Zu sagen, das Anthropozän sei ein rhetorisches Ereignis, bedeutet keineswegs, das Planetarische auf das Soziale zu reduzieren; zu sagen, die Rhetorik des Anthropozän ließe sich am besten durch eine mikropolitische Analyse verstehen, bedeutet dagegen, ein soziales Verständnis der Rhetorik abzulehnen. Sobald man das Anthropozän als ein rhetorisches Ereignis betrachtet, bezieht sich die Rhetorik auch auf den Bereich des Nichtmenschlichen und geht so weit über die Grenzen des sozialen Gemeinwesens hinaus. Lassen Sie mich dies näher erläutern.
Zunächst einmal meine ich mit Rhetorik Einschreibung im Allgemeinen, nicht nur Sprache im engeren Sinne, sondern institutionelle, körperliche, affektive, geopolitische, figürliche, sexuelle und rassische Unterschiede. Das Anthropozän ist ein Zeitabschnitt, dessen Chronologie von einem Subjekt abhängt, das die Erde deutet, um einen Bezugsrahmen jenseits des menschlichen Bewusstseins zu eröffnen. Das Anthropozän ist ein Standpunkt, eine Position, von der aus das Ganze erfasst wird. Was heute als Anthropozän erkannt wird, ist durch Disziplinen wie die Geologie ermöglicht, doch die Geologie und andere Wissenspraktiken sind aus einer Reihe sich einschreibender Ereignisse hervorgegangen: die Markierung des Globus als Ressource für das Projekt der Kolonisierung, der Sklaverei und des Kapitalismus; das literarische und visuelle Archiv des Humanismus, das ein normatives Konzept des Subjekts schuf, das einige Räume als „weniger als menschlich“ oder „noch nicht menschlich“ hervorbrachte; Disziplinen (wie das Lesen), die Körper an Praktiken der Privatsphäre und der Innerlichkeit ausrichteten; und der Entwicklungsverlauf eines ständig zunehmenden Hyperkonsums, der einen Teil der Spezies zur „Menschheit“ erhob, während der der Ausbeutung von Arbeitskräften unterworfene Teil des Globus als nicht menschlich oder noch nicht menschlich erschien.
KolonisatorInnen konnten ihre „neuen Welten“ entweder als leere Räume ohne Menschen (terra nullius) betrachten oder als primitive Räume, in denen die Menschen auf das Niveau der Menschlichkeit gebracht werden konnten. So übernahmen beispielsweise die SiedlerInnen beide Ansätze; das Land, in das sie eindrangen, galt als unbewohnt, und die Kinder der Indigenenfamilien wurden gestohlen und weißen Familien übergeben, in der Annahme, eine Assimilation in die Kultur der SiedlerInnen sei möglich und wünschenswert. Es ist dasselbe gewaltsam entmenschlichende und zugleich „humanisierende“ Weltbild, das sich heute Anthropozän nennt und anerkennt, dass es Völker gibt, die nicht an die Geschichte der extraktiven Industrialisierung gebunden sind, und der Welt dennoch keine andere Zukunft zugesteht als die, die an „der Menschheit“ festhält, sie aufrechtzuerhalten und zu erretten versucht. Der Anthropos des Anthropozän ist ein komplexes, Jahrhunderte dauerndes rhetorisches Ereignis, das eine Existenzweise – „das Menschliche“ – geschaffen hat, die keine Alternative zu bieten scheint. Der Verlust dieser hochspezifischen Zusammensetzung aus Begehren, Affekten, Gewohnheiten und Vorstellungen würde das Ende der Welt bedeuten.
