Heft 2/2020 - Come Together!
1. Die spektakuläre Passage des Kometen „West“ im Jahr 1976 war vermutlich die letzte große Kometenerscheinung der historischen Zeit. Er war einige Monate zuvor, genau am 5. November 1975, vom dänischen Astronomen Richard M. West auf dem wolkenlosen Hochland der Atacama-Wüste in der Europäischen Südsternwarte ESO im chilenischen La Silla gesichtet worden. Der beeindruckende Komet flog also mitten während der Pinochet-Diktatur und zu Beginn der neoliberalen Experimente der Chicago Boys, die in den Folgejahrzehnten die ganze Welt als „globalen Markt“ definieren sollten, an der Erde vorbei. Die Südsternwarte ihrerseits war zehn Jahre zuvor gemeinsam von Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Schweden errichtet worden. Das „Süden“ in ihrem Namen steht für die südliche Erdhemisphäre, die ab 1964 durch den Ankauf eines Landstücks auf dem Berg La Silla von der chilenischen Regierung „europäisch“ wurde. Die Passage des Kometen West wurde mit einem Meter Blendenöffnung des ESO-1-m-Schmidt-Teleskops auf drei Fotoplatten festgehalten.1 So wurde der Komet für die breite Öffentlichkeit Anfang März 1976 gut sichtbar.
Die anderen großen Kometen – von 1556, 1577 und 1618, also zu Beginn der kolonialen und kapitalistischen Moderne und zu Zeiten scheinbar endloser Kriege und Seuchen – hatten mit ihrer unheilvollen Häufung ganz Europa in Angst und Schrecken versetzt. Sie wurden als Zeichen der drohenden Apokalypse gedeutet, die sich der menschlichen Kontrolle entzieht. Der allgemeine Eindruck, den man mit Kometen verband, war also der des Chaos. Die Welt war in Gefahr. Der Komet war etwas Unbekanntes, das über der Erde sichtbar wird. Im krassen Gegensatz dazu wurde das Erscheinen des Kometen West 1975 nach seiner fotografischen Erfassung nur mit wenig Begeisterung aufgenommen. Seit dem Newton-Kometen 1680, zu Beginn des „Zeitalters der Vernunft“ also, beeindrucken solche einstmals ominösen Himmelsereignisse den aufgeklärten Menschen immer weniger. Der hernach als „Jahrhundertkomet“ angekündigte Kohoutec im Jahr 1973 bot eine mickrige Show, und das Drama des Kometen Halley 1986 verlief noch enttäuschender.
Kometen kündigen also nicht mehr zukünftige Probleme (oder was immer) an, sondern sind zu vorhersagbaren Trivialerscheinungen geworden, die dank der Berechnungen und Beobachtungen durch gigantische Teleskope von hochqualifizierten HimmelsschauerInnen lange vorhergesagt werden können. Maurizio Cattelans La Nona Ora (1999) oder Ciprian Mureşans The End of the Five-Year Plan (2004) versetzten in Zeiten unerwarteter Ereignisse und düsterer Zukunftsszenarien zwar auf witzige Weise die Öffentlichkeit in Aufregung, signalisierten dabei aber auch das Herabsinken der Himmelserscheinungen in den Alltag, ins Menschliche und auf eine Art obszöne Bildlichkeit – so wie eben die Sensationsschlagzeile im Boulevardblatt immer von einem überdeutlichen Foto bebildert werden muss. Sogar einzigartige Planetenereignisse wie der Aufprall des Kometen Shoemaker-Levy 9 auf dem Jupiter im Juli 1994 war für die AstronomInnen nur mehr die reinste Freude, konnten die Glücklichen doch diese kosmische Katastrophe live vor ihren Augen ablaufen sehen und mit optischen Apparaten aufnehmen.2
Das Bild geht dem Sehen mit all seinen menschlichen Irrtümern voraus. Mehr noch, jeder mögliche Sinn ist bereits im Bild. Und 2009 nahmen die NASA und die US-Armee die Sache gleich selbst in die Hand, als sie ein planetarisches Ereignis durch Bombardierung des Monds mit einer Rakete selbst herstellten und beobachteten, das heißt einen Satelliten auf denselben krachen ließen, um aus den gewonnenen Bildern zu erschließen, wo auf unserem natürlichen Trabanten denn vielleicht Wasser zu finden sei.3 Die Bombardierung des Monds, aber auch Asteroidenabwehrprogramme wie Sentry4 bedeuten mithin die vorläufige Umkehr der ehemals unerschütterlichen Machtverhältnisse in der westlichen Kosmologie. Man könnte sogar sagen, das moderne Ego blase sich auf kosmische Dimensionen auf. Dabei verwandeln sich die Angst und düstere Vorahnung, die einst von Kometen ausgingen, in „gute“ und „rationale“ Ideen, bis hin zur wissenschaftlichen Hypothese, dass der Ursprung von Biosphäre, Wasser und Leben auf der Erde gut und gerne ein Kometen- oder Asteroideneinschlag gewesen sein könnte. So nahm in der PBS-Sendung zum Shoemaker-Levy-9-Einschlag ein sichtlich gut gelaunter David Levy einen Schluck Wasser aus einem Glas mit den Worten „Ich trink jetzt mal einen Schluck Komet“, um sodann die „fast unermessliche“ Bedeutung dieses Himmelsereignisses zu preisen. Schwupp, schon ist die erschreckliche Himmelserscheinung im Bauch des Astronomen verschwunden!
