[…]
Nica!
Ich würde dir gern lange, schöne Briefe schreiben, aber ich hab
keine Zeit. Mein ganzes Leben hatte ich keine Zeit.
„Was machst du mit deiner Zeit?“, hat mich dein Papa mal
gefragt und schaute vom Balkon in der neunten Etage zum
Kindergarten runter, der ist 20 Schritte von unserem Haus
entfernt. Wie machen die das da mit so vielen Kindern?
Ich hab ihn nicht ausreden lassen und geantwortet:
„Im Kindergarten macht eine Frau Essen, eine andere putzt,
die dritte wäscht, die vierte kennt Gedichte und Geschichten,
die fünfte geht mit ihnen spazieren. Ich muss alles machen.“
Seither hat dein Papa nie mehr gefragt, aber in den Kindergarten
hat er euch auch nicht gelassen.
Jetzt, wo ihr groß seid, dachte ich, ich hätte mal Zeit für mich.
Ich habe aber nicht mal Zeit, meine Brille zu putzen.
Ich stellte mir dich als Mädchen mit schönen Kleidern vor, Ringe
an den Fingern, ein Mädchen, das sich gerne schminkt, Nagellack,
ich hatte nämlich nie Zeit für so was. Aber das lässt dich
alles kalt. Du bist mein vierter Sohn. Als Kind war dein Lieblingsspiel
Fußball. Und deine Freunde waren fast alle Jungen. Ich
erkläre mir das so, dass du mit vier Männern aufgewachsen bist.
Vielleicht besser so. Es ist ein Fluch, bloß Frau zu sein.
Wonach wäre mir? Nach dem Gedichtband, den ich eben nicht
geschrieben habe.
Morgen ist Papas Geburtstag. Er erwartet den sechsten Band
seiner ausgewählten Werke. Ich habe mich verquatscht, habe
noch keine Sülze zubereitet, hab noch nicht seine Lieblingskrautwickel
gemacht, noch kein Brot gebacken, den Pfannkuchen.
Ich kriege es gerade noch hin, dir zu sagen, ich umarme dich,
ich küsse dich, ich liebe dich, ich bete dich an.
Wenn es wahr ist, dass die Seelen der Kinder sich ihre Eltern
aussuchen, dann danke ich dir, dass du uns ausgesucht hast,
und entschuldige, wenn wir deine Hoffnungen nicht erfüllt haben.
Nica, deinen Vater habe ich geliebt, und ich liebe ihn immer noch
sehr.
Mama
12.1.2005
[…]
Unter Anrufung der Kraft aller Frauen befehlen wir die
Verfluchung des Patriarchats
Oh Patriarchat
Dreckiges und hinterhältiges Patriarchat
Soll die Männlichkeit wie eine Kerze auf dir zergehen
Soll deine Kraft zu Staub und Asche verwehen
Oh Patriarchat
Dreckiges und hinterhältiges Patriarchat
Verflucht seist du von den Frauen, die ihre Kinder allein erzogen
Verflucht seist du von den Frauen, die du nicht aus dem
Haus ließest
Verflucht seist du von den Frauen, die du schlugst
Verflucht seist du von den Frauen, die du vergewaltigtest
Verflucht seist du von den Frauen, die du krank machtest
Verflucht seist du von den Frauen, die du ermordetest
Verflucht seist du so viele Male
wie du uns mit Blicken auszogst
Verflucht seist du so viele Male
wie du unseren Körper verkauftest
Verflucht seist du von allen Müttern
Verflucht seist du von allen Töchtern
Verflucht seist du von allen Großmüttern
Verflucht seist du von allen Frauen
Verdammt seist du dazu
Die ganze Hausarbeit selbst zu tun
Der Diener und die Dienerin der Frau zu sein
Dass sie für dich entscheidet
Auf dass du dein Leben lang unter dem Matriarchat stehst
Oh Patriarchat
Dreckiges und hinterhältiges Patriarchat
Ich würde dir’s heimzahlen, so wie du mich bezahlst
Oh Patriarchat
Dreckiges und hinterhältiges Patriarchat
Strotzend vor Dummheit
vor Gewalt
vor Sexismus
Würmer und Krebs sollen dich zerfressen
Deinen Verstand und dein Augenlicht sollst du verlieren bei
deinen Witzen über Schwule
Die Zunge wollte ich dir abschneiden, dass du nicht mehr
sprichst
Der Feminismus soll dich treffen wie der Blitz mitten am Tage
Dein Glied soll dir vertrocknen
Und mit ihm deine ganze Unsäglichkeit auf der Erde.
[…]
Dies ist mein innerer Monolog. Der Monolog der Ängste.
Der Monolog meines inneren Schreckens. Der innere Monolog
des Schreckens. Der Monolog des Herzklopfens und der
Tachykardien. Der Monolog der unterbrochenen Atmung.
Der Monolog der Ängste, die mir in die Poren dringen. Mit
heißem oder kaltem Schweiß.
Der Monolog, in dem ich zittere.
