Heft 2/2020 - Netzteil


Faitiche est. 2008

Die tanzende Aufklärungsästhetik von Jan Jelinek

Stefan Römer


Seit den 1990er-Jahren ist es in der DJ-Culture und der elektronischen Musik gängige Praxis, dass KünstlerInnen für ihre unterschiedlichen Stilrichtungen diverse Namen, Logos oder Labels einsetzen. So gründete etwa der Berliner Musiker Jan Jelinek 2008 das Label Faitiche, auf dem er nicht nur seine eigenen Projekte wie Farben, Gramm oder die Gesellschaft zur Emanzipation des Samples, sondern auch andere KünstlerInnen veröffentlicht. Der Labelname scheint vom nach-postmodernistischen Sozialtheoretiker Bruno Latour abgeleitet: „Der Neologismus Faitiche ist eine Kombination aus Fakt (fait) und Fetisch (fétiche) und stellt klar, dass beiden ein Element der Fabrikation gemeinsam ist. Anstatt Fetische gegen Fakten ins Feld zu führen oder Fakten als Fetische zu denunzieren, soll so die Rolle der Akteure in allen Aktivitätstypen ernst genommen und damit der Begriff des Glaubens überflüssig werden.“1
Im Jahr der Gründung verhießen die Prognosen physischen Tonträgern „no future“. Deshalb wählte Jelinek einen Begriff, der das Soziale der eigenen Musik betonen sollte, also ihre Agency, wie sie in Clubs und auf Konzerten performt wird. Dies ist für zeitgenössische Musik deshalb signifikant, weil das Verhältnis zwischen Star/KünstlerIn und Fan sich großteils immer noch durch den Fetisch des Musikalbums vermittelt, das einen konkreten Preis hat. Diese soziale Konstellation wird durch das künstlerische Netzwerk von Produktion, Vermittlung, Performance, Theorie und ökonomischem Tausch definiert. Der reale Glaube des Fans an die MusikerInnen erfüllt sich im Kauf des Objekts des Begehrens – eben dem Musikalbum. Insofern zieht das quasi-spirituelle, zugleich aber auch faktische Begehrensverhältnis die Aneignung des realen Fetischs nach sich.
Die vom Faitiche-Label vertretene, bereits verstorbene Musikerin Ursula Bogner wurde vom britischen Musiker Momus als Travestie des Künstlers Jan Jelinek verstanden: „Die MusikkünstlerInnen, die im Genre ‚Clicks and Cuts‘ arbeiten, mögen ein besonderes Interesse daran haben, ihr Geschlecht zu wechseln. […] Wenn du jeden Tag synthetische Musik bearbeitest – Dateien öffnest, veränderst, speicherst –, warum dann nicht die gleichen Prinzipien von Flux und Fluidität, Aktivismus und Künstlichkeit auf den eigenen Körper, das eigene Geschlecht anwenden? […] Warum nicht das eigene Fleisch clicken und cutten und die eigene Identität editieren?“2
Momus wendet den Begriff „drag“ für die scheinbare Verwandlung Jelineks in die fiktive Persona an, die die Fetischtheorie des Labels ideal zu ergänzen scheint. Dabei ist unerheblich, ob es sich bei den Fotografien von Ursula Bogner um Jelinek handelt oder nicht. Entscheidend ist seine Strategie der „Maske hinter der Maske“3, die für das Publikum eine suggestiv interessante Projektionsfläche bietet.
In der 2019 stattgefundenen Ausstellung Faitiche est. 2008 war diese Projektionsfläche so gestaltetet, dass das Material entsprechend einer künstlerischen Logik ausgebreitet wurde. Durch die Synthese von Elementen biografischer Narration, künstlerischen Artefakten und dem beteiligten Musikernetzwerk entstand so eine „sonisch-visuelle“ Konsistenz. Symptomatisch dafür sind die angegilbten Schreibmaschinenblätter mit Texten und Diagrammen wie etwa Schleusen (sonor) oder die gezeichnete und getippte Diagrammserie „Ursula Bogner: Instrumente in der Jazzmusik und Texturobjekte“, von denen Die Gitarre in der Jazzmusik und Die Trompete in der Jazzmusik grafisch besonders gelungen sind. Der Zyklus ist von Abbildungen aus dem Theorieklassiker Das Jazzbuch (Erstausgabe 1953) von Joachim-Ernst Berendt beeinflusst. Die Schreibmaschinendiagramme eröffnen eine ästhetische Nachvollziehbarkeit, die durchaus auch mit einem Genuss verbunden ist. Ziel ist jedoch auch, auf die Exklusivität der Musikgeschichtsschreibung hinzuweisen, die weibliche Musikerinnen und Komponistinnen bis in die Gegenwart ausgeschlossen hat. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass der historisierende Look die spekulative Funktion haben soll, die Arbeit Bogners in die musealisierten modernistischen Bewegungen der Neuen, seriellen bzw. elektronischen Musik zurückzudatieren.
