Heft 2/2020 - Netzteil
Vor 35 Jahren, im März 1985, wurde im Centre Georges Pompidou in Paris die Ausstellung Les Immatériaux eröffnet. Schon bald avancierte die Schau zu einem der berühmtesten Ausstellungsprojekte des ausgehenden 20. Jahrhunderts, verband sie doch die philosophischen Diskurse der Postmoderne, Positionen der zeitgenössischen Kunst und die damals neuen, digitalen Technologien und elektronischen Netzwerke mit aktuellen wissenschaftlichen Entwicklungen, von der Genetik bis hin zur Designforschung. Und das alles in einer Ausstellungsszenografie, die die Grande Galerie im fünften Stock des Centre Pompidou in ein düsteres, schwebendes Labyrinth verwandelte, in dem die Desorientierung der BesucherInnen programmatisch und intendiert war.
Bis heute ist es schwierig, sich anhand der vorhandenen Literatur einen Überblick über dieses komplexe Projekt zu verschaffen. Dabei scheint die Aktualität von Les Immatériaux in den letzten Jahren eher zuzunehmen – man denke nur an die Debatten zum Posthumanismus, deren Themen hier unter anderem durch Exponate über die Transformation des menschlichen Körpers und seiner Materialität, über synthetische Biologie und virtuelle Räume angesprochen wurden. Oder an die Bedeutung von Sprache und Code für die Konstitution von Wissen und Erinnerung, ein Thema, das der inzwischen einflussreiche französische Philosoph Bernard Stiegler aus dem Diskurskontext von Les Immatériaux heraus in zahlreichen Publikationen entwickelt hat. Zudem ist das radikale Nebeneinander der disparat erscheinenden Exponate, von architektonischen Modellen und multimedialen Inszenierungen, von wissenschaftlichen Experimenten und interaktiven Klanginstallationen, inzwischen viel leichter zu akzeptieren, als es damals war.
Die Vorbereitungen für ein Ausstellungsprojekt über „Neue Materialien und neue Formen der Kreativität“ liefen am Zentrum für Designforschung des Centre Pompidou, dem Centre de Création Industrielle (CCI), schon seit 1981 und waren weit vorangeschritten, als im Sommer 1983 der Philosoph Jean-François Lyotard als Chefkurator zum Team um den Designtheoretiker und Kurator Thierry Chaput hinzustieß. Lyotard ließ einen Großteil der Planungen weiterlaufen, machte einige wegweisende Ergänzungen – wie zum Beispiel die Integration von historischen und zeitgenössischen Kunstwerken und die Entwicklung eines aufwendigen, kopfhörerbasierten Audioprogramms – und lieferte als entscheidenden Beitrag für das zukünftige Profil des Projekts mit dem Neologismus der „Immaterialien“ eine konzeptuelle Klammer, die die große Vielfalt der ausgestellten Phänomene in ein zusammenhängendes Narrativ einzubinden half.
Das Thema der Autorschaft spielte sowohl in einigen der 60 Ausstellungsstationen als auch in der kuratorischen Praxis des Vorbereitungsteams eine entscheidende Rolle. Mit experimentellen Publikations- und Diskursformaten, die die Ausstellung offline und online (im französischen Minitel-System, einer Art Protointernet der 1980er-Jahre) begleiteten, wurden gezielt kooperative und künstlerische Forschungsmodelle ausprobiert. Dies war nur möglich in einer heterogenen, kollaborativen Struktur, deren Nukleus das kuratorische Tandem aus Chaput und Lyotard bildete und Dutzende von KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen mit einbezog – viele von ihnen aus Paris und Umgebung.