Zweitens lässt sich festhalten: Sobald das Verständnis des Anthropozäns zu einem sich einschreibenden oder rhetorischen Register erweitert wird – nicht etwas, das wir tun, sondern ein „Wir“ schaffend –, lässt sich der Zusammenfluss des Persönlichen und des Geologischen auf der Ebene des individuellen Körpers analysieren. Wenn es heute möglich ist, „Anthropos“ zu sagen oder mit dem Begriff „wir“ auf „uns Menschen“ zu verweisen, dann aufgrund einer längeren Geschichte des universalisierenden Globalismus, der alle Menschen, die ihm begegnen, zugleich in der Kategorie des Menschlichen subsumiert und von Humanität und Humanwissenschaften dennoch in einer Weise spricht, die keineswegs die gesamte Spezies umfasst. Wie konnten weiße SiedlerInnen in Australien das Land zur terra nullius erklären, obwohl die indigene Bevölkerung Australiens bereits in frühen Malereien und Gravuren dargestellt ist? Wie kann man einen menschlichen Körper betrachten und ihn für weniger als menschlich oder bestimmte Existenzweisen als gleichbedeutend mit dem Ende der Welt erklären? Dies ist nur möglich, wenn – wie das riesige Korpus des postapokalyptischen Kinos überdeutlich macht – „das Menschliche“ und die dem Anthropozän zugrunde liegende Sichtweise davon ausgehen, dass „Menschheit“ die Form des privaten, hyperkonsumierenden, urbanen, wohlhabenden und global bewussten Individuums annimmt. Im postapokalyptischen Kino zeigt sich das Ende der Welt in Bildern von Ressourcenknappheit, Zwangsarbeit, nomadischer Wanderung, Staatenlosigkeit und Fragilität. Dies sind genau die Bedingungen, die „die Menschheit“ stets denjenigen zugeschrieben hat, an die sie ihre Fragilität ausgelagert hat. „Das Menschliche“ setzt sich genau aus dieser Rhetorik zusammen, und diese Rhetorik setzt Körper, Begehren, Gewohnheiten und Möglichkeiten der Anerkennung auf bestimmte Weise zusammen. Das ist Mikropolitik oder das, was Bernard Stiegler als „Organologie“ bezeichnet hat.1 Es ist die lange, komplexe und kontingente Geschichte „des Menschen“ als ein Wesen, das sich aus Weisen des Sprechens, Sehens, Fühlens, Bewegens und Begehrens zusammensetzt.
Das, was Bernard Stiegler als Organologie oder Gilles Deleuze und Félix Guattari als Mikropolitik bezeichneten, erlaubt es, die Zusammensetzung des begehrenden Körpers als Mensch als das Ergebnis einer Geschichte der Technik zu betrachten. Deleuze und Guattaris Geschichte des Subjekts im Anti-Ödipus ist eine Geschichte der Privatisierung: „Die Organe, gegen den Tyrannen gerichtete Organe des Citoyen, haben begonnen, sich vom Körper des Despoten zu lösen. Schließlich werden sie zu solchen des Privatmenschen, werden sich privatisieren entsprechend dem Modell und in Erinnerung des abgesetzten Afters, außerhalb des gesellschaftlichen Feldes, aus Angst zu stinken. Die gesamte Geschichte der primitiven Codierung, der despotischen Übercodierung, der Decodierung des Privatmenschen verläuft in diesen Strombewegungen: intensives germinales Einwirken (influx), Mehrstrom (surflux) des Königsinzests, Exkrementenrückstrom (reflux), der den toten Despoten in die Latrinen und uns alle zum ‚Privatmenschen‘ von heute führt.“2
Der Körper und seine Ströme werden nicht kollektiv gelebt, vielmehr wird die Steuerung der eigenen Organe in eine geschlechtlich differenzierte Privatfamilie eingeschrieben; abhängig von den jeweiligen Körperteilen wird man männlich oder weiblich. Das Binäre der Familie bzw. der sexuelle Vertrag bringt den Menschen hervor – der in dieser Auslöschung kollektiver Existenzweisen auch eine vollständig rassifizierte Einschreibung ist. Die Produktion von Innerlichkeit, Privatheit, wer „ich“ bin und das „Menschliche“, ist ein geopolitisches Ereignis. Was „wir“ als das Ende der Welt fürchten, ist der Verlust von uns, eine eng umschriebene Möglichkeit, die schon immer auf der Entmenschlichung von denen beruht hat. Zu einem der überzeugendsten Texte des Anthropozän gehört deshalb Jordan Peeles Us (2019) – ein Film, dem zufolge wir nicht aus Gründen der universellen Anerkennung an dem festhalten, was wir sind, sondern weil „wir“ alles zerstören wollen, was dieses „Wir“ gefährdet. Der Film zeigt ein wohlhabendes Amerika, das plötzlich von einer Reihe von Doppelgängern überfallen wird; um die Welt zu retten, müssen Sie die Person töten, die genauso aussieht wie Sie, aber nicht Sie ist und deren einziger Unterschied zu Ihnen darin besteht, dass sie einfach nicht Sie ist. Unser Recht auf Leben, wer „wir“ sind, das „Wir“ in der Erzählung von der Rettung der Welt beruht demnach auf nichts anderem als dem, was „wir“ rein zufällig sind.
