Heft 1/2020 - Artscribe


Sleeping with a Vengeance, Dreaming of a Life. Mit Nachdruck schlafen, von einem Leben träumen

19. Oktober 2019 bis 12. Januar 2020
Württembergischer Kunstverein Stuttgart / Stuttgart

Text: Marlene Rigler


Stuttgart. Was Ruth Noack als Gastkuratorin im Kuppelsaal des Kunstgebäudes Stuttgart zeigt, ist ein prozessuales Dispositiv, das 42 künstlerische Positionen vereint und formal wie inhaltlich neue Maßstäbe setzt. Trotz vorangegangener Stationen in Projekträumen in Athen, Prag und zuletzt Bejing handelt es sich nicht um eine Wanderausstellung im Sinne mehrerer Stationen derselben Werke; trotz der Präsenz von künstlerischem Archivmaterial in Boxen zentral im Ausstellungsraum nicht um eine zweidimensionale, dokumentarische Präsentation. Vielmehr gewährt Noack Einblick in die wechselseitige Abhängigkeit von kuratorischem Reflexionsprozess und künstlerischem Produktionsprozess. Sie zeigt die Genese einer Ausstellungsidee, ausgehend von Skizzen (z. B. Ibon Aranberri), Text- und Soundfragmenten (z. B. Hu Wei), Collagen (z. B. Annette Ruenzler, Gülsün Karamustafa) oder performativen Objekten (z. B. Livio Casanova), bis hin zu deren erstmaliger Realisierung in Stuttgart. Noack eröffnet einen Denkraum, der – wie die situationistische dérive –, intuitiv funktioniert. Die piktorale „Urszene“ der Ausstellung ist eine Postkarte, die Camille Pissaros Gemälde Le repos, paysanne couchée dans l’herbe, Pontoise (Im Gras liegende Landarbeiterin, 1882) zeigt. Das Gemälde ist doppeldeutig: Schläft die Landarbeiterin aus Erschöpfung, verursacht durch die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen einer sich rapide industrialisierenden Gesellschaft? Oder hat sie den Rechen absichtlich niedergelegt, um sich dem kreativen Moment des Träumens zu widmen und auf diese Weise ihrem Alltag zu entfliehen? Die Ausstellung nimmt beide Paradigmen auf und verbindet sie.
Gleich am Eingang zeigt Annette Ruenzlers Diptychon konflikt situation – übersprungs schlaf (2018) Schlafen als paradoxe Handlung auf: In der ihr eigenen Collagetechnik zeigt sie die instinktive Taktik eines Vogels, des Säbelschnablers, bei widersprüchlichen Impulsen einzuschlafen. Ruenzlers zweiteilige Archivmappe ergänzt die Überlegung. „Im fliehen schlafen“ klebt in ausgeschnittenen Lettern auf der Collage Trionfo Finale (2018).
Im politischen Kontext ist Schlaf das Antidot zu kapitalistischen Produktionszwängen: Wer schläft, legt seine Arbeit nieder. Schlaf ist somit Ausdruck von Widerstand. Gesellschaftliche Konflikte sind da vorprogrammiert – sowohl innerhalb der (Dienst-)Leistungsgesellschaft, in der Selbstoptimierung bis hin zum Schlafentzug praktiziert wird (Teresa Distelberger, I’m not going to bed with my computer, Videoinstallation, 2018), als auch an ihren marginalen Rändern: Kambodschanische Textilarbeiterinnen, die für Westmärkte produzieren, fallen regelmäßig aufgrund ihrer Arbeitsbedingungen in Ohnmacht (Zheng Mahler, Künstlerkollektiv, Eternity Global, aufgespanntes und bemaltes Textil, 2019); lateinamerikanische Lkw-Fahrer sind unter immensem Zeitdruck buchstäblich Tag und Nacht unterwegs, bis sie in eine Art von Trance fallen. Florencia Almirón begibt sich als beteiligte Beobachterin selbst in die Situation und fährt in ihrem Video in der Fahrerkabine mit (Dual Band, 2019). In ihre Archivbox legt sie ein textiles Symbol der Ausbeutung, das fleckige, staubige T-Shirt eines Lkw-Fahrers, getragen auf der Route St. Louis–Chicago–New York, komplett mit Firmenlogo, das ein Individuum – ähnlich wie Ware – einem Unternehmen zuordnet.
Wie zu Pissaros revolutionären Zeiten bleibt Schlaf das – weibliche? – Mittel der Wahl, wenn es um die Auflehnung gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen geht. Ironisch nennt Jürgen Stollhans seine Pastellzeichnung einer streikend-schlafenden Näherin China’s Dream (2018). Wovon träumt diese Frau? Von einem anderen Leben vielleicht, wie es der Ausstellungstitel suggeriert? Eminent politische Antwort darauf gibt Alice Creischer, die mit Collagetechnik Pissaros schlafende Landarbeiterin vor den Hintergrund des brennenden Paris der Commune montiert – oder ist es Occupy? (Der Hut spricht, der Rechen spricht, es flüstert die Sense zum Ohr im Gras, 2019). Dieselbe politische Sprengkraft besitzt auch Jekaterinas Dream von Anna Daučíková (2018), der von der erträumten, historisch einmaligen Gelegenheit erzählt, während des Prager Frühlings ein Ausreisevisum in die Schweiz zu ergattern. Traum bleibt Traum, aufgezeichnet in Daučíkovás Archivbox, plastisch geformt im Ausstellungsraum als fragiler Text, der in Glas geritzt ist. Nur unter bestimmtem Lichteinfall wird Jekaterinas Traum für die BesucherInnen lesbar.
Wie eine Klammer um die gesamte Ausstellung spannt sich Sanja Ivekovićs Arbeit You probably never noticed before (2019). Sie macht Schlaf zu einer öffentlichen Angelegenheit, in die sich sogar die Staatsgewalt einmischt. Eine Retroprojektion an die Fassade des Kunstvereins zeigt einen schlafenden Mann auf einer Parkbank. In einem weiteren Schritt hat Iveković Aufnahmen von unpraktikablem Stadtmobiliar gesammelt: Bänke mit Eisenspitzen, Brückenunterführungen mit Betonpflöcken. Gebaut, um jene PassantInnen fernzuhalten, die nicht konsumieren, sondern bloß verweilen und dabei einnicken. „Schlaf sollte ein Grundrecht sein“, hat jemand ins Gästebuch des Württembergischen Kunstvereins geschrieben.