Es ist ein eindeutiges Manko in der bisherigen Literatur über Les Immatériaux, dass diese kollaborative Struktur zwar grundsätzlich anerkannt wird, dass hieraus aber für die Interpretation der Ausstellung und ihrer Konzeption kaum Konsequenzen gezogen werden. Stattdessen werden dort die Entscheidungen zur Gestaltung der Ausstellung und zur Auswahl der Exponate fast durchweg und pauschal Lyotard zugeschrieben. Trotz solcher Einschränkungen lässt sich anhand der Forschungsarbeiten von Francesca Gallo (vor allem zum Kontext der zeitgenössischen bildenden Kunst, publiziert auf Italienisch), Antony Hudek (zum philosophischen und kunsttheoretischen Kontext, auf Englisch) und John Rajchman (zur Ausstellungsgeschichte, auf Englisch) ein recht guter, allgemeiner Eindruck gewinnen. Unverzichtbar aber sind die Beschreibungen der einzelnen Ausstellungsstationen in der Studie von Antonia Wunderlich (auf Deutsch), die bis heute neben dem französischsprachigen, online leicht auffindbaren Katalog und trotz einer fehlenden Einarbeitung der existierenden Dokumentarfotos den wichtigsten Beitrag zu einem umfassenden Verständnis des inhaltlichen und räumlichen Settings von Les Immatériaux darstellt.
Diskurse und Figuren
Ein neues Buch von Daniel Birnbaum und Sven-Olov Wallenstein, Spacing Philosophy: Lyotard and the Idea of the Exhibition (2019) leistet darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Kontextualisierung von Les Immatériaux im philosophischen Werk Jean-François Lyotards. Ausgehend von Lyotards frühem Buch Discours, figure (1971) und seiner Rezeption und Weiterentwicklung kunsttheoretischer Überlegungen von Maurice Merleau-Ponty und Theodor W. Adorno werden diese philosophiegeschichtlichen Aspekte gegenüber der vorhandenen Literatur (unter anderem von J. Rajchman und K. Bamford) weiter vertieft. Zu kurz kommt dagegen die genaue Analyse der Ausstellung und die in Aussicht gestellte Profilierung als Vorläufer für die „Gedankenausstellungen“, als die Peter Weibel und Bruno Latour ihre Projekte am ZKM bezeichnet haben. Hier löst Spacing Philosophy nur das Versprechen des Titels, nicht aber das des Klappentexts ein. In den Passagen über Les Immatériaux selber bieten Birnbaum und Wallenstein weniges, das nicht schon durch die Studien von Wunderlich, Gallo und Hudek bekannt ist. Auf gut 25 Seiten wird ein Abriss der Ausstellung gegeben, der zwar in dieser Form nun erstmals auf Englisch verfügbar ist, der aber über eine aufmerksame Durchsicht des Katalogs kaum hinausgeht und bei Weitem nicht an die detaillierte, 150-seitige Beschreibung des Ausstellungsrundgangs in Wunderlichs Buch heranreichen kann. Letztere bleibt damit bis auf Weiteres die beste Quelle, um die konkrete Ausstellung, die Exponate und Szenografie in ihrer tatsächlichen Komplexität zu studieren.
Die Argumentation von Birnbaum und Wallenstein dreht sich um zwei zentrale Hypothesen. Die Erste ist, dass die Ausstellung Les Immatériaux eine unmittelbare und notwendige Konsequenz aus dem philosophischen Denken Lyotards seit Discours, figure gewesen sei. Spacing Philosophy bemüht sich, diesen Zusammenhang vor allem anhand seiner kunsttheoretischen Texte herauszuarbeiten, verzichtet aber darauf, Lyotards konzeptionelle Texte für Les Immatériaux einer entsprechenden Analyse zu unterziehen. So bleibt das Bild der einzigen Ausstellung, an der Lyotard konkret beteiligt war, in diesen philosophischen Exkursen zu seiner „Idee der Ausstellung“ seltsam unscharf. Auf die kritische Lektüre der Katalogtexte durch einen Lyotard-Kenner vom Format Wallensteins muss man leider weiter warten.
Die zweite Hypothese des Buchs bezieht sich auf einige Bemerkungen, die Lyotard Ende der 1980er-Jahre gemacht und in denen er den Wunsch nach einer „zweiten Ausstellung“ formuliert haben soll. Der Künstler Philippe Parreno erinnert sich, dass Lyotard im Rahmen eines Seminars am Pariser Institut des hautes études en arts plastiques (IHEAP) im Studienjahr 1988–89 von einem Nachfolgeprojekt zu Les Immatériaux gesprochen und dieses mit dem Arbeitstitel Résistances bezeichnet habe. Man muss dies so zurückhaltend formulieren, denn es gibt außer den Erinnerungen Parrenos keinen Nachweis für diese Bemerkungen. Und selbst wenn Lyotard im Rahmen des damaligen Seminars, mehr als drei Jahre nach Les Immatériaux, derartige Aussagen gemacht haben sollte, dann ist noch nicht klar, ob dies durchdachte, konzeptionelle Überlegungen waren oder ob er lediglich in einem informellen Gespräch über eine nachträgliche Kompensation einiger Unzulänglichkeiten der Ausstellung sinniert hat.