Das „Wir“ des Anthropozäns ist eine Weltuntergangsmaschine; es beruht auf der Produktion von Körpern, deren Begehren so um den Raum des privaten Hyperkonsums angelegt ist, dass keine andere Existenzweise irgendeinen Wert zu haben scheint. Es ist besser, alles andere als das, was „wir“ sind, zu zerstören, als sich das Ende von „uns“ vorzustellen.
Das rhetorische „Wir“ des Anthropozäns lässt sich in (scheinbar) so unterschiedlichen Institutionen wie dem Future of Humanity Institute der Universität Oxford erkennen, wo die Rettung der Menschheit auf die Sicherung technologischer Reife und Intelligenz hinausläuft,3 und im zeitgenössischen „Ende der Welt“-Kino, wo weite Teile des Planeten zerstört werden und die Welt dennoch gerettet wird, selbst wenn nur einige wenige privilegierte Menschen aus der hyperkonsumierenden Gegenwart in der Lage sind, ihre Zukunft zu sichern. Dabei gibt es durchaus Gemeinsamkeiten zwischen dem Argument des Direktors des Future of Humanity Institute bezüglich des technologischen Glücks, das exemplarisch ist für die Verwendung des humanistischen „Wir“, und dem postapokalyptischen Imaginären. In einem kürzlich erschienenen Essay argumentiert Nick Bostrom, die Technologie sei bisher für uns vorteilhaft gewesen, wir müssten uns jedoch der „schwarzen Kugeln“ [black balls] bewusst sein, die wir in der technologischen Lotterie ziehen könnten und die uns schaden würden:
„Was wir bisher noch nicht gezogen haben, ist ein schwarzer Ball: eine Technologie, die ausnahmslos oder standardmäßig die Zivilisation zerstört, die sie erfindet. Der Grund dafür ist nicht, dass wir in unserer Technologiepolitik besonders vorsichtig oder weise gewesen wären; wir haben einfach Glück gehabt […] Es gibt anderswo Beispiele dafür, dass Zivilisationen durch Erfindungen zerstört wurden. So könnten die europäischen Erfindungen, die transozeanische Reisen und die Übertragung von Macht ermöglichten, als Black-Ball-Ereignis für die indigene Bevölkerung Amerikas, Australiens, Tasmaniens und anderer Orte gelten. Das Aussterben archaischer Hominidenpopulationen wie der NeandertalerInnen und der DenisovanerInnen wurde wahrscheinlich durch die technologische Überlegenheit des Homo sapiens begünstigt. Aber bisher, so scheint es, haben wir noch keine Erfindung erlebt, die selbstzerstörerisch genug ist, um als schwarze Kugel für die Menschheit zu gelten.“4
„Wir“ haben Glück gehabt, die Indigenen nicht. Die indigene Bevölkerung wurde vernichtet, aber der Menschheit geht es gut. Fairerweise muss man sagen, dass Bostrum keinen Unterschied zwischen der Menschheit und den indigenen Bevölkerungen macht, sondern vielmehr in indigenen Welten jene Menschen sieht, die – im Rahmen der großen Geschichte der Menschheit – bestimmte Technologien als schwarze Kugeln betrachten könnten. Aber für das „Wir“ und die „Menschheit“, wie sie in dieser Diskussion über eine labile Welt verwendet werden, gilt Völkermord nicht als zerstörerisch für die Menschheit im Allgemeinen und sind industrialisierte Sklaverei und ihre Folgen eine Sache der Vergangenheit, sodass wir sagen können: „Die Weltbevölkerung hat sich in den letzten zehntausend Jahren etwa vertausendfacht, und auch das Pro-Kopf-Einkommen, der Lebensstandard und die Lebenserwartung sind in den letzten zwei Jahrhunderten gestiegen.“5