Das sonst so natürliche Gleichgewicht von Vernunft und Gefühl wurde nach der kopernikanischen Moderne durch das Teleskop auf den Kopf gestellt, weil es zeigt, dass man durch einen Apparat Ereignissen gegenüber abstumpfen kann, die die ganze Menschheit und ihren Planeten betreffen. Abgesehen von seinen vorgeblichen wissenschaftlichen Meriten (mit nicht ganz eindeutigen Resultaten) hat die Bombardierung des Monds also ein symbolisches Gewicht, das buchstäblich maßlos ist. Sie impliziert nicht nur eine radikale Abkoppelung von der realen Gravitation, sondern auch von der gesellschaftlichen Realität einer historischen Epoche, in der die Macht von Menschen „nur“ darin bestand, andere Menschen von oben zu bombardieren. Die Moderne hat Wege des kalten Sehens auf Distanz mit sich gebracht, die bis zu den Drohnenmordkampagnen während der Regierung Obama führen. Dabei blieb die dunkle Seite der Moderne – ökologische Zerstörung und soziale Spannungen – unbeachtet.5 Die weltweite Ungleichheit, die Trennung der Welt in „Zonen des Seins und Zonen des Nichtseins“, wie sie Frantz Fanon nannte, und die Akkumulation von Kapital und Ressourcen entsprechend der Verfügbarkeit von Leben bestimmen seit dem 17. Jahrhundert zwar zusehends unsere Wirklichkeit, nicht jedoch, wie wir diese wahrnehmen. Letzteres ist mehr und mehr durch komplizierte Aufnahme- und Übertragungstechnik vermittelt. So kann ein Weltbild entstehen, das die Menschheit nicht nur über ihre Möglichkeitshorizonte hinausträgt, sondern die Welt auch diesem Bild folgend physisch verändert.6
2. Die schlechte Nachricht unserer Zeit lautet, dass mit der Welt etwas grundlegend falsch läuft. Und dieses „Falsche“ ist nicht bloß marginal, sondern betrifft den Kern unserer ganzen Lebensart. Im Augenblick versuchen wir – dieses himmelwärts strebende „Wir“ der „Menschheit“, das wieder eigene Projektionen mit sich bringt – mit der Tatsache zurechtzukommen, dass uns unsere Lebensart letztlich vernichten wird. So gesehen begann das Zivilisationsmodell, dem wir nolens volens folgen, mit der zerstörerischen Ausbeutung natürlicher Ressourcen und der kommerziell motivierten „Rassifizierung“ der Weltbevölkerung. Und diesen Weg verfolgen wir bis jetzt erbarmungslos weiter. Der Kern unserer Zivilisation ist faul, aber es gibt auch andere Sicht- und Seinsweisen in dieser Welt, die uns Leitstern und Inspiration sein könnten, solange wir sie nicht entwurzeln und ihrem Nährboden entreißen. Andere wieder glauben, die Probleme der Welt kommen in Wahrheit davon, dass wir den Pfad der westlichen Aufklärung verlassen haben, entweder weil der Westen der Dekadenz gegenüber zu tolerant ist, seine eigenen Werte aufweicht und daher von den „minderen“ Teilen der Menschheit unterwandet wird oder weil im Neoliberalismus der Wohlfahrtsstaat erodiert und der kritisch emanzipatorische Aspekt der Moderne aus den Augen verloren wird. Unabhängig davon, ob diese oder jene Meinung stimmt, ist doch mehr als augenfällig, dass wir trotz der enormen Wohlstandsakkumulation und trotz aller technischen Fortschritte in Zeiten historisch noch nie dagewesener Ungleichheiten, ausufernder Gewalt, Willkür der Herrschenden und Verschwendung der noch verbliebenen Gemeingüter leben. Noch nie gab es so viele hungrige und verarmte Menschen auf der Erde, obwohl diese noch lange nicht überbevölkert ist.7
Dabei sind uns die wahrscheinlichen Ursachen der Zerstörung des Lebens und der Gesellschaft bereits bekannt. Wir wissen, dass wir aufhören müssen, die Bodenschätze auszubeuten, und nicht mehr im 24-Stunden-Takt fossile Brennstoffe verheizen dürfen, deren Genese Millionen Jahre brauchte. Als Zivilisation, die vor allem von fossilen Brennstoffen abhängt, verkonsumieren wir Unseligen mithin unglaubliche Mengen materieller Zeit, und zwar nicht nur vergangene, sondern auch zukünftige. Und wir wissen sogar, dass das Leben auf der Erde verkümmern wird, wenn am Ende dieses Jahrhunderts die Durchschnittstemperatur um drei bis vier Grad angestiegen sein wird.