Birnbaum und Wallenstein gründen einen wesentlichen Teil ihres Buchs auf diese so verführerische wie unfundierte Vermutung, lassen sich aber auf eine weitergehende Spekulation darüber, wie man sich ein solches „zweites Ausstellungsprojekt“ vorzustellen hätte, kaum ein. Sie beschäftigen sich im entsprechenden Kapitel mit verschiedenen Motiven der Widerständigkeit in Lyotards Philosophie und in seiner Beschäftigung mit Psychoanalyse und Kommunikationstheorien, scheinen aber unentschieden, ob solche Widerständigkeit für die hypothetische Ausstellung eher im Sinne einer Ästhetik der Negativität, der Störung und des Rauschens zu denken wäre oder doch eher als eine Ästhetik der Präsenz in der Vermittlung von Kommunikation und Widerstand.
Zudem schieben die Autoren die eigene Ahnung schnell wieder beiseite, Les Immatériaux könnte selber schon einige dieser Fragen der Widerständigkeit adressiert haben, und übersehen deshalb sowohl Hinweise, die ihren Überlegungen in die Hände spielen würden – wie zum Beispiel die wichtige Rolle, die die Stimme und das gesprochene Wort in Les Immatériaux spielten –, als auch solche Aspekte, die das Projekt einer „zweiten Ausstellung“ als höchst unwahrscheinlich erscheinen lassen. Denn schon in pragmatischer Hinsicht muss man sich fragen, wer Lyotard hätte helfen können, eine solche Ausstellung zu realisieren. Niemand war sich stärker bewusst als Lyotard selber, dass Les Immatériaux als kollaboratives Projekt entstanden war und nur im Dialog mit Chaput und vielen anderen aus dem Umfeld des CCI verwirklicht werden konnte. Allein für die zehn Ausstellungsstationen mit Werken der bildenden Kunst hatte der Philosoph im Laufe des Jahres 1984 in zahlreichen Arbeitstreffen mit dem damals jungen Museumskurator Bernard Blistène zusammengesessen und die eigenen Ideen anhand von dessen Vorschlägen für Exponate im Dialog mit Blistène präzisiert. – Es wäre tatsächlich interessant, darüber zu spekulieren, mit wem Lyotard um 1990 eine solche „zweite Ausstellung“ hätte realisieren können und was daraus geworden wäre. Seine eigene Rolle im Vorbereitungsprozess macht es freilich höchst unwahrscheinlich, dass Lyotard von sich aus eine solche Gelegenheit gesucht und ein entsprechendes Team zusammengestellt hätte. Welche Institution aber hätte ihm eine solche Gelegenheit antragen können, und was wäre daraus geworden, Anfang der 1990er-Jahre?
Fehlstellen und Brücken
In der Rückschau lassen sich einige Themen ausmachen, die heute mit einer so großen Selbstverständlichkeit zum Feld der „Immaterialien“ gezählt werden, dass ihr Fehlen in Les Immatériaux auf den ersten Blick überrascht, auf den zweiten jedoch zeigt, wie sehr sich diese Diskurse in den letzten Jahrzehnten verändert haben. So gab es in der Ausstellung zwar Beispiele allgegenwärtiger und außergewöhnlicher Materialien, von Astronautennahrung über künstliche Haut bis hin zu Ziegelsteinen, doch fehlte jegliche Reflexion über industrielle Rohstoffe, über Abfall und Recycling. Beklagt wurde zudem schon 1985, dass die Ausstellung sich allzu neutral gegenüber soziopolitischen Fragestellungen verhalte und die Lebenswelt postmoderner Individuen behandle, ohne diese in ihren sozialen Beziehungen zu vergegenwärtigen – ein Topos, der gut zehn Jahre später durch Nicolas Bourriauds Relational Aesthetics in den Fokus zeitgenössischer künstlerischer Praxen gerückt wurde. Schließlich gab sich Les Immatériaux keine Mühe, nicht westliche oder dekoloniale Perspektiven einzubeziehen, wofür auch schon einige Jahre vor den grundlegenden Veränderungen, die dann die Ausstellung Magiciens de la terre (Centre Pompidou, 1989) mit sich bringen würde, Gelegenheit gewesen wäre.
