Wien. Alle Bilder werden verschwinden. Manche weniger als andere. Der Eingangsraum schweigt, an den Wänden hängen Fotografien, hauptsächlich Porträts. Viele längst vergangene Blicke gefangen im jeweiligen Medium. Man zählt die Blicke auf Blicke, in starren oder manchmal auch bewegten Gesichtern festgeschrieben, schweigend, irgendwie historisch. Der Raum zeigt sich unbewegt, lässt Facetten von Identität im Stillstand sprechen. Nur eine nicht menschlich anmutende Marionette kommentiert die Blicke mit einem mechanischen Zucken. The Cindy Sherman Effect im Kunstforum Wien sucht ausgehend von der für viele zeitgenössische KünstlerInnen richtungsweisenden Arbeit von Cindy Sherman des vergangenen Jahrhunderts nach Verwandtschaften innerhalb der Gegenwart. Findet Analogien in Form von Mindsets und vollzieht dabei seine Fluchtlinien in mehr als 20 künstlerischen Positionen. Als zentraler Ausgangspunkt und wiederkehrendes Motiv fungiert eine Auswahl aus Cindy Shermans ikonischer Serie „Untitled Film Stills“ (1977–80), in der in Anlehnung an Regisseure wie Michelangelo Antonioni oder Alfred Hitchcock filmische Fiktionen nachgestellt und imaginiert werden. Man sieht Sherman in erdachten, aber bestehenden Rollenbildern, die mit den zum damaligen Zeitpunkt gängigen Geschlechterinszenierungen sowie dem klassischen eindimensionalen Male Gaze brechen. BetrachterIn und Subjekt verschmelzen in dieser Serie an Fotografien meist zu einer dichotomisch organisierten Figur, in der Außenblick und Innenblick zu einer neuen, doch irgendwie bekannten Rolle zusammenfinden. Diese Performativität einer möglichen Identitätstransformation schreibt sich somit in die Unbeweglichkeit ein. Ganz nach den Worten: „Nobody‘s here but me“1, wie eine gleichnamige Dokumentation über Cindy Sherman von 1994 symbolhaft formuliert. Diese Themen ziehen sich durch. Man kennt diese Bilder, man kennt die ProtagonistInnen. „Becoming“ verkörpert ein Werden, eine linear gedachte Bewegung, die nach vorne verläuft. Die raumfüllende Videoinstallation Becoming (2004) der Künstlerin Candice Breitz visualisiert das Werden als Isolation, als Trennung der Elemente, als eine Bewegung, die in zwei Richtungen verläuft, ohne dabei einen Fixpunkt zu kennen. Becoming war auch der Titel einer MTV-Reality-Show, die Breitz gewissermaßen als Ausgangspunkt nahm. Dabei ging es um die visuelle Transformation von Fans zu ihren Vorbildern, wie etwa Britney Spears. Die siebenteilige Doppel-Channel-Arbeit zeigt durch Blick von vorne ebenfalls Stereotypen: Cameron Diaz, Julia Roberts, Jennifer Lopez, Meg Ryan, Neve Campbell, Reese Witherspoon und Drew Barrymore sprechen durcheinander, ohne dass man sie hören kann. Jede ist eine von vielen, eine Ausformulierung in der Anhäufung von Prototypen. Sie stehen im jeweiligen Schatten. Der Stereotyp im Schatten der performativen Imitation oder umgekehrt. Die beiden Abbilder sind durch einen hölzernen Frame verbunden, der gleichsam die hölzerne Marionettenhaftigkeit der immergleichen Charaktere zusammenhält und kommentiert. Back to back. Beim Blick auf die Rückseite findet man Candice Breitz als synchronisierten Körper wieder, in Form von Body-Karaoke. Die bekannten Figuren verschwinden, die ursprüngliche Stimme bleibt und bevölkert einen neuen Körper, adressiert die Austauschbarkeit von vermeintlichen Individuen. Die Identitäten fließen, durchdringen sich. Es entsteht eine wechselseitige Choreografie der Imitation.