Aber Wissen allein scheint nicht auszureichen, um große Veränderungen herbeizuführen. Wir kapieren’s einfach noch nicht. Immer noch gibt es keine wirkliche Reaktion auf diese kosmisch dimensionierten Probleme. Wir wissen sehr gut, dass wir die Erde zerstören, aber wir zerstören sie nicht nur weiter, sondern genießen es auch noch Tag für Tag. Wir leben in einer vermeintlichen Komfortzone des Wirtschaftswachstums und technischen Fortschritts, relativ homogen und mit gezähmten Differenzen, was Gesellschaft und Kernfamilie betrifft. Obwohl das Leben auf unserem Planten in Gefahr ist, sind unser Todestrieb und unsere über lange Zeit an die moderne Welt angepassten Gewohnheiten einfach zu stark, als dass man ihnen widerstehen könnte. Es ist, als hätte die dunkle Seite der Moderne eine neue Dimension angenommen, die man aufgeklärte Daseinsgleichgültigkeit nennen könnte. Und diese aufgeklärte Daseinsgleichgültigkeit, die man als eine Art höheres Wesen definieren könnte, das jegliche Form von Relationalität negiert, gedeiht bei allen offenkundigen Widersprüchen wie der unverblümten Leugnung des Klimawandels oder damit zusammenhängenden Gesellschaftsphänomenen wie Fremdenhass und Rassismus offenbar gut.
Das könnte daher rühren, dass die aufgeklärte Daseinsgleichgültigkeit Techniken bevorzugt, die die Wahrnehmung, ähnlich wie Töne in der Musik, durch „isologische“ Systeme vermitteln, bei denen der Sinn (oder das Bezeichnete) in nichts anderem als dem Bezeichnenden materialisiert ist.8 Die heutige von Hardware und Technik angetriebene industrielle Kultur wird von isologischen Systemen beherrscht. Im heutigen Blickregime verschwimmt das technisch reproduzierte isologische Bild mit dem Sehen,9 sodass sich der Blick von der Welt ab- und dem technisch reproduzierten Bild zuwendet. Damit wird ein Prozess in Gang gesetzt, der die Welt zu einer Totalprojektion von oben macht, die sich von der Welt, wie sie ein Mensch sonst erlebt, krass unterscheidet. Im direkten Erleben hat die Welt immer mehrere Aspekte, die sich wie ein Horizont auf eine unmessbare Vielfalt hin öffnen. Die Wirklichkeit umfasst eben auch das Unbekannte. Im technischen Blickregime hingegen, versinnbildlicht durch die Europäische Sternwarte in der Atacama-Wüste, wird dieser Horizont eliminiert. Die Wolken werden ausgemerzt, um direkt in den technischen Nachthimmel eintauchen zu können, ohne dabei den Ausblick und die Geschichte des Bergs zu beachten, auf dem die Sternwarte steht. Das Hubble-Teleskop filtert gleich die Erde mitsamt allen Verzerrungen durch die Atmosphäre weg, um nur das allerreinste Bild aufnehmen zu können (wenngleich dieses noch von der Schwerkraft beeinflusst ist). In dieselbe Kerbe schlägt bezeichnenderweise ein anderes Beispiel, bei dem der Blick nicht senkrecht, sondern waagrecht ausgerichtet ist. Der US-Filmemacher James Cameron schuf mit weißem Männerblick und Riesenbudget den immersiven 3D-Film Avatar, nur um so etwas wie den kolonialen Akt des „Entdeckens und Eroberns“ hautnah dreidimensional erleben zu können. Dazu beauftragte er den Bau einer phallisch geformten Tauchkamera mit eigner Optik, mit der er weitestmöglich entfernt von der Menschheit in die Tiefe des Ozeans vordringen konnte, um endlich das zu sehen, was noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat – den öden Meeresboden des Marianengrabens.10