Zu sagen, dass Sklaverei, Völkermord und der Holocaust für die Menschheit nicht als „schwarze Kugeln“ gelten, bedeutet, eine Unterscheidung zu machen zwischen der Menschheit des technischen Fortschritts und den angeblich zufälligen Verfallserscheinungen dieser Vorwärtsbewegung. Bostroms Verwendung des „Wir“ und des Begriffs „Menschlichkeit“ und die Betrachtung des Verlusts indigener Welten als Kollateralschaden setzen voraus, dass das Ende dieser Welten nicht nur nicht das Ende der Welt ist; es wird auch nicht in Betracht gezogen, dass der Verlust dieser Welten für ein anderes „Wir“ absolut katastrophal gewesen sein könnte. Bostroms „Zukunft der Menschheit“ ist postapokalyptisch und komplett auf die filmische Sichtweise des Weltuntergangs ausgerichtet, die ein „Wir“ hervorbringt, das dabei zusieht, wie der Planet kollabiert, während „die Menschheit“ die Lage rettet. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Film I am Legend (2007) von Francis Lawrence schließt damit, dass der Protagonist sein Leben opfert, um einen Impfstoff an das weiterzugeben, was von der Menschheit geblieben ist – eine Mutter und ihr Kind auf dem Weg nach Vermont. Es ist heldenhaft, für seinesgleichen zu sterben, alles zu tun, um nicht zu denen zu werden. „Uns“ zu retten kommt der Rettung der Welt, der Rettung der Menschheit gleich.
Die Rhetorik oder die Kennzeichnung dessen, wer „wir“ sind, reichen von Aussagen und Maßnahmen, die sich auf „den Menschen“ beziehen, bis zu dem, was einzelne Körper begehren und tolerieren. Wenn vom Ende der Welt die Rede ist, geht es immer um das Ende dieser engen und doch allumfassenden Welt des Menschen; wenn „wir“ uns das Ende der Welt vorstellen, dann ist es immer das Ende einer bestimmten Art der affektiven Verkörperung: das Ende des stabilen, hyperverkonsumierenden, global orientierten und an Medien gewöhnten Privatmenschen. Wenn in Oxfords Future of Humanity Institute von der Rettung der Menschheit die Rede ist, dann geht es nicht um die Rettung von Menschen, sondern um die Rettung einer Existenzweise bzw. eines Standpunkts – des „Wir“ des Anthropos, des „stillschweigend vorausgesetzten Wir“, das Jacques Derrida als Kern der westlichen Metaphysik identifiziert hat, so wie Edmund Husserl es in „Der Ursprung der Geometrie“ dargelegt hat:
„Dieses Wissen als Horizontgewißheit ist kein erlerntes, kein jemals aktuell gewesenes und nur hintergründlich gewordenes, zurückgesunkenes Wissen; die Horizontgewißheit mußte schon sein, um thematisch ausgelegt werden zu können, sie ist schon vorausgesetzt, um wissen zu wollen, was wir noch nicht wissen. Alles Nichtwissen betrifft unbekannte Welt, die im voraus für uns doch als Welt ist, als Horizont aller Gegenwartsfragen, und so auch aller spezifisch historischen.“6
Dieses „Wir“ ist auch das „Wir“ einer postapokalyptischen Kultur, in der das Ende der Welt in Bildern beschrieben wird, die der Welt, die „wir“ als „dritte“ Welt bzw. Entwicklungsländer betrachtet haben, bemerkenswert ähnlich sind.