Das Summen von Pipilotti Rist hat man schon aus der Ferne gehört. Die Videoarbeit Ever Is Over All (1997) thematisiert stumpfe Gewalt als Moment der Emanzipation. Diese Installation zeigt sich in Form einander überschneidender Projektionen, fast so als würde sich der Gehsteig um die Ecke biegen. Die jeweiligen Bildgrenzen lösen sich sukzessive auf. Eine Frau läuft in entschleunigter Bewegung eine Straße entlang, das Kleid weht, sie hält die Blume wie eine Waffe. Sie zertrümmert damit Autofenster, fast wie eine rituelle Geste. Der destruktive Charakter von Gewalt wird hier umcodiert und genutzt.
Man kennt auch diese Bilder seit Beyonces Appropriation auf ihrem Album Lemonade, in denen sich Rist’s Choreografie Jahre später erneut in die Popkultur eingeschlichen hat. Viele Gesichter später wirkt Ryan Trecartins Videoarbeit Re’Search (Re’Search Wait’S) (2009–10) wie die zeitgenössische Variante von MTVs Becoming. Die ProtagonistInnen leiden unter einem triefenden Aktualisierungs- und Partizipationszwang. „I Participate“ werfen sie sich in gedehnter Wiederholung gegenseitig in die Ohren, aber keiner kann es mehr hören. Eine ständige Selbstperformance ohne Publikum. In dieser „vierten Welt“ reflektiert die permanente Neukreation und Auflösung von Sprache und Syntax ein Werden ohne Ziel. Die permanente Transformation von Sprache als Identitäts(de-)konstruktion, als ahumaner Überfluss, aber auch als Worte ohne Potenz.
„Demo: &then she Got. Really *cute &emo,tional . I Got the…phones…
March: I got the Sledgehammer.
Demo: &Then, She Got „Really *cute & EMOtiomal* (really*cute)
March: You‘re Sooo Cute, *Retina? I Told u you were (cute) &emotional.
Demo: I know,
Retina: Your World is. so .ABstract OOOOOOOOOOOOOO Can I take Notes, and be apart of it Oooooooooooooo.“2
The Cindy Sherman Effect zeigt Blickregime im Wandel, Bewegungen in alle Richtungen, direkt, verdreht, überzeichnet oder imitiert. Der betitelte „Effect“ wird hier als breitenwirksame Auswirkung inszeniert, in Form von bereits festgefahrenen Mechanismen. Die Aspekte „Identität und Transformation in der zeitgenössischen Kunst“ werden überwiegend durch physisch sichtbare Körper und Physiognomien und vor allem Gesichter verhandelt und repräsentiert, ohne dabei eine besonders abweichende Lesart gegenüberzustellen. Aspekte der Transformation von Gender und Fragen von Non-Binary sowie Transgender werden dabei eher gemieden, was den bereits angedeuteten antiquierten Gesamteindruck nur noch verdeutlicht. Cindy Sherman hat jetzt Instagram und trotzdem hängen die Bilder noch an den Wänden. In den Galerien alles beim Alten. Gerade diese verzögerte Geste symbolisiert den Konflikt von The Cindy Sherman Effect. Wie lassen sich künstlerische Positionen lesen, die vor der vermeintlich richtigen Zeit stattfanden, wobei dieser Vorsprung jedoch durch die beschleunigte Gegenwart inzwischen restlos eingeholt wurde? Die sich biegende Verzerrung von Identität als Konstruktion reflektiert kaum mehr, kommentiert auch nicht, sie ist in ihrer expliziten Ausformulierung zur gähnenden Normalität verkommen und wird durch den Gesichtsoverload der absoluten Gegenwart entzaubert. Alle Bilder werden verschwinden. Manche dann doch mehr als andere.
1 Cindy Sherman: Nobody‘s here but me, Regie: Mark Stokes, 1994.
2 Abgedruckt hier: Ryan Trecartin, The Re’Search (Re’Search Wait’S). Übersetzt von Tobias Haberkorn. Leipzig: Merve Verlag 2017.