Heft 1/2020 - Lektüre



Matthew Fuller/Olga Goriunova:

Bleak Joys

Aesthetics of Ecology and Impossibility

Minneapolis/London (University of Minnesota Press) 2019 , S. 73 , EUR 28

Text: Christian Höller


Ökologische Ästhetik als „finsteres Vergnügen“: Mit dieser widerborstigen Metapher fangen Matthew Fuller und Olga Goriunova die Dringlichkeit des gegenwärtigen Moments ein. Eine außer Rand und Band geratene planetarische Ökologie, deren drohende Düsternis groß auf dem Horizont geschrieben steht, trifft darin auf einen Hedonismus des Denkens, der sich nicht wirkungslos im Negativen verheddern will. Bleak Joys, also „trostlose Freuden“ oder „öde Wonnen“ sind es, die jegliches Ansinnen gegen das Katastrophische der Gegenwart in neue Bahnen lenken sollen. Konkret geht es um einen „ethisch-ästhetischen“ Leitfaden, wie sich der großen, immer universeller werdenden Sackgasse begegnen lässt, während doch alles seinen auf Glück und Wohlstand (für die verschwindend wenigen) gepolten Lauf nimmt. Ein Manövrieren im Finstern, ohne dabei die affirmativen Kräfte eines (Besser-)Werdens aus dem Blick zu verlieren – so lässt sich Fullers und Goriunovas Programm fassen, das kein Programm ist, aber einen grandiosen denkerischen Bogen über eine zugleich zerfallende wie unaufhaltsam fortschreitende Jetztzeit spannt.
Ausgangspunkt der auf sechs Grundkoordinaten ruhenden Kartografie ist Félix Guattaris gegen Ende seines Lebens entwickeltes „ethisch-ästhetisch Paradigma“. Guattari hatte damit (in seinem letzten Buch Chaosmose, 1992) ein polyphones, transversales Denken über verschiedenste Register und Sphären hinweg zusammenzufassen versucht, das einem befreienden Werden – vom Physischen über das Subjektive bis hin zum Sozialen und Kosmischen – verpflichtet ist. Und nicht zu vergessen dem Ökologischen, das nicht erst mit der Klimakrise (in Fullers und Goriunovas unmissverständlichen Worten: „climate damage“) in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit trat, sondern schon lange davor Diskursthema war, etwa in Guattaris berühmten drei Ökologien (mental, sozial, umweltlich) aus den späten 1980er-Jahren. Dieses „ethisch-ästhetisch Paradigma“, das sich über den engeren Ausschnitt des Humanen hinweg über vielerlei – transsubjektive wie transglobale – Skalen erstreckt, legen Fuller und Goriunova auf sechs herausragende Merkmale der Jetztzeit um: Verwüstung1, Angst/Qual („anguish“), Unlösbarkeit, Glück/Zufall, pflanzliche Intelligenz und Zuhause/Heimat („home“). Was auf den ersten Blick wie eine lose Zusammenschau diversen Theorietreibguts wirkt, erweist sich unter der Ägide der „Bleak Joy“-Metapher als pointiert verzahntes und Bereichsgrenzen durchdringendes – ja, Paradigma.
Famos modulieren Fuller und Goriunova ihre ethisch-ästhetische Neuaufnahme über verschiedenste Ausgangs- bzw. Referenzbereiche hinweg. Die Verheerungen, die etwa die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl angerichtet hat, „räsonieren“ mit der Grundbefindlichkeit der Angst, wie sie in den Filmen von Kira Muratova zum Tragen kommt – welche selbst Teil einer längeren Genealogie sind, deren verbindendes Element die „reine Immanenz“, das Nicht-einfach-transzendieren- oder Abschütteln-Können der Qual ist. Verwoben ist diese existenzielle Grundstimmung mit dem Syndrom der Unlösbarkeit („irresolvability“), wie sie im Lauf des Kalten Kriegs im Rüstungswettlauf und in der Wirtschaft immer drastischere Züge annahm und heute das Ökologische gleichermaßen erfasst hat. Als „Bedingung der Unmöglichkeit“ (was immer man macht oder entscheidet, ist falsch) sticht diese grundlegende Unentscheidbarkeit tief in das amorphe Plateau hinein, das wahlweise als Risiko, Schicksal, Glück oder (für die überwältigende Mehrheit) als Unglück erfahren wird. Aber selbst dieses quer durch alle Bereiche schneidende Prinzip des Zufalls lässt sich als ein – zumal nicht anthropozentrisch verstandenes – Werden umdeuten: ein das Nichthumane ebenso implizierendes Werden, das seine Blaupausen beispielsweise in den hochinteressanten (neuen) Forschungsfeldern rund um pflanzliche Intelligenz und Kommunikation findet. Von da aus – festgemacht an der ästhetischen Figur der Arabeske bzw. des botanisch Polymorphen – erfolgt ein letzter, nicht als Abschluss zu betrachtender Schritt hin zu einem Neudenken von „Zuhause“ und (komplementär damit zusammenhängender) Migration. Ein „nach außen offenes“ Zuhause, beispielhaft verkörpert im Topos des Walds in den Filmen von Anatoly Efros oder den Schriften des Philosophen Vladimir Bibikhin, wird solcherart zu einem weiteren Knoten in der fortsetzbaren Kette „getrübter Freuden“: ein Heim, das sich über eine Reihe verschiedenster Achsen, von der politisch-poetischen bis hin zur ökonomisch-ökologischen, zu erstrecken anfängt.
Klingt nach einer Menge? Ist es auch, und manchmal treiben Fuller und Goriunova den Abstraktheitsgrad ihrer neuralgischen sechs Themen bis ins exzesshaft Überbordende. Doch in all dem dichten ethisch-ästhetischen Gewebe – oft verschwimmt der Wald (der ökologischen Ästhetik) vor lauter schillernden Bäumen ein wenig – ertönt auch immer wieder ein ordnender Refrain. Das klingt dann, etwa in Bezug auf ein heute immer schwieriger zu findendes, vom Klimaschaden bedrohtes Zuhause, so: „imaginary and painfully real, homes can be constructed in anguish; they mutate in devastations and are gambled with in the scenarios of irresolvability. The luck or fate of home is often linked to the politics of planting.“
Die unheilvollen Auswüchse solcher Politiken sind inzwischen hinlänglich bekannt. Wollte man ein dagegen ansinnendes Gegenwartsverständnis auf den Punkt bringen, die sechs ineinander verhakten Vignetten von Bleak Joys wären sein kongenialer Ausdruck.

1 Vgl. Matthew Fuller/Olga Goriunova, Über Devastierung: Wie sich die Kraft der Zerstörung im Zusammenhang einer allgemeinen Ökologie neu denken lässt, in: springerin 4/2017, S. 34ff.