Der ehemalige US-Präsident Barack Obama benutzte häufig die Formulierung „so sind wir nicht“ [this is not who we are], um auf Ereignisse zu verweisen, die nicht dem amerikanischen Ideal entsprechen.7 Der Satz ist performativ und erzeugt ein „Wir“, das im Widerspruch zu dem steht, was tatsächlich geschieht. In einer Nation, die auf Sklaverei und der Auslöschung indigener Kulturen aufgebaut ist, produziert die Bezugnahme auf ein „Wir“, das weder rassistisch noch gewalttätig ist, ein Ideal, das sich von dem scheinbar zufälligen und außergewöhnlichen Verlust dessen unterscheidet, wer „wir“ im Grunde genommen sind. Vor dem Hintergrund der globalen Pandemie von 2020 bezeichnete der australische Premierminister Scott Morrison alle, die Panikkäufe tätigten, als „unaustralisch“, und das zu einem Zeitpunkt, als in den Medien weltweit Bilder von leeren Regalen in australischen Supermärkten kursierten.8 Auch der britische Premierminister Boris Johnson appellierte im Hinblick auf die Pandemie von 2020 an den „Geist einer gemeinsamen, nationalen Anstrengung“ wie im Zweiten Weltkrieg, um das Coronavirus zu besiegen; ein Geist, der in krassem Gegensatz zu der anhaltenden Verletzung der Social-Distancing-Richtlinien steht, zu der auch die Missachtung von Reisebeschränkungen durch die Minister der Regierung selbst gehörte.9
Wie kann ein Ereignis, das aktuell stattfindet, im Widerspruch zu dem stehen, wer „wir“ sind? Dazu müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens gibt es ein ideales „Wir“, das sich nicht nur von der Realität unterscheidet, sondern auch die Aufgabe hat, die Handlungen des „Wir“, auf das es sich bezieht, zu rehabilitieren und zu rechtfertigen. Dies gilt für politische Appelle an den Nationalgeist ebenso wie für liberale Politiktheorie und Populärkultur. Zweitens ist das „Wir“, auf das es sich bezieht, ideal, aber selbst in seiner Idealität schließt es diejenigen aus, die als nicht ganz oder nicht richtig menschlich gelten. Als weiße SiedlerInnen Australien zur terra nullius erklärten, taten sie dies, weil die indigene Bevölkerung, auf die sie trafen, nicht als AkteurInnen des weltgeschichtlichen Projekts betrachtet wurden. Wenn das zeitgenössische Weltuntergangskino heroische Erzählungen über den potenziellen Verlust und die anschließende Errettung der Welt präsentiert, dann ist es nie die menschliche Spezies, die bedroht und gerettet wird, sondern vielmehr dieses normative „Wir“, eine Menschheit, die in einer langen geopolitischen, philosophischen und rhetorischen Tradition des Globalismus geschmiedet wurde.
