Heft 2/2020 - Lektüre



Christina Thürmer-Rohr:

Fremdheiten und Freundschaften. Essays

Bielefeld (transcript Gender Studies) 2019 , S. 78 , EUR 30

Text: Gislind Nabakowski


Am Anfang dankt die Autorin der Komponistin und Politikerin Laura Gallati, ihr gemeinsames Leben und Arbeiten mit Mut und Freude zu bereichern. Gallati hat von 1979–94 in Schweizer Kantonsparlamenten für feministische und grüne Politik gestritten. Der Reader Fremdheiten und Freundschaften versammelt Essays, in denen die Sozialwissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr das Gefüge von Menschenrechtsdiskursen, Gewalt und feministischen Theorien auslotet.
In Paris-Vincennes gründete Hélène Cixous 1974 das erste feministische Studienzentrum an einer europäischen Universität. 1976 gründete Thürmer-Rohr an der Pädagogischen Hochschule, 1980 dann an der Technischen Universität in Berlin den ersten Studienschwerpunkt Frauenforschung im Studiengang Erziehungswissenschaften, der bis zu ihrer Emeritierung 2005 bestand.
Die lebhafte Aktivistin des Second-Wave-Feminismus ist eine musikbegeisterte Pianistin und Orgelspielerin. Mit der Wahlberlinerin Laura Gallati, ihrer Partnerin, öffneten die gern im Duett an zwei Klavieren Spielenden in Berlin den Salon Forum Akazie 3. Regelmäßig werden dort Konzerte und Vorträge zu komparatistischen Fragen (zur Polyphonie) in Musik und Politik geboten.
Aus patriarchalischen Kanons, dem weißen Heterozentrismus „als Naturgesetz“ und Norm für Liebe und Erotik haben sich beide gelöst. Sie zogen Söhne groß, waren verheiratet. Die Väter des Duos kamen aus dem heutigen Polen. Jude der eine, jener von Thürmer-Rohr ein glühender Nazi, Pfarrer und Wehrmachtsoffizier, der 1941 im Krieg in Russland fiel.
Christina Thürmer-Rohr ist seit Langem durch Texte zur Geschlechterforschung bekannt, im Wesentlichen zur Mittäterschaft von Frauen an männlicher Gewalt, so auch der Beteiligung an antisemitischen Genozidmaschinerien im Nationalsozialismus. Komplizentum wird von ihr, anders als von vielen StrukturanalytikerInnen, nicht als „strukturelle Gewalt“ kleingeredet, sondern als ein vom weiblichen, obzwar meist unterlegenen Teil der Menschheit geduldetes oder durch Entscheidungsaktivität, also somit anerkanntes, unterstütztes oder getanes Unrecht.
Auch dieses Mal resultiert die Überzeugungskraft ihrer Essays aus der stupenden Genauigkeit der Ausführungen, jedoch mit anderen Denkbewegungen als die, die sie einst als unversöhnliches, intellektuelles „Vagabundieren“ definierte: das Aufreißen neuer Horizonte. In übervollen Hörsälen provozierte schon 1987 ihr Buch Vagabundinnen Widersprüche, regte zu sinnvollem, politischem Streit an. Es inspirierte Mitstreiterinnen. Während der Mainstream ohnehin schon „kein harmloses Gewässer ist“, unterstützte es nicht Affekte von Verbindlichkeit im Hinblick auf sogenannte Schwesternschaft, sondern realpolitische Gewissheiten, dass auch Frauen durch Differenzen voneinander getrennt sind.
Zauberworte entlarvte sie und den Bilderbrei an Fantasien, die mehr über Illusionen von Männern und Trugbilder des Common Sense aussagen als über realpolitische Verhältnisse von Frauen, wie sie sich auch hinter den ständig wiedergekäuten, nebulösen Slogans „Feminisierung der Gesellschaft“ auftun. Das Aufeinanderfolgen von Erkennen und konsequentem Handeln, Leidenschaftlichkeit für plurale Verschiedenheiten von Menschen, Begriffe für strikte Unterscheidungen zwischen Macht und Gewalt erforschte sie seit den 1990er-Jahren bei Hannah Arendt. In deren Denken „ist Pluralität unsere Existenzbedingung, die Fremdheit einschließt“. Thürmer-Rohrs neues Buch insistiert: Gewaltkritik muss sehr genau, zielgerichtet und umfassend sein. Da, wo man ist, gilt es, gewalttätige und demütigende Aktionen nicht zu stützen, gerade jetzt, da tradierte Ordnungskräfte von Geschlecht und Nation brüchig geworden sind.
Die im Reader enthaltenen, im Tenor nüchtern wie mit Elan verfassten Texte regen an, Fragen nach einem nicht homogenen, pluriversalen „Wir“ in das mit viel Ungerechtigkeit geschlagene, globalisierte Heute zu holen, auch wenn uns das „Nicht-Wir“ vielfach ein Unbekanntes und Fremdes ist. Sie schreiben gegen den unterstellten Bedrohungscharakter des Unvertrauten an, gegen demokratiefeindliche Ideologisierungen des Fremden, weil das Unbekannte im Vertrauten, auch in Freundschaften, ja doch immer schon mit existiert. Da ist „Fremdheit nichts, wovon wir uns befreien müssten oder könnten, oder das wir uns vertraut machen sollten, um es schließlich selbst zu besitzen, oder das wir orten müssten, um es aus dem eigenen Horizont abschieben zu können“, heißt es, wo in Erinnerung an Hannah Arendt vom „Zusammenkommen des Verschiedenen in der Fülle der Welt“ (Mary McCarthy) die Rede ist.
Gefragt, welcher rote Faden die 20 Essays eint, könnte es der Habitus sein, dass in der globalisierten Dynamik ,,finsterer Zeiten“ Menschlichkeit bei sich bleibt. Der Feind „von außen“ als Steigerung der Fremdheit wird im Krawallpopulismus und im „Lügentraining“ der extremen Rechten schon als das Böse schlechthin verteufelt.
Das Buch ruft gegen Gedankenstillstand, zur Offenheit, für eine Wirklichkeit auf, die noch nicht vorgegeben ist. Zuletzt nochmals knapp das Resümee über die so brisant verlaufenden Konfliktlinien: Von „der Frau“ oder „dem Mann“ als geschlossenen Einheiten zu sprechen, ist ein ebenso totalitärer Reflex wie von „der Rasse“ oder „der Nation“. Es kennzeichnet eingewöhnte Gewalt und beraubt bzw. vandaliert plurale Zugehörigkeiten.