Mainz. Die Aneignung des Exotischen, auch in Bezug auf Nahrungsmittel wie Früchte, hat in Europa eine lange, mithin kriegerische Geschichte. Schon die Römer brachten Köstlichkeiten von ihren Eroberungszügen mit. Der Begriff des Kulinarischen stammt von Lucullus ab, der neben versklavten Gegnern auch die Artischocke, die Kirsche und seine Begeisterung für persische Gartenkunst nach Europa brachte. Von der Neuzeit bis in die Gegenwart zeigt sich derart herrschaftliches Gebaren europäischer Okkupanten mit wiederkehrenden Mustern – die Verkettung von Kolonialismus und Nahrungsmitteln entgleitet jedoch dem gesellschaftlichen Gedächtnis, Begriffe wie „Kolonialwaren“ verschwinden. Das täuscht darüber hinweg, dass auch heute wirtschaftlich starke Länder und Unternehmen ihre ökonomischen Strukturen den im Kapitalismus schwächer vertretenen oktroyieren.
Uriel Orlows Ausstellung Conversing with Leaves in der Kunsthalle Mainz umkreist mit vielen Stimmen ein komplexes Thema, das im Titel ganz poetisch von einer „Konversation mit Blättern“ spricht und vordergründig den kulturellen Umgang mit Pflanzen behandelt. „Blätter“ scheint zunächst stellvertretend für Bäume zu stehen. Erst im Zuge der sieben unterschiedlichen, über das ganze Haus verteilten Ausstellungssituationen wird aber deutlich, dass die Blätter wenigstens auch für Heilpflanzen und Tee, Obst und Gemüse stehen. Wichtiger noch als die kulturellen oder historischen Themen, mit denen die Pflanzen assoziiert werden, treten aber ökonomische Bedingungen hervor: in Afrika, in Italien, in Frankreich. Und so bildet sich im Zuge der Ausstellung mittels meist filmischer Arbeiten eine inhaltliche und visuelle Beziehung der einzelnen Themenkomplexe zueinander. Alle Arbeiten stehen in einem unmittelbaren Bezug zu real Erlebtem: von dem Interview mit einer italienischen Anti-Mafia-Aktivistin und einem Geflüchteten aus Somalia bis hin zu historischen Dokumenten. Durch die ephemeren Überreste von Herbarien oder postkartenartigem Fotomaterial wird die historisch-gewachsene politische Gegenwart überall deutlich. Dem archivalischen Charakter des dokumentarischen Materials treten wiederum sinnlich erfahrbare Akzente entgegen. Es entsteht eine poetisch-philosophische Symbiose – und die sieht so aus:
Im ersten Raum zeigt The Memory of Trees (2016) in großformatigen Schwarz-Weiß-Solarisationen verschiedene Bäume in Südafrika, die eine starke symbolische Bedeutung im Kampf gegen die Apartheid erlangten. Kleine Metalltafeln mit Erklärungen verleihen der Installation einen historisierenden Charakter. Im zweiten Raum zeigt die Acht-Kanal-Videoinstallation Wishing Trees (2018), zentral mit übergroßer Videoprojektion, eine 440 Jahre alte Zypresse am Stadtrand von Palermo auf Sizilien, gefilmt von einer sie umkreisenden Drohne; auf der Rückseite ist die Projektion eines Ficus Macrophylias im Stadtzentrum zu sehen. Hier weitet Orlow die politische Dimension des Baums weiter aus: Die Zypresse soll ein Mönch gepflanzt haben, dessen Eltern SklavInnen aus Äthiopien gewesen waren; der Ficus stammt aus dem Garten eines von der Camorra ermordeten Staatsanwalts, dessen Tod mit dazu führte, dass sich eine Frauenwiderstandsbewegung gegen die Mafia gründete. Eine Anti-Mafia-Aktivistin erzählt im Interview zur Kamera von der Freiheitsbestrebung, die sie in ihrer