Der Monolog, in dem die Hormone mir sagen, was zu tun ist.
Sie sagen, wie ich sein soll.
Der Monolog, in dem die Hormone mich nicht beachten.
Der Monolog, bei dem ich zu nichts Lust habe.
In dem ich nicht schlafen kann. In dem ich Schlafstörungen
habe.
Der Monolog, in dem ich nicht gut genug bin.
Ich bin nicht so, wie andere mich wollen.
Der Monolog der chronischen Müdigkeit und des Dauerstresses.
Der Monolog der Selbstausbeutung.
Der Monolog, in dem ich einen Herzinfarkt haben werde,
genauso wie mein Bruder mit 45.
Der Monolog, in dem ich bei jedem Schluckauf denke, das
wäre ein Schlaganfall.
Der Monolog, in dem meine Hormone die Wände hochgehen.
Der Monolog, in dem ich erhöhtes Cholesterin habe. Was ist
wohl schlimmer?
Cholesterin oder Angst? Hitzewallungen oder Depressionen?
Der Monolog, in dem mir das Herz aus der Brust springt. Es
zerreißt meinen Brustkorb. Als würde es mich treten oder mit
den Fäusten schlagen. Das Herz tritt mich mit Füßen.
Der Monolog, in dem mir der Kloß im Hals den Atem nimmt.
Der Kloß im Hals brennt so wie Schmerz.
Der Monolog, in dem ich mitten auf der Straße hinfallen
werde.
Dies ist der Monolog meiner Todesangst.
Tod wegen Ateminsuffizienz.
Das sagt Wikipedia.
Der Monolog, in dem es gut wäre, schnell zu sterben.
Ohne im Rollstuhl in die Hosen zu machen.
Der Monolog, in dem ich nicht so schnell sterben will.
Aber auch nicht zu langsam.
Der Monolog, in dem ich Angst habe, meine Rechnungen
nicht bezahlen zu können.
Der Monolog, in dem ich Angst habe, ich bleibe allein.
Der Monolog, in dem ich eine Familie bin.
Der Monolog, in dem ich keine Familie bin und auch nie eine sein
werde.
Im Monolog meiner Ängste zerbreche ich Spiegel. Viele. Einen
nach dem anderen.
Um über alle Ängste meiner Mutter hinwegzukommen. Um über
alle Ängste von Oma hinwegzukommen.
Das ist der Monolog, in dem ich allen Schmerz verbrennen will.
Dies ist der Monolog des Alkohols, der all das in mir ersticken
kann, für kurze Zeit.
Der Monolog der Ängste.
Der Monolog meiner Chemie. Der Chemie, die mich unerträglich
sein lässt.
Der Monolog, in dem das Telefon klingelt und ich erschrecke.
In dem das Telefon klingelt und ich schwitze.
Der Monolog, in dem die Anrufe von der Schuldeneinzugsstelle
sind.
Der Monolog, in dem ich nicht Mutter sein will.
Der Monolog, in dem ich nicht Tochter sein will.
Der Monolog meines Körpers, der nicht geboren hat.
Und der auch nicht gebären will.
Dies ist der Monolog meines Uterus.
Der Monolog, in dem ich gern hätte, niemand wäre mehr
monogam.
Der Monolog, in dem ich die Dinge nicht bis zu Ende sage.
In meinem Monolog
rede ich mit Mama über mich.
In meinem Monolog
rede ich mit Papa über mich.
Im Monolog meiner Ängste ist Papa zu Hause.
Der Monolog, in dem ich meine Wunden lecke wie ein Hund
wie ein angeleinter Hund
wie ein Hund, der seinen Kopf allein ins Halsband legt.
Der Monolog der Ängste. Der Monolog, in dem ich mich am
schlimmsten vor dem Wort Familie fürchte.
Der Monolog der Ängste. Der Monolog, in dem ich die
Abschaffung des Leids meiner Mutter fordere.
Der Monolog, in dem ich die Abschaffung der Familie fordere.
Dies ist der Monolog der Ängste.
In dem ich in den Supermarkt gehe und da sind keine
Menschen mehr. Nur noch Self-Service-Kassen zum Scannen.
Der Monolog des kleinen Roboters in mir.
Der Monolog, in dem ich aus meinem eigenen Leben
verschwinde.
Dies ist der Monolog der Ängste.
Der Monolog, in dem ich bei der Kreuzung von Wal und
Paprika nicht dabei sein will.
Oder der Kreuzung zwischen Mensch und Kühlschrank?
Stell dir einen Kühlschrank vor, den du für immer ausschalten
willst. Der Kühlschrank wird das Gefühl des Todes haben, und du
bist dir seines Todes bewusst. Du wirst dir des Todes eines
Kühlschranks bewusst.
Mir ist weder Mamas Tod bewusst noch Papas Tod.
Ich werde mir den Tod des Kühlschranks bewusst machen. Ich
werde fühlen, was der Kühlschrank gefühlt hat.
Ich werde Kühlschrank sein.
Übersetzung aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme
Übersetzung aus dem Russischen von Yvonne Griesel