Wesentlich für diese Rhetorik und Politik des „Wir“ vorausgesetzter Menschlichkeit ist eine konstituierende Fragilität: „So sind wir nicht“ zu sagen bedeutet anzuerkennen, dass „wir“ nicht unbedingt das sind, was „wir“ sein sollten. Nationalistische Appelle an den Geist grenzen eine richtige Zukunft – das, was wir sein sollten – von der Gegenwart ab, wobei sie eine gefallene und weniger als ideale Version von uns selbst in dem verorten, was (leider) geschieht. In der Philosophie kommt die Zweiteilung zwischen dem, wer „wir“ eigentlich sind, und unserer gefallenen oder nicht authentischen Gegenwart in Martin Heideggers Rede vom Ende der Metaphysik klar zum Ausdruck. Es gibt „ein“ Schicksal, das an „eine“ Vergangenheit gebunden ist, aus der wir notwendigerweise gefallen sind:
„Es gibt, anfänglicher gedacht, die Geschichte des Seins, in die das Denken als Andenken dieser Geschichte, von ihr selbst ereignet, gehört. Das Andenken unterscheidet sich wesentlich von dem nachträglichen Vergegenwärtigen der Geschichte im Sinne des vergangenen Vergehens. Die Geschichte geschieht nicht zuerst als Geschehen. Und dieses ist nicht Vergehen. Das Geschehen der Geschichte west als Geschick der Wahrheit des Seins aus diesem […] Zum Geschick kommt das Sein, indem Es, das Sein, sich gibt. Das aber sagt, geschickhaft gedacht: Es gibt sich und versagt sich zumal.“10
Weil wir inmitten von allen möglichen Dingen leben, neigen „wir“ dazu, uns selbst schlicht als höhere Wesen zu begreifen, als „rationales Tier“. Heidegger war der Ansicht, die humanistische Tradition vertrete die Vorstellung, die Menschen seien mit einer besonderen Fähigkeit – Vernunft oder Logik – ausgestattet, die uns über andere Wesen erheben würde. Gegen diese Vorstellung von der außergewöhnlichen menschlichen Spezies argumentierte Heidegger mit dem Begriff Dasein, um das „Da“ zu bezeichnen, durch das sich die Welt (das Sein) entfaltet hat. Angesichts der Frage, wie sich das Dasein davon befreien könnte, sich selbst unauthentisch als eine Art Ding zu denken, berief sich Heidegger auf einen Volksbegriff, der sich vom „Gerede“ alltäglicher Zerstreuung unterscheidet und sich selbst als die entscheidende und zukünftige Existenz erkennt.
Heideggers Verbindung zum Nationalsozialismus mag Skepsis gegenüber Vorstellungen einer reinigenden, sich vom Verfall der Vergangenheit befreienden Existenz hervorrufen, doch sollte sich diese Skepsis über Heideggers Werk hinaus auch auf die Struktur eines künftigen „Wir“ erstrecken, die mit dem Begriff des Anthropozäns im 21. Jahrhundert immer stärker wird. „Anthropos“ besteht, so wie Heideggers Dasein, nicht aus der tatsächlichen Ansammlung von Menschen, die den Planeten bevölkern, sondern aus jenen Menschen, die eine „Menschheit“ geschaffen haben, welche die treibende Kraft des industriellen und technologischen Fortschritts ist – dieselbe Menschheit, die verlangt, dass „wir“ alle zu einer gemeinsamen Zukunft der Erkenntnis fortschreiten, obwohl das einschließende „Wir“ auch darauf abzielt, jene zu entmenschlichen und auszulöschen, die sich nicht an der Erzählung des Humanismus orientieren.
