„Wir wissen nicht, ob das, was wir in den Akten gelesen haben, so nur in Osteuropa passiert ist. Doch sind wir uns ziemlich sicher, dass auch in den westlichen Ländern Künstler überwacht wurden.“ So kommentierten Sylvia Sasse und Kata Krasznahorkai ihre ausführlichen Recherchen über die Interaktionen zwischen Geheimdiensten und Performancekunst, die bis April 2020 in der Ausstellung Artists & Agents im Hartware MedienKunstVerein in Dortmund zu studieren waren.1 Bekannt ist der Einfluss der CIA als Kultursponsor im Kalten Krieg. Seit dem 11. September 2001 sind hingegen wiederholt Einzelfälle von Überwachung im Kunstbetrieb an die Öffentlichkeit gelangt. US-Behörden führen mit der Terror-Watchlist eine sehr umfangreiche Liste von Verdächtigen (Known or Suspected Terrorists). Auf diese Liste gelangte 2005 auch der deutsche Künstler Christoph Faulhaber, der mit seinen Performanceaktionen als Mister Security amerikanische Botschaften bewachen und damit „beschützen“ wollte. 2018 wurde öffentlich, dass gegen das Zentrum für Politische Schönheit in Deutschland wegen des Verdachts der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ (§ 129 StGB) ermittelt wurde. Und nicht nur Julian Assange, der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, sondern auch seine BesucherInnen, darunter JournalistInnen und FilmemacherInnen, sind während seiner Zeit in der ecuadorianischen Botschaft ausgespäht worden – ein massiver Bruch gegen Redaktionsgeheimnis und Persönlichkeitsrechte.
Da seit 1990 zahlreiche Archive in Deutschland, Osteuropa und in der Schweiz geöffnet worden sind, konnten in den letzten Jahren überraschende Informationen und Akten ausgewertet werden. Diese lassen ahnen, wie sehr destruktive und „zersetzende“ Strategien gegen künstlerische Subversion und Freiheit auch in Zukunft von geheimdienstlichen oder autoritären Instanzen eingesetzt werden könnten. Zugleich verblüffen die unterschiedlichen Ansätze der Geheimdienste, die sich nicht selten sehr nah an künstlerische Herangehensweisen herantasteten. Für die Ausstellung Artists & Agents wurden zahlreiche Fallbeispiele aus der Schweiz, der DDR, Polen, der CSSR, der Ungarischen Volksrepublik, Rumänien, der UdSSR, Chile, den Niederlanden und Deutschland zusammengetragen.
Vor allem das Medium der künstlerischen Performance und des Happenings, im Osten meist Aktionskunst genannt, galt den Geheimdiensten als besonders suspekt. Aktionskunst galt als westlich, neoavantgardistisch, dekadent, bourgeois und antisozialistisch. Meist fanden die Aktionen spontan und ohne vorhersehbare Choreografie statt. Manchmal waren die Veranstaltungsorte unbekannt, und auch das zu erwartende Publikum galt es, präzise nach dem „WKW“-Schema (Wer kennt wen?) zu evaluieren. Mit verblüffender Raffinesse näherten sich AgentInnen mit doppelten Identitäten künstlerischem Denken und Können an oder waren selber als KünstlerIn ausgebildet. Der Fotograf Ralf-Rainer Wasse (1942–2017), der an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studierte und ab 1976 als inoffizielles Mitglied der Künstlergruppe Clara Mosch aus Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) deren gesamte Aktionen fotografisch begleitete, ist ein solches Beispiel. Wasse, der auch Künstlerfilme drehte, Postkarten entwarf und an Mail-Art-Objekten mitarbeitete, war unter dem Decknamen „Frank Körner“ als IM (Inoffizieller Mitarbeiter) für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR tätig. Zur Gruppe, für die Lutz Dammbeck 1977 das Gründungsplakat entwarf, gehörten damals Carlfriedrich Claus, Gregor-Torsten Schade, Thomas Ranft, Dagmar Ranft-Schinke und Michael Morgner. Die Dokumentationen der Clara Mosch-Pleinairs durch Wasse, der immer mit bestem Fotomaterial ausgestattet war und mit professionellem Blick agierte, sind von hoher Qualität und Vollständigkeit. „Wasse, der uns als seine Künstlerfreunde verriet, hat uns letztlich damit eine Art Werkverzeichnis hinterlassen“, äußerte Thomas Ranft zur aktuellen Ausstellung in den Kunstsammlungen Chemnitz, die erstmals alle dokumentierten Performances zeigt.2
Dass eine der Clara Mosch zugeschriebenen Aktionen gar nicht von den KünstlerInnen selbst stammt, wirft hingegen die Frage auf, ob man Stasiinformationen letztlich immer Glauben schenken darf. „Das Scheigen von Clara Mosch wird unterbewertet“, heißt es auf einer „Straßenschmiererei“ in weißer Farbe. Diese wurde als „Kompromat“ einem anderen Fotografen, Kurt Buchwald, zugeschrieben, stammt aber ebenso von Wasse selbst, wie Stasiakten offenlegen, erläuterte Sylvia Sasse.