Dazu passen neben den Diagrammen analoge künstlerische Materialien wie Gips oder Diaprojektionen und die im Raum gestapelten, alten Sinuswellengeneratoren, die schon frühen Elektromusikern wie Conrad Schnitzler in den 1960er-Jahren als Musikinstrumente dienten. Ebenfalls dazu passt Jelineks Soundinstallation 5 Zwischenlautgedichte für Diktiergerät, die in der Ausstellung auf alten Diktiergeräten anzuhören war: Atmen und Gesprächspausen aus Interviewmaterial mit bekannten Persönlichkeiten werden zu lautpoetischen Collagen gesampelt, die auch Bestandteil von Jelineks Albums Zwischen (2018) sind. Die Arbeit Temple of Faitiche (2013) besteht aus einem Datenstick in einem massiven Betonblock. Das Publikum ist eingeladen, sich von dem Stick beliebig Soundmaterial des Labels zu kopieren. Hier wird Bruce Naumans Concrete tape recorder piece (1968) aufgerufen, deren Titel selbsterklärend ist.
Wenn dieses sonisch-visuelle Gewebe in der Galerie Laura Mars zu einer Ausstellung verdichtet ist, so erscheint das ästhetische Output des Labels Faitiche von einer Logik motiviert, in die sich auch Arbeiten anderer KünstlerInnen wie Andrew Peckler, Kiwi Menrath oder Naoyuki Arashi integrieren lassen.
Der auch auf der ausführlichen Website nachvollziehbare Style des Faitiche-Labels bezieht sich einerseits auf die 1990er-Jahre, indem er Referenzen auf die Philosophie der Postmoderne herstellt (etwa das Label Mille Plateaux). Andererseits impliziert er eine gewisse Retrovisualität (etwa in Bezug auf das Label Gagarin Records), die sich in S/W-Fotografien, im Schreibmaschinengebrauch und den diagrammartigen Bildern mit ihrem Verweis auf die Konkrete Poesie der 1950/60er-Jahre artikuliert. Mit der scheinbar historischen Figur Ursula Bogner assoziiert ist eine unzeitgemäße Haltung, der jedoch die Programmatik der Gesellschaft zur Emanzipation des Samples widerspricht. Diese folgt einer digitalen Ideologie, wie sie im exzessiven Soundsampeln proklamiert wird. Der Ästhetik des Labels ist der Fake Ursula Bogner deshalb so dienlich, weil er spekulativ einen Freiraum eröffnet, der inhaltlich von den Alben der Label-MusikerInnen angereichert wird. Wenn auch im Einzelnen sehr unterschiedlich, sind alle hier erscheinenden Tonträger als Konzeptalben angelegt, bei denen nicht nur die einzelnen Stücke jeweils einem Thema untergeordnet sind, sondern die Alben als „Akteure“ das selbstreferenzielle Raster des Labels überhaupt erst erzeugen. So sehr dieser Sound und Look mit dem aktuellen Metallic-Chic kontrastieren, so sehr lässt sich via kalkulierter Scheinantiquiertheit auch eine spezifische Originalität erzeugen.
Auch die im Rahmen der Ausstellung organisierten Konzerte bewegten sich entlang des Abgrunds zwischen einer innovativen Antiquiertheit (Sven-Åke Johansson) und zeitgenössischen Plunderphonics (Jonathan Scherk und Daniel Majer), gerade weil sie aufgrund ihres Hybridsounds ein aufklärerisches Potenzial in den digitalen Hyperspace zu projizieren vermögen. Zur Ausstellungseröffnung wurde das Konzert für sechs Signalgeneratoren mit sechs Personen aus dem Labelkontext „re-performt“, die jeweils einen Sinuswellengenerator nach einer Partitur bedienten. Das Setting und der Drone-Sound erinnerten paradoxerweise an eine historische Inszenierung – die nie stattgefunden hat: zwischen Neuer Musik und den Vorläufern der Band Kraftwerk, als Synthesizer noch keine kommerzielle Verbreitung gefunden hatten. Auch Jelineks Kollaborationen mit EinzelmusikerInnen (Sven-Åke Johansson etc.) und mit der Band Group Show (Jan Jelinek, Andrew Peckler, Hanno Leichtmann) bedeuten einen tanzenswerten Fetisch in Zeiten der globalen Digitalisierung.

Jan Jelinek, Faitiche est. 2008, Galerie Laura Mars, Berlin, 12. Oktober bis 16. November 2019.
https://faitiche.de

 

 

[1] Bruno Latour, Glossar, in: ders., Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002, S. 374.
[2] Momus, Inside every synthetic man there’s an electronic woman, in: Ursula Bogner, Sonne = Black Box. Hg. v. Jan Jelinek. Berlin 2011, S. 13. Vgl. Martin Conrads, Post-Fake als Projektionsspiel. Zum Phänomen „Ursula Bogner“ und der Veröffentlichung „SONNE = BLACK BOX“, in: springerin 1/2012, S. 12f.
[3] „Popmusik lebt von dramatischer Falschheit. Und so ist auch das Fake, ein spektakuläres Fälschen der Aufklärung willen, in der Welt allgemeiner Reproduzierbarkeit eine florierende Strategie.“ (Kiwi Menrath, Vom Spektakel zur Spekulation: Kleine Begriffsgeschichte des Fake, in: Sonne = Black Box, S. 37)