Wenn sich das Anthropozän als Konzept auf den Menschen als Spezies zu beziehen scheint, letztlich aber nur die Menschen kennzeichnet, die von Industrialisierung, Hyperkonsum und spezifischen Disziplinen der menschlichen Kultivierung hervorgebracht wurden, so markiert der Nationalismus im Gegensatz dazu eine Besonderheit, hinter der sich eine normative Universalität verbirgt. Das „Wir“ des Anthropozäns und das „Wir“ des Nationalismus sind nicht einfach als normative rhetorische Einheiten miteinander verbunden, wobei „Anthropos“ eine umfassendere Form der Inklusion ist als die offenkundig beschränkteren Nationalismen. Beides sind performative Formen, die ebenso einschließend wie trennend operieren – die das, was „wir“ sind, von dem trennen, was „wir“ sein sollten, und das, was „wir“ werden könnten, von denen, die weniger als menschlich sind, weil sie nicht unseren Weg gehen. Selbst die engstirnigsten Nationalismen, die uns auffordern, wieder großartig [great again] zu sein, versuchen, einen früheren Zustand wiederherzustellen, der als ein nicht hinterfragtes, makelloses Gut hingestellt wird; die richtige Zukunft beruht zwangsläufig auf einer idealisierten Vergangenheit, und zwar dadurch, dass sie die Gegenwart spaltet. Zu sagen, dass „wir“ nicht so sind, oder dass ein Ereignis unaustralisch oder unamerikanisch ist oder im Widerspruch zum „Geist“ unserer Vergangenheit steht, erzeugt ein „Wir“, das allem Anschein nach ein Recht auf Leben und Zukunft hat.
Heideggers zukunftsorientiertes Deutschland wäre die Erfüllung einer westlichen Tradition gewesen, die bis ins antike Griechenland zurückreicht, und nicht bloß eine lokale und beschränkte Identität. Dasselbe gilt heute selbst für die regressivsten und isolationistischsten Nationalismen. Nationalismus ist ein impliziter Universalismus, so wie die meisten Formen des Humanismus auf einem „Wir“ beruhen, das einerseits ganz „wir“ ist (so, wie wir sein sollten), dabei aber all die anderen ausschließt, die gegenwärtig das menschliche Ideal nicht erfüllen. Anthropos ist sowohl die Menschheit, die auf dem Planeten einen solchen Tribut gefordert hat, dass sie die Erde als lebendiges System transformiert hat, als auch – wieder einmal – ein zukünftiges und normatives „Wir“, das durch die Anerkennung seiner gefallenen Vergangenheit mit dem Imperativ, die Zukunft zu retten, geschaffen wird.
Die Normativität des „Wir“ – das vorausgesetzte „Wir“ der Philosophie, des Nationalismus, des Humanismus und der anthropozänen Kultur – ist eng verknüpft mit einer transzendentalen Fragilität. Nur wenn wir anerkennen, dass „wir“ möglicherweise unsere eigene Potenzialität nicht erfüllen können, können wir die Vergangenheit und die Gegenwart von einer Zukunft unterscheiden, die zu erleben wir ein absolutes Recht haben. Eine Mikropolitik und Rhetorik des Anthropozäns könnten dazu beitragen, dieses „Wir“ zu zerlegen, den Blick auf die Auslöschungen, Unmenschlichkeiten, Nichtwelten und anderen Welten gerichtet, die nicht als „Menschheit“ betrachtet werden.
Übersetzt von Anja Schulte
[1] Vgl. Bernhard Stiegler, Elements of a General Organology, in: Derrida Today, 13.1(2020), S. 72–94.
[2] Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie I. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Frankfurt am Main 1974, S. 271.
[3] https://www.fhi.ox.ac.uk.
[4] Nick Bostrom, The Vulnerable World Hypothesis, in: Global Policy, 10.4(2019), S. 455.
[5] Ebd.
[6] Edmund Husserl, Der Ursprung der Geometrie als intentional-historisches Problem (1936), in: ders., Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hg. v. Walter Biemel. Den Haag 1976, S. 382. Vgl. dazu Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. München 1987.
[7] Vgl. https://www.theguardian.com/commentisfree/2015/mar/10/this-is-not-who-we-are-american-lindsay-graham.
[8] Vgl. https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-03-18/morrison-slams-un-australian-hoarders-and-wins-back-support.
[9] Vgl. https://www.heraldscotland.com/news/18435425.boris-johnson-uk-needs-same-spirit-national-endeavour-defeat-virus-ww2-veterans-showed-defeat-hitler/.
[10] Martin Heidegger, Brief über den Humanismus (1946), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 9: Wegmarken. Frankfurt am Main 1976, S. 335.