Heft 2/2020 - Come Together!


Unterwegs zur Neuen Einstellung

Anna Daučíková


Ich denke an die Zeitspanne von heute bis zurück zur Wende, als die kommunistischen Regime kapitalistisch wurden. Sie kippten dadurch von einer prekären Lage in eine andere, von einer Angst in eine andere. Die wenigen, die schnell ein Vermögen machten, wurden geizig und korrupt, viele gesellschaftliche Segmente verarmten, und dazwischen musste die Mehrheit langsam aus ihrer Kindlichkeit erwachen.
Zur Wendezeit passierte in den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion aber noch anderes. Beinahe umgehend erfuhr der Nationalismus einen Aufschwung, die Kirche dehnte ihren Einfluss auf das Bildungssystem und die Politik aus, Armut entstand – und durch die erneuerten Kontakte zum Rest der Welt zeigte sich – ein Wunder! – der Feminismus. Anders als die verlogene Emanzipationspropaganda im Kommunismus, der die Frauen schlichtweg ihrer eigenen Agenda und ihrer Chancen auf eine Kritik des Patriarchats beraubte, traf der neue Feminismus allerdings auf harschen Widerstand. Die postsowjetischen FeministInnen begriffen schnell, welch immense Aufgabe, ja welch umfassendes Bildungsprogramm sie vor sich hatten. Also ließen sie sich großteils im akademischen Feld nieder.
In der Rückschau auf diese ruppig schnellen Veränderungen in den 1990er-Jahren, die uns so unvorbereitet trafen und in so viele Fallen tappen ließen, frage ich mich bis heute Folgendes:
Wie konnte es passieren, dass die Kirche die öffentliche Meinung an sich riss (Slowakei, Polen) oder sich so gut an Politik und Wirtschaft anschmiegte (Tschechische Republik, Ungarn, Rumänien, Österreich)? Sie beteiligt sich an allerlei finanziellen Machenschaften und wurde zu einer korrupten Institution, die Pädophilie unter den Teppich kehrt und sich NeofaschistInnen annähert. Bis heute mag die Kirche auf solcherart Fragen nicht wirklich antworten, und es gelingt ihr, aller Kritik zu trotzen. Immerhin weiß ich heute, was ich damals nicht erkennen konnte – dass sie implizit Teil der kapitalistischen Maschinerie ist.
Zu Beginn der 1990er-Jahre verkamen die Slogans jener PolitikerInnen, denen es anfänglich nicht um Macht, sondern um den Kampf gegen die Korruption ging, zu schalem Geflunker: Liebe, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Wahrheit. Dafür wurden andere Themen aus der öffentlichen Debatte ausgemerzt und versanken in Bedeutungslosigkeit: Atheismus, universelle Werte, Solidarität, soziales Mitgefühl, Gleichheit. Unmerklich wurden sie zu alten Hüten.
Was also tun? Wir handeln im privilegierten Feld der Kunst. Dort suchen wir Antworten auf viele drängende Fragen. Die meiste Zeit habe ich das Gefühl, dass wir in unserer Welt feststecken, gefangen sind in unserer Blase, einem Raum, in dem man experimentell neue Wege der Veränderung suchen kann. Ich denke, wir versuchen ja auch uns selbst zu verändern – jedenfalls will ich das glauben.
Die Zeit drängt. Wir stecken ohne Zweifel inmitten eines gefährlichen Prozesses. Doch anders als früher wissen wir das heute. Der Radius unserer Aufmerksamkeit ist größer als je zuvor. Wir erleben die explizite und implizite Faschisierung unserer Gesellschaft, den Anstieg der Gewalt, das Sinken des Werts des Menschenlebens und eine totale Krise des Vertrauens. Angst und Armut lassen ganze Bevölkerungsgruppen die Flucht ergreifen. Nicht nur in der Politik, auch in der Kunst muss also sofort gehandelt werden. Dazu müssen wir neue Wege finden und uns nicht einfach gegenseitig auf Facebook liken oder disliken.
Ich habe kein Patentrezept. In meiner Arbeit versuche ich, das „Detail“ nicht aus den Augen zu verlieren. In jedem sozialen Kampf geht als Erstes das Detail verloren, wenngleich der Kampf von sehr detaillierten Erfahrungen seinen Ausgang nimmt. Im Lauf der folgenden Ereignisse bleibt das Detail dann aber auf der Strecke. Ich frage mich insbesondere, wie man die Identitätspolitik bekämpfen kann, die nicht nur die Grundlage jedes Nationalismus, sondern auch der neoliberalen Konformität ist. Sie ist die perfekte Strategie, um Protest zu ersticken.
Die Oktoberrevolution von 1917 brachte die Vorstellung des Neuen Menschen mit sich, der 75 Jahre später mit dem vollkommen versklavten Homo sowjeticus endete. Im heutigen Kapitalismus ist die Frage, wie wir zu einer Neuen Einstellung kommen. Es geht darum, miteinander zu reden, sich auszutauschen, zu unterscheiden, zu suchen, aufzubegehren – und nicht aufzugeben.

Statement im Rahmen von Upon Us All Equally, organisiert von Tranzit.org, Bukarest, 7. bis 9. November 2019.

 

Übersetzt von Thomas Raab