Heft 2/2020 - Lektüre
„Paradise is closer than you think“ – ein Londoner Bus macht Reisewerbung für Sri Lanka. „Angst vor Migranten“ titelt eine Zeitung, die ein Fahrgast liest. Der Tamile Antoni, kürzlich aus Sri Lanka geflüchtet, ist soeben aus diesem Bus gestiegen. An einer Station hängt eine Werbung für ein Kriegsspiel, das man bei Tesco käuflich erwerben kann. Wir befinden uns im Jahr 2010.
Benjamin Dix’ und Lindsay Pollocks Vanni: A Family’s Struggle Through the Sri Lankan Conflict ist keineswegs so plakativ, wie diese Paraphrase einer der letzten Seiten dieser grafischen Aufzeichnung aus dem sri-lankischen Bürgerkrieg suggeriert. Die Schwarz-Weiß-Zeichnungen Pollocks mit ihren fließenden Grauabstufungen enthalten zahlreiche Details, die sich die LeserInnen selbst zusammensuchen müssen. Das Aufeinanderprallen von verschiedenen Realitäten, die dennoch nicht ineinandergreifen, ist allerdings spürbar als einer der Hintergründe, die diesem Comicprojekt zugrunde liegen. Die Überforderungen, denen wir ausgesetzt sind, indem Katastrophen- und Kriegsmeldungen unablässig auf uns niederprasseln, führen zu einem massiven Wahrnehmungsproblem, das ein neues Potenzial für Ängste, Spannungen und Konflikte in sich trägt.
Gegen diese Überforderung setzt der Comic Vanni die Erzählung ein. Er beginnt mit der Geschichte zweier tamilischer Familien, der Ramachandrans und der Chologars, die in einem kleinen Dorf, Chempiyanpattu, an der nordöstlichen Küste Sri Lankas, friedlich nebeneinander leben, bis ein Ereignis ihr bescheidenes Glück durcheinanderbringt. Antonis Vater kehrt eines Tages nicht mehr aus Colombo zurück. Antonis kleiner Bruder Ranjan, der mit ihm dorthin unterwegs war, bringt die entsetzliche Nachricht vom Tod des Vaters nach Hause: Er wurde im Juli 1983 ermordet, verbrannt. In diesem Monat, bekannt als Schwarzer Juli, bricht der schwelende Konflikt, der in der britischen Kolonialpolitik wurzelt, mit einer Reihe von Pogromen gegen die Tamilen in einen offenen Bürgerkrieg aus. Er dauert, von einigen Kampfpausen und kaum verbindlichen Waffenstillständen abgesehen, 25 Jahre lang. Traumatisch in Schuldgefühle verwickelt, meldet sich Ranjan, sobald er das entsprechende Alter erreicht hat, freiwillig als Kämpfer bei den Tamil Tigers. Sein Freund aus der Nachbarsfamilie folgt ihm.
Mit Rückblenden und Zwischensprüngen spannt der Comic einen Bogen von den Anfängen des Kriegs bis zu seinem bitteren Ende im Jahr 2009. Aus der Perspektive einer gewöhnlichen Familie zeichnet der Comic nach, wie eine ganze Nachbarschaft nach und nach in einen gewaltsamen, militärischen Konflikt verwickelt wird.
Benjamin Dix ist im Jahr 2004 als UN-Mitarbeiter nach Vanni, der Region im Norden Sri Lankas, gekommen, nachdem einer der stärksten Tsunamis im asiatischen Raum auch große Teile der Ostküste des Landes zerstört und an die 30.000 bis 40.000 Opfer gefordert hatte. Vanni war zugleich ein Epizentrum der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der singhalesischen Regierungspartei und den tamilischen Separatisten, bekannt vor allem durch ihre stärkste paramilitärische Organisation, die Tamil Tigers (LTTE). Vier Jahre lang war der UN-Mitarbeiter im Vanni-Gebiet stationiert, hat dort viele Überlebende der Tsunamikatastrophe kennengelernt und Freundschaften geknüpft. In dieser Zeit hat die Armee der sri-lankischen Regierung, die Sri Lankan Army (SLA), nach einer Phase der Reorganisation ihre letzte gnadenlose militärische Offensive gegen die Tamilen gestartet. Die tamilische Zivilbevölkerung wurde auf No Fire Zones zusammengedrängt, die nach Belieben verlegt und zunehmend verkleinert wurden, Tausende Menschen waren permanent auf der Flucht, die Flüchtlingslager selbst immer häufiger Ziele von Bombardierungen. Auf der anderen Seite zwangen die Tamil Tigers Jugendliche beiderlei Geschlechts und Kinder bis zu zwöf Jahren in ihre Trainingslager, Überläufe von ZivilistInnen auf die andere Seite wurden gewaltsam verhindert.
2008 musste die UN ihren Standort in Kilinochchi, in Vanni, aufgrund der militärischen Angriffe vonseiten der Regierungspartei aufgeben. Die tamilische Zivilbevölkerung verlor damit den letzten Schutz. Nicht zuletzt um seine eigenen traumatischen Erfahrungen aufzuarbeiten, nachdem viele seiner tamilischen FreundInnen ermordet wurden, hat Benjamin Dix sich für eine Aufzeichnung der Ereignisse entschieden. Sieben Jahre hat er mit dem Zeichner Lindsay Pollock an dem Comic gearbeitet: Neben intensiven Recherchen und Fotodurchsichten haben die Autoren Interviews mit geflüchteten TamilInnen im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, aber auch in London oder Zürich geführt. Das Ergebnis des Comics bezeichnen die Autoren als „a work of ,non-fiction-fiction‘“: Auch wenn der Comic einen fiktionalen Bogen schlägt, in seinen Einzelteilen ist er es nicht.
Wesentlich ist, dass der Erzählbogen nicht mit dem offiziell erklärten Kriegsschluss im Mai 2009 endet. Der Krieg in Sri Lanka wurde nach dem amtlichen Ende „fortgesetzt“. Nicht allein eine Aufarbeitung der Kriegsverbrechen wurde bisher vehement abgewehrt, auch Folter und Verfolgung, wie vielfach dokumentiert, wurden bis in die letzten Jahre weiter betrieben. Der Comic nimmt Antonis Fährte der Flucht nach London auf und bietet damit den LeserInnen die Möglichkeit, die zu uns Geflüchteten mit neuen Augen als Menschen zu erkennen, die unfassbare Verluste erlitten haben, aber vor allem als Menschen, die eine Geschichte besitzen.