verortet Mz* Baltazar‘s Lab in der weltweiten Szene feministischer Hackspaces, die durch das Schaffen eigener Räume feministische Widerstandspraktiken befördern und das herkömmliche Verständnis von Hacking mit geschlechtsbezogenen und feministischen Aspekten erweitern.12 Intersektionalität ist ein weiteres wichtiges Arbeitsprinzip, und die damit einhergehende Beschäftigung mit Ungleichheit, Unterdrückung und Gewalt bringt ganz neue Dynamiken in das stark männlich und weiß geprägte Technikfeld. Entsprechend entwickeln sich die Aktivitäten des Hackspaces entlang der Prinzipien feministischen Hackens13, zu dessen Grundannahme gehört, dass sowohl Technik als auch Geschlecht codierte und somit auch codierbare, das heißt veränderbare Systeme sind. Feministische Hackspaces sind Orte, an denen ein Miteinander gepflegt wird, das sich deutlich von der traditionellen Hackerszene und dessen gnadenloser Meritokratie unterscheidet, wodurch möglichst viele und unterschiedliche Menschen sich in einem emanzipatorischen Umgang mit Technik schulen können.
École de recherche graphique (e.r.g.)
Die genannten Projekte könnten durch eine Reihe weiterer Beispiele ergänzt werden, denn fast alle der von Creating Commons untersuchten Projekte besitzen auch edukatorische Aspekte. Diese reichen von Workshops im Rahmen von öffentlichen Institutionen14 bis hin zu eigenen Infrastrukturen15 und selbstorganisierten Schulen16. Wie ein radikal-kritischer pädagogischer Ansatz innerhalb einer Institution deren Grenzen ausloten und sogar erweitern kann, zeigt das Beispiel der École de recherche graphique (e.r.g.) in Brüssel. Die in der Tradition experimenteller Hochschulen der 1970er-Jahre stehende, öffentlich geförderte Schule vollzieht unter der derzeitigen Leiterin Laurence Rassel seit 2016 eine institutionelle Transformation. Die Prinzipien der freien Software werden in Rassels Managementkonzept kombiniert mit Feminismus sowie der in Frankreich im Zusammenhang mit der Reformpsychiatrie entwickelten „Institutionellen Psychotherapie“17. Für Rassel steht dabei im Mittelpunkt, das Festgefahrene in einer Institution, das Instituierte, in einem Prozess der Neu-Instituierung18 wieder in Bewegung zu bringen. Zentrales Anliegen ist nicht der Aufbau außerinstitutioneller Zusammenhänge, sondern die Transformation einer bestehenden Struktur mit dem Ziel, alle Beteiligten in den Prozess der Umgestaltung einzubeziehen und damit eine Form von Kollektivierung zu praktizieren.
Eductional Commoning
Für alle edukatorischen Ansätze im Bereich der digitalen Commons sind die Prinzipien der freien Software eine wesentliche Inspiration.19 Sie konfigurieren nicht nur die kollaborative und quelloffene Erstellung von Software, sondern stehen darüber hinaus in ihrer sozialen Dimension für eine Neuausrichtung der Machtverhältnisse in Bezug auf die Schaffung, Verbreitung und Autorisierung von Wissen im Zeitalter des Internets. Mit Werten wie Kollektivität, Transparenz, neuen Formen von Selbstorganisation und radikalem freien Zugang20 geben sie wesentliche Impulse für emanzipatorische Wissenspraxis im Allgemeinen.
Indessen sind diese Werte nicht einfach vorhanden, sondern Gegenstand eines andauernden Prozesses des Verhandelns, Reflektierens und Weiterentwickelns, das heißt des „Commonings“. Edukatorische Formate sind in diesem Zusammenhang nichts anderes als das Schaffen von Situationen, in denen dieser Prozess stattfinden kann. Dabei wird nicht nur gegebenes Wissen vermittelt, sondern auch zur Disposition gestellt, was von wem als Wissen anerkannt und legitimiert wird und wie ein vielfältiges Wissen entstehen bzw. verbreitet werden kann. Gemeinsames Lernen – und Verlernen – gehört damit zu den wesentlichen Ressourcen digitaler Commons.
[1] Siehe Irit Rogoff, Wenden, in: Beatrice Jaschke/Nora Sternfeld (Hg.), educational turn. Handlungsräume der Kunst und Kulturvermittlung. Wien 2012.
[2] Einige Beispiele: Community College, Nachbarschaftsakademie, metroZones Schule für städtisches Handeln, A.C.A.D.E.M.Y, Free University etc.
[3] Jaschke/Sternfeld, S. 14.
[4] Ebd., S. 17.
[5] http://creatingcommons.zhdk.ch/
[6] Philip Agre, Toward a Critical Technical Practice: Lessons Learned in Trying to Reform AI, in: Geoffery Bowker et al. (Hg.), Bridging the Great Divide: Social Science, Technical Systems, and Cooperative Work. Hillsdale 1997.
[7] http://thepublicschool.org. Die technische Infrastruktur wird gerade umstrukturiert und neu programmiert.
[8] Interview mit Sean Dockray, Expanded Approproation; https://vimeo.com/60889535.
[9] http://www.mzbaltazarslaboratory.org/
[10] Feminist Hackspace, Interview with Patricia Reis and Stefanie Wuschitz (2018); https://vimeo.com/319823285.
[11] Siehe dazu auch den Text „Neue Welten erfinden – mit cyberfeministischen Praxen und Ideen“ von Spideralex, in: Cornelia Sollfrank (Hg.), Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert. Wien 2018.
[12] Vgl. Sophie Toupin, Hackerspaces: The Synthesis of Feminist and HackerCultures, in: Journal of Peer Production, issue #5: Shared Machine Shops, 2014.
[13] Vgl. Sophie Toupin, Feministisches Hacking. Widerstand durch das Schaffen neuer Räume, in: Sollfrank, Die schönen Kriegerinnen.
[14] Etwa Public Library, Ausstellung im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, 2014; https://www.wkv-stuttgart.de/en/program/2014/events/public-library/.
[15] Beispielsweise Furtherfield; http://www.furtherfield.org/.
[16] Relearn: Variable Summerschool; http://constantvzw.org/site/Relearn-Variable-Summerschool.html.
[17] https://en.wikipedia.org/wiki/Institutional_psychotherapy
[18] Vgl. Gerald Raunig, Instituierende Praxen. Fliehen, Instituieren, Transformieren, transversal texts, 2006; http://eipcp.net/transversal/0106/raunig/de.html.
[19] Vgl. Free Software Foundation Europe; https://fsfe.org/about/basics/freesoftware.de.html sowie Christopher Kelty, Two Bits. The Cultural Significance of Free Software. Durham/London 2008.
[20] Vgl. das Guerilla Open Access Manifest von Aaron Swartz; https://de.wikipedia.org/wiki/Guerilla_Open_Access_Manifest.