Isologische Systeme haben keinen bestimmten Sinn (im Gegensatz zu einem Satz wie „ein Komet ist am Himmel erschienen“, der mich nach oben blicken lässt). Sie führen einzig zu einem Wuchern von Metasprachen, die bei aller Beliebigkeit dennoch nach Aufmerksamkeit heischen. Beliebiges hängt indes niemals organisch zusammen. Die Suche nach Sinn in isologischen Systemen führt zudem zu einem falschen Gefühl der eigenen Wichtigkeit. Immerhin arbeitet man ja begrifflich – allerdings im schlüpfrigen Morast der Metasprachen, der sich oft – wie in den genannten Beispielen – teuren Investitionen in mehr „Realismus“ verdankt. Diese Investitionen „ent-welten“ die Welt immer weiter. Man entfernt sich weiter und weiter von der radikal vielgestaltigen Wirklichkeit mit ihren unzähligen Daseinsformen. Zugleich geht man weit auf Distanz, indem man sich als einen von der Welt getrennten Beobachter definiert. Für den Fremdenhasser und Rassisten bedeutet der Umgang mit isologischen Systemen auch ein Bekenntnis zu indirekter Rede und Diskriminierung; er bekennt sich temporär zu einer bestimmten Metasprache, die sich von den anderen Metasprachen absetzt. Er will seine Differenz und leugnet damit die Wirklichkeit. Nicht zufällig geschieht dies oft in die Form von Verschwörungstheorien, die ja selbst auch immer eine Metasprache sind. Die aufgeklärte Daseinsgleichgültigkeit unterscheidet letztlich nicht zwischen Metasprache und begründbarem Denken (das auch immer eine bestimmte Geschichte erzählen möchte). Sie kennt nichts Unbekanntes. Differenz wird hingenommen, aber neutralisiert. Die Geschichte und die Welt an sich, das heißt die ultimative Grundlage des kritischen Denkens, spielen keine Rolle mehr.
3. In Nicoleta Esinencus Stück Die Abschaffung der Familie (HAU Hebbel am Ufer Berlin, 2019) gibt es keinen Platz für Daseinsgleichgültigkeit. Hier ist die Welt alles, was wichtig ist, und nicht „alles, was der Fall ist“. Obwohl das Stück sehr persönlich ist, vermag es auf ganz eigene Weise diejenigen anzusprechen, „[die] die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht [haben].“11 Die moldawische Dramatikerin tat sich mit Antosea Darca, Elena Anmeghichean, Cătălina Bucos, Doina-Romanța Dochitan, Nora Dorogan, Ciprian Marinescu, Kira Semionov, Elena Sîrbu, Doriana Talmazan und Artiom Zavadovsky zusammen, um das Intimleben moldawischer Kernfamilien auf eine – in diesem Fall: deutsche – Bühne zu transferieren. Im Zentrum steht die Geschichte der Frauen im Staatssozialismus und nach dessen Fall. Esinencu klagt von der Bühne harsch die Missstände unserer Welt an, wobei sie sich besonders dem vom Patriarchat, dem Kapitalismus und dem Kolonialismus verursachten Leid widmet.
Das Stück beginnt mit einer Montage aus den uns allen bekannten Geräuschen, wenn Internetanrufe nicht klappen. Diese Klangcollage kommt nicht nur MigrantInnen, sondern allen bekannt vor, wenngleich sie unterschiedliche Erinnerungen wachruft. Besonders emotional berührt sie Menschen aus Moldawien, wo jede Kleinfamilie auseinandergerissen wird und jede/r dritte BewohnerIn als GastarbeiterIn das Land verlassen muss, was enorme Folgen für das Familienleben und die Dorf- und Stadtgemeinschaften zeitigt. Die Klangcollage verweist auch auf die aktuelle Distanz zwischen Eltern und ihren Kindern, die kaum noch ihre Vergangenheit kennen und doch schon in eine unbekannte Zukunft gehen.