langjährigen Arbeit angetrieben hat. Ein weiterer Monitor zeigt eine Demonstration, die quasi den gesellschaftlichen Rahmen ihrer Erzählung untermauert. Dieser politisch-sozialen Situation Siziliens ist die ökonomische Wirklichkeit von Geflüchteten gegenübergestellt. Ein Somalier berichtet von seinen mehrfachen Fluchten aus Afrika, die ihn schließlich nach Palermo brachten. Ein Monitor zeigt afrikanische Küchenhilfen bei der Arbeit. Auch im dritten Raum nimmt eine übergroße Naturdarstellung, hier von Zwiebelblumen im französischen Aubervilliers, den Hintergrund ein. Davor breiten sich Video, Bild- und Textdokumente der Arbeit Soil Affinities (2018–19) aus, die auf die kolonialgeschichtliche Bedeutsamkeit vom Handel mit Pflanzen aus Afrika für Europa verweisen. Ganz zum Schluss ist im letzten Raum in Learning from plants (Artemisia Afra) (2019) noch eine Mutter mit ihren Kindern zu sehen, die in einem kargen Raum Biotee in kleine Papiertüten für den europäischen Markt abfüllt. Im Raum stehen Wasserkocher, Sitzgelegenheiten und Teebecher – es darf Beifußtee getrunken werden, der als Heilmittel gegen Malaria gilt. Die traurige ökonomische Ungleichheit zwischen europäischen KonsumentInnen und afrikanischen Produzenten ist implizit.
Diesen rechercheintensiven Arbeiten sind poetische Momente zugestellt, die sich des historischen und politischen Materials bedienen, ohne es inhaltlich zu erläutern. Das Video The Fairest Heritage (2016–17) zeigt die südafrikanische Schauspielerin Lindiwe Matshikiza, wie sie zur Projektion mit Bildern einer kolonialistischen Veranstaltung zu Ehren der Königin in den 1950er-Jahren bestimmte Blickwinkel und Bewegungsachsen nachstellt. Die Grausamkeiten, die das Apartheidsystem der nicht weißen Bevölkerung zumutete, lassen sich auch durch Tanz und Poesie kaum begreifen, aber sie sind ein Weg, die Geschichte neu sichtbar zu machen. Hörbar wird sie in einem Raum im Turm der Kunsthalle, in dem die Soundinstallation What plants were called before they had a name (afrikanische Stimmen sprechen die nativen Namen der Heilpflanzen, 2016–18) zusammen mit Echoes (Overheadprojektoren zeigen Abdrucke von Abdrucken aus Herbarien indigener Pflanzen, 2016–18) präsentiert wird. Der Singsang gibt dem Raum und dem Bildmaterial eine musikalische Note. Vielleicht könnten sich Tanz und Musik heute gegen Unterdrücker behaupten?
Dass es im Kampf für Freiheit und gegen Rassismus keine Entwarnung geben kann, wird bei jedem Blick auf die rechtspopulistischen Strömungen der Gegenwart deutlich. Bei Orlow nimmt die Filmfiktion Imbizo Ka Mafavuke (Mafavukes Tribunal, 2017) eine Art vermittelnde Instanz zwischen Poesie und Realität ein. Er erzählt vom Besuch eines Technokraten der Regierung, der LokalpolitikerInnen für ein zentrales Heilkunderegister begeistern will. Die Regierung wolle das tradierte Naturwissen gegenüber ausländischen Unternehmen verwalten. Aber es wird widersprochen: Denn den Ausverkauf des magisch-schamanischen Wissens um Heilkräfte würden die Ahnen missbilligen. Nur sie seien im Besitz des geistigen Eigentums.
So nimmt Conversing with Leaves die Themen, die sie verhandelt, sehr feinsinnig auf: Menschen stehen im Zentrum dieser offenen Arbeiten. Sie sind gleichsam eine weitere Pflanzenart, mit deren Blättern wir in der Ausstellung Konversation betreiben.