Während transgressive Themen wie die der Genmanipulation und der Transsexualität, die auch heute noch virulent sind, in Les Immatériaux bereits ausdrücklich vorhanden waren, ging es bei den ausgestellten Beispielen aus den Bereichen der Computerkunst und der elektronischen Netzwerke fast durchweg um deren kreative Anwendung bzw. um die Vermittlung einer zwar skeptischen, am Ende aber doch vor allem neugierigen Haltung gegenüber den Effekten auf Schreiben und Denken, auf Autorschaft und Erinnerung. Auch wenn diese eher affirmative Haltung gegenüber den damals neuen Technologien und Medien, den Computern, dem Minitel, Hologrammen, Lasern, Musikvideos usw. wohl eher von Chaput kam, so geben auch Lyotards Texte und Interviews aus dieser Zeit keinen Anlass zu der Annahme, dass für ihn ein kritischerer Umgang mit Technik im Sinne des Hacking oder dessen, was wir heute Critical Engineering nennen würden, überhaupt ein Referenzpunkt war, geschweige denn, dass er für eine „zweite Ausstellung“ hierin einen Fokus für neue Widerständigkeiten gesehen hätte.
So anregend die Denkübung ist, die Birnbaum und Wallenstein andeuten – ohne sie freilich an solch konkreten Beispielen durchzuexerzieren –, so führt sie doch gleichwohl zu der Vermutung, dass auch eine zweite Ausstellung, wenn es sie denn gegeben hätte, aus heutiger Sicht ähnlich „produktiv gescheitert“ wäre wie die erste. Die besondere Bedeutung von Les Immatériaux liegt dagegen nicht in einer Art Brückenfunktion hin zum eigentlichen, aber nicht realisierten Projekt, wie es die beiden Autoren zu unterstellen scheinen. Vielmehr leistet die Ausstellung von 1985 einen faszinierenden und exemplarischen Querschnitt durch die sich überlappenden zeitgenössischen Diskurse zu Technik, Wissenschaft, Kunst und Philosophie. Eine fortgesetzte Untersuchung der Widerstandspotenziale ihrer Konzeption und der zahlreichen Exponate bietet zweifellos mehr Stoff zum Nachdenken als Spekulationen über ein nicht realisiertes und am Ende eher unwahrscheinliches Projekt dies je könnten.
Andreas Broeckmann ist Kunstwissenschaftler und Kurator. Er ist Forschungs-Fellow am V2_Lab in Rotterdam und arbeitet im Rahmen des Les Immatériaux Research-Projekts an einer umfassenden Dokumentation und theoretischen Aufarbeitung der Ausstellung. Zwischenergebnisse werden auf www.les-immateriaux.net veröffentlicht.
Kiff Bamford, Lyotard and the „figural“ in Performance, Art and Writing. London: Bloomsbury 2014.
Daniel Birnbaum/Sven-Olov Wallenstein, Spacing Philosophy: Lyotard and the Idea of the Exhibition. Berlin: Sternberg Press 2019.
Francesca Gallo, Les Immatériaux: Un Percorso di Jean-François Lyotard nell’arte contemporanea. Rome: Aracne 2008.
Antony Hudek, From Over- to Sub-Exposure: The Anamnesis of Les Immatériaux, in: Tate Papers 12, London: Tate 2009 (repr. in Hui/Broeckmann 2015).
Yuk Hui/Andreas Broeckmann (Hg.), 30 Years after Les Immatériaux: Art, Science & Theory. Lüneburg: Meson Press 2015.
John Rajchman, Les Immatériaux or How to Construct the History of Exhibitions, in: Tate Papers 12, London: Tate 2009.
Antonia Wunderlich, Der Philosoph im Museum: Die Ausstellung Les Immatériaux von Jean-François Lyotard. Bielefeld: transcript 2008.