Darauf folgt im Stück die erste von mehreren Anrufungen, bei denen die SchauspielerInnen rituell fluchend ihre privaten Rechenschaften ablegen: „Wir rufen die Geister unserer Mütter und Großmütter an!“ – nur um die Monogamie zu verwünschen. Das Stück vertieft sich in die Gefühlswelt der Mutter-Töchter-Beziehungen und wie sich die Mütter in den Familien und deren Umfeldern behaupten mussten. Es geht um schwache und starke Mütter, junge und alte Mütter, arbeitende und pensionierte, verheiratete und geschiedene, kranke und gesunde Frauen, und wie die auf Staatsbefehl hin emanzipierte Gesellschaft und ihre Institutionen Frauen in ihren und außerhalb ihrer Rollenzuschreibungen behandeln. Die zur Schau gestellte Zerstörung der Menschlichkeit ist brutal, wird aber durch die ausführlichen Zeugnisse von Nähe, die Tiefe der emotionalen Bindungen, die Schärfe der Kritik und die zwischen den DarstellerInnen merkliche Solidarität mehr als aufgewogen.
Zwischen ihren Bekenntnissen schließen sich die DarstellerInnen, wie gesagt, zu Ritualen zusammen und verfluchen die Verwüstungen der Monogamie, des Staats, der Polizei, des Kapitalismus, des Patriarchats, des Kolonialismus und der Großkonzerne. In den Ritualen werden auch Küchen- und Haushaltsgegenstände verwendet. Man macht mobil gegen die bösen Omen, die dem sozialen Körper bereits eingeschrieben sind. Die Kindergeneration erdet sich, indem sie die Mütter in die persönliche und soziale Geschichte integrieren und damit Menschlichkeit zurückfordern. Sie kritisieren die Sozialgeschichte aus ihren eigenen Erfahrungen heraus und begehren zugleich lautstark die Befreiung in kosmischer Dimension. Am Ende rezitiert Nicoleta Esinencu mit einem „inneren Monolog“ ihre Angst, die Ausdruck in einem geschärften politischen und sozialen Bewusstsein findet. Sie fordert nichts weniger als die „Abschaffung aller Leiden“ ihrer Mutter.
Die Geschichte der moldawischen Peripherie rauscht damit über die Bühne des Berliner Hebbel-Theaters wie der Schweif eines Kometen, der von seiner Bahn abweicht, dabei von etwas spürbar Unbekannten kündet und massive Veränderungen einfordert. Die Partikulargeschichten reichen bis zu den Horizonten der gesamten Menschheit. Und der eventuell größte Widerstand gegen die notwendige Veränderung kommt nicht von den Projektionen der Erdlinge, die diese vielleicht als fremd bzw. unheilvolles Omen betrachten, sondern davon, sie als verspätete, jedoch vertraute Nachricht überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Immerhin handelt es sich um eine so seltene Erscheinung, dass wir noch genug Zeit haben zu handeln.
Übersetzung aus dem Englischen: Thomas Raab
Übersetzt von Thomas Raab
[1] Ein Bild des Kometen kann hier eingesehen werden: https://www.eso.org/public/images/c-west-mar1976-ps/.
[2] Die Sendung auf PBS hieß The Great Comet Crash of Comet Shoemaker-Levy 9, 1994.
[3] Zur Mission LCROSS vgl. https://www.nasa.gov/mission_pages/LCROSS/main/index.html.
[4] Sentry ist ein Asteroiden-Monitoringprogramm; https://cneos.jpl.nasa.gov/sentry/.
[5] Walter Mignolo, Local Histories/Global Designs: Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking. Princeton: Princeton University Press 2000.
[6] Vgl. The Existence of the World Is Always Unexpected, Jean-Luc Nancy im Gespräch mit John Paul Ricco, ins Englische übersetzt von Jeffrey Malecki, in Heather Davis/Etienne Turpin (Hg.), Art in the Anthropocene. Encounters Among Aesthetics, Politics, Environments and Epistemologies. London: Open Humanities Press 2015, S. 86ff.
[7] Vgl. Jason Hickel, The Divide. A Brief Guide to Global Inequality and its Solutions. London: William Heinemann 2017.
[8] 1964 führte Roland Barthes in Elemente der Semiologie im Kapitel „Die Natur des Signifikanten“ den Begriff der Isologie ein: „Isologie könnte man das Phänomen nennen, durch welches die Sprache unmerklich und untrennbar ihre Signifikanten und Signifikate ‚verklebt‘, sodass man beide weder trennen noch unterscheiden kann, um sie so von nicht-isologischen (und immer komplexen) Systemen zu unterscheiden, bei denen sich Sigifikant und Signifikat trennen lassen.“
[9] Barbara Duden/Ivan Illich, Die skopische Vergangenheit Europas und die Ethik der Opsis, in: Historische Anthropologie, 3/2 (1995).
[10] Siehe die Doku James Cameron’s Deepsea Challenge (John Bruno, Ray Quint, Andrew Wight, 2014).
[11] Ludwig Wittgenstein, Vorwort, in: ders., Tractatus Logico-Philosophicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963.