Heft 1/2020 - Artscribe


Alfred Schmeller. Das Museum als Unruheherd

27. September 2019 bis 16. Februar 2020
mumok / Wien

Text: Kathrin Heinrich


Wien. Eine überdimensionierte weiße Luftmatratze, auf der drei riesige weiße Bälle umherkullern, sanft auf und ab schweben, aneinander abprallen. Mittendrin Kinder, Großeltern, eine Handvoll asiatischer TouristInnen, die gemeinsam fröhlich jauchzend auf der Riesenbillard-Installation hüpfen.
Es ist ein ungeheurer Spaß, mit dem sich Kuratorin Susanne Neuburger aus dem mumok verabschiedet. Nach knapp vier Jahrzehnten am Haus widmet sie ihre letzte Ausstellung seinem zweiten Direktor Alfred Schmeller, der von 1969–79 die Öffnung des Museums forcierte. Mit der Rekonstruktion des gigantischen Riesenbillards von Haus-Rucker-Co aus der Ausstellung Live (1970) beginnt Alfred Schmeller. Das Museum als Unruheherd dabei ganz im Sinne seines Namensgebers, der die interaktive Arbeit ursprünglich mit dem Slogan „Der Prater ist geschlossen. Kommen Sie ins Museum!“ bewarb.
Schmeller, der zuvor maßgeblich den Art Club prägte und als Kunstkritiker beim Kurier sowie als Landeskonservator des Burgenlands tätig war, wollte das damalige 20er-Haus auch für nicht kunstaffines Publikum zugänglich machen. Dies gelang ihm nicht nur, indem er vielfältige kulturelle Veranstaltungen ins Haus einlud – etwa die Wiener Festwochen mit dem Avantgardefestival Arena –, sondern insbesondere durch die Etablierung eines Vermittlungsprogramms, das „die Distanz zwischen den Menschen und der Kunst“ verringern sollte. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf die Kunstvermittlung für Kinder, die er etwa in der Broschüre Adolf Loos für junge Leute direkt und sprachlich unkompliziert adressierte. Der Erfolg dieser Maßnahmen stellte sich rasch ein, bereits im ersten Jahr seiner Direktion konnte die Besucherzahl verdoppelt werden. 1972 war im Observer zu lesen: „Sprichwörtliche Museumsstille durch 500 Kinder im Zwanzigerhaus erfolgreich verjagt“.
Ein ganzes Stockwerk im mumok-Untergeschoss nimmt das Riesenbillard in der aktuellen Schau ein, die Bälle reichen nahezu unter die Decke. Ergänzt wird die Arbeit sowohl durch fotografische Dokumentation (Cora Pongracz, Peter Baum) als auch durch Zeitungsberichte, Briefe, Ausstellungsfolder und den sogenannten Beethoventurm, ein hohes Gerüst, an dem sich junge MuseumsbesucherInnen kreativ ausleben konnten.
Zwei Geschosse tiefer setzt sich die Ausstellung dann wesentlich nüchterner fort. Den einzigen Unruheherd stellt das monotone Surren von Cornelius Koligs Entfärber (1971) dar, das durch die Landschaft hölzerner Wandeinbauten dröhnt. Das von Eva Chytilek und Jakob Neulinger entworfene kubische Ausstellungsdisplay verweist auf Schmellers Adolf-Loos-Ausstellung 1970, ihr braunes Erscheinungsbild evoziert jedoch unweigerlich auch die Schrankwände der 1950er- und 1960er-Jahre, die noch lange darüber hinaus so manch bürgerliches Wohnzimmer verdunkelten.
Vor diesem Hintergrund strahlt die Kunst aus Schmellers Ära besonders kräftig. Denn neben der Weiterführung der auf die klassische Moderne ausgerichtete Sammlungspolitik seines Vorgängers Werner Hofmann setzte Alfred Schmeller starke eigene Akzente durch sein Interesse für Neuinterpretationen des Surrealismus. Nebeneinander gehängt stellt insbesondere eine Reihe großformatiger figurativer Gemälde von KünstlerInnen der Gruppe Wirklichkeiten die Ausdruckskraft der realistischen Malerei in Österreich unter Beweis. Peter Pongratz, Eduard Angeli, Heinz Stangl, Franz Ringel, Martha Jungwirth und Peter Sengl gehörten zu oder wurden inspiriert von der losen Gruppe, deren Name von der Schau Wirklichkeiten in der Secession im Mai 1968 geprägt wurde.
Einen weiteren Fokus Schmellers Sammlungspolitik bilden die Arbeiten der sogenannten Chicago Imagists. Die Ankäufe seien in der Wiener Museumslandschaft „eine Sensation“ gewesen, verrät der Saaltext. Dabei sind die Parallelen zu den österreichischen ZeitgenossInnen unübersehbar: Kräftige, ins Neon neigende Farbigkeit, Anleihen ethnografischer Volkskunst, Comics und Graffiti ebenso wie skurril bis vulgäre Motive aus Alltags- und Konsumkultur dominieren die Werke von Künstlern wie Art Green, Philip Hanson, Gladys Nilsson oder Jim Nutt.
Manche der wenig bekannten Werke waren bereits in Sammlungspräsentationen der letzten Jahre zu sehen. Etwa Ed Paschkes grelle Jeanine (1973), die nach langen Jahren des Depotschlummers in 55 Dates 2018 unter anderem PicassosFemme assise à l’écharpe verte (1960) zur Seite gestellt wurde. Doch hat es einen besonderen Reiz, die Werke in dem ihnen eigenen Kontext zu betrachten und Querverbindungen herzustellen, wie es Das Museum als Unruheherd ermöglicht. Das langfristige Bestreben des mumoks, die eigene Sammlungspolitik seit Entstehen des Hauses aufzuarbeiten, gibt durch eben solche Ausstellungen auch die Chance auf Wieder- bzw. für Nachgeborene die Neuentdeckung künstlerischer Positionen, die es schon lange nicht mehr aus dem Depot geschafft haben.
Durch die räumliche Zweiteilung der Schau wird jedoch auch deutlich, dass Schmellers Vision vom „Museum als Unruheherd“ weder bereits eingelöst noch überkommen ist. Denn auch wenn das Publikum seit den 1970er-Jahren auf vielfältige Art und Weise angesprochen, eingebunden und zur Partizipation angehalten wurde, herrscht gerade in Museen der modernen und zeitgenössischen Kunst vielerorts eine besonders tiefe Museumsstille. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, vom Riesenbillard zu hopsen und in eines der anderen Stockwerke zu spazieren.