Journalismus ist keine Spionage. Künstlerische Beobachtung gemeinhin auch nicht. In zahlreichen Aktionen und Initiativen praktizierten KünstlerInnen das, was man als Gegenbeobachtung bezeichnen könnte. Die polnische Gruppe Orange Alternative etwa organisierte am 1. März 1988 den „Tag des Geheimdienstlers“, als wäre er von der Staatsicherheit selbst ins Leben gerufen. Der tschechische Künstler Jiří Kovanda ließ sich um 1977 von einem Freund mit der Kamera verfolgen und fotografieren, als würde dies aus der Perspektive eines auch für PassantInnen sichtbaren Informanten geschehen.
Über 20 Jahre lang (1978–99) hat Józef Robakowski von seinem Hochhausfenster den Alltag auf einem zentralen Platz in Lódz dokumentiert. 1978, zu einer Zeit, als die Solidarność-Bewegung noch eisern unterdrückt wurde, entstanden für den heute als Klassiker geltenden Film From My Window die ersten 16-mm-Aufnahmen. Erst als der Neubau eines Hotels für die wachsende Anzahl von TouristInnen den Ausblick versperrte, beendete Robakowski sein Videotagebuch. Lakonisch und mit humorvollen Kommentaren deutet er die alltäglichen Szenen und kleinen Ereignisse der sozialistischen Zeit in etwas Konspiratives um. So entstehen Konnotationen von staatlicher Überwachung, illegalem Stalking und voyeuristischer Beobachtung. Auf den ersten Blick ähnlich verfährt der US-amerikanische Künstler Andrew Hammerand unter Zuhilfenahme aktueller Überwachungsmöglichkeiten. So hat er für seine Serie „The New Town“, die aus 21 Fotografien besteht, eine Überwachungskamera einer Gemeinde im Mittleren Westen der USA angezapft, die er über das Internet steuert, ohne je selbst an dem Ort gewesen zu sein.3
In einer Zeit allgegenwärtiger Überwachung und Bildaufzeichnung beschäftigt sich inzwischen eine wachsende Zahl von FotokünstlerInnen damit zu ergründen, was es bedeutet, permanent zu beobachten und beobachtet zu werden. Zunehmend erfolgt systematische Beobachtung automatisiert und ohne Auftrag.4 Und zum Genre von hand- oder ferngesteuerten Kameraaufzeichnungen und Satellitenbildern gehören nicht zuletzt auch das verunglückte Bild, Bildpannen oder Glitches. Die fotografische Welt der AgentInnen und GegenagentInnen ist also längst nicht mehr schwarz-weiß.
Auch wenn sich viele historische Arbeiten wie Agententhriller lesen, war die unfreiwillige Interaktion von KünstlerInnen und Geheimdiensten meist bitterernst und traurig wahr. Die dauerbeobachtete Erfurter Fotografin Gabriele Stötzer, die 1977 bereits eine Haftstrafe absolviert hatte, konnte nicht ahnen, dass auch ihr Modell, ein Transvestit, als IM der Stasi tätig war. Er hatte den Auftrag, ihre Fotoperformances in Richtung Pornografie zu radikalisieren.
Der Fotograf Arwed Messmer, der sich mit Bilddokumenten aus Staatsarchiven beschäftigt, nähert sich vorsichtig und mittels „Reenactment“ einigen Fotos und Asservaten des MfS an, die den Akten über Fluchtversuche und Erschießungen Flüchtiger beigelegt waren. Bereits die Fotos in den Stasiakten sind schwer lesbar, man weiß nicht sofort, was situative Realität und was nachgestellt ist. Die StasimitarbeiterInnen zwangen aufgegriffene Flüchtlinge, in ihre von Schleusern präparierten Autos zurückzukriechen, um sie dort dokumentarisch zu fotografieren – beklemmende Aufnahmen höchster Anspannung.
Das Thema wird angespannt bleiben, denn längst hat ein systematisch und umfassend angelegtes, digital organisiertes Datenmanagement die aus heutiger Sicht bisweilen naiv anmutenden Konspirationen ersetzt.
[1] Artists & Agents – Performancekunst und Geheimdienste, Hartware MedienKunstVerein im Dortmunder U, 26. Oktober 2019 bis 19. April 2020; eine Ausstellung in Kooperation mit der Universität Zürich, kuratiert von Inke Arns, Sylvia Sasse und Kata Krasznahorkai. Der reich illustrierte Reader mit umfangreichen Forschungsergebnissen, erschienen bei Spector Books, umfasst über 680 Seiten. Zudem ist ein Begleitheft erschienen, das als Download frei zur Verfügung steht.
[2] Clara Mosch und Ralf-Rainer Wasse. Aktion und Fotografie, Kunstsammlungen Chemnitz, 23. Februar bis 17. Mai 2020. Zur Ausstellung ist ein Katalog, hg. von Frédéric Bußmann, erschienen.
[3] http://andrewhammerand.xyz/
[4] Dies ist auch Anknüpfungspunkt der Fotoausstellung Geheime Agenten, mit Arbeiten von Andrew Hammerand, Arwed Messmer, Peter Piller und Józef Robakowski, Künstlerverein Malkasten Düsseldorf, 13. März bis 23. April 2020. Zur Ausstellung wurde eine Homepage mit ständig wachsendem Handapparat eingerichtet: www.geheimeagenten.de.