Heft 3/2020 - Netzteil
Die Transmediale, Berlins wichtigstes Festival für digitale Kunst und Kultur, wollte in ihrer 2020er-Ausgabe an Netzwerkkonzepte vor dem Internet anschließen, um Möglichkeiten des nachhaltigen Gesellschaftswandels zu eruieren.1 2019 hatte die in Berlin lebende Künstlerin, Theoretikerin und Designerin Luiza Prado de O. Martins vom Festival die Vilém Flusser Residency für künstlerische Forschung zugesprochen bekommen. Prado nahm dies zum Anlass, um auf feministisches und indigenes Wissen zurückzugreifen und so nicht nur die Reproduktion und Kontrolle von Körpern im Kolonialismus, sondern auch radikale Fürsorgeformen zu untersuchen. Im Zuge ihres Arbeitsaufenthalts traf sie sich mit AktivistInnen, KünstlerInnen und SeniorInnen, die in Berlin wie in Brasilien Randgruppen angehören.
In der vom scheidenden Festivaldirektor Kristoffer Gansing im Haus der Kulturen der Welt kuratierten Ausstellung The Eternal Network zeigte Prado ihre Installation For those who stand at shorelines (2020)2, die ihren Titel einem Gedicht von Audre Lorde verdankt.3 Auf dem polierten Betonboden des großen Ausstellungsraums hatte sie dafür ein großes rotes Teppichquadrat verlegt, um das herum verstreut Kissen lagen. Mittig thronte zwischen Behältern mit Samen, Samenkapseln und Antibabypillen ein kniehoher roter Sockel, auf dem ein amorphes skulpturales Objekt zu sehen war, das einem ausgebreiteten Pökelfisch ähnelte, sich indes jedoch der Experimente Pintos zur Herstellung von Biokunststoff verdankte. Von der Decke baumelten wie Segel mehrere Hängematten. Im brasilianischen Portugiesisch heißt Hängematte „rede“, was als „rede de dormir“ Schlafnetz, aber im weiteren Sinn auch Netzwerk oder Internet bedeutet. Von unten projizierte die Künstlerin einen „GIF-Essay“ auf die Hängematten, eine Innovation Prados, die interaktive Text- und Bildelemente gerne formerweiternd in ihre Kunst einbaut.
Prado nennt ihre Installation einen diskursiven „Raum zum Träumen und Hinaufschauen, zum Liegen und Nachdenken“, wobei sie sich auch auf einen Stipendienaufenthalt in Boa Vista weit im Norden Brasiliens bezieht. Dort lernte sie den aus Amazonien stammenden indigenen Aktivisten, Künstler und Anthropologen Amazoner Arawak aus der Ethnie der Wapixana und Makuxi kennen, der gute Beziehungen zu einer von dem Makuxi-Künstler Jaider Esbell gegründeten Galerie unterhält.4 In dieser Galerie wohnte Prado eine Zeit lang, wobei sie eben in einer Hängematte übernachtete. In der Festivalwoche der Transmediale reaktivierte Prado diese Arbeit anlässlich der Veranstaltungen To Seek Nows, To Breed Futures #1 & 2. Dazu lud sie auch Arawak als Diskussionsleiter zu den Themen Kunst und Aktivismus, ja man könnte sagen „Artivismus“ ein.
Arawak begann, indem er einen kleinen Samen namens Urucum (Bixa orellana) hochhielt und behauptete, dabei handle es sich um eine Technologie. Nachdem indigene Völker Urucum schon lange als Nahrungsmittel und rituelle Körperfarbe verwendet hatten, wurde die Pflanze im 17. und 18. Jahrhundert für die holländische Textilindustrie kultiviert und gehandelt. Bis heute findet sie häufig als Naturfarbe Verwendung. So färbt man mit Urucum zum Beispiel den Cheddar-Käse gelb, aber auch für Schminkprodukte wird es benutzt. Der Same verweist also neben seiner Funktion in Haushalt und Küche auf die lange Macht- und Handelsgeschichte in den Kolonien.
Arawak erzählte, dass im 16. Jahrhundert 300 Kugeln aus gemahlener Urucum-Samenpaste mit den Holländern gegen 300 Baumwollhängematten gehandelt wurden. Dieser Wert veranschaulicht, wie gefragt indigene Produkte auf dem internationalen Markt waren. Arawak meinte, dass die Kunst analog ein Mittel sein könnte, um alternative Vorstellungen in bestehende Machthierarchien einzuschleusen. Könnte man also aus Urucum-Samen eine neue Politik keimen lassen? Indigene Kunst wird in Brasilien marginalisiert, so Arawak, wenngleich sie nun erstmals auf der, jetzt bis 2021 verlängerten Biennale von São Paulo vorkam.5 Könnte man im Namen dieser Kunst, die in Form indigener Subjektivität in den globalen Ausstellungs- und Bildungsbetrieb eintritt, unsere Macht so bündeln, verhandeln, organisieren und konsolidieren, dass sie gegen den Kolonialstaat in Stellung gebracht werden kann? Könnte die indigene Kunst der Same einer Revolution in Brasilien sein?
Derlei Aufrufe zur postnationalen Solidarität erinnern an den frühen Aktivismus in der Netzkunst, besonders an die „virtuellen Sit-ins“, die das Electronic Disturbance Theater zur Unterstützung der zapatistischen Rebellion in den späten 1990er-Jahren organisierte. Diese bestanden im Wesentlichen aus DDoS-Aktionen (Distributed Denial of Service), um die Server der mexikanischen Regierung oder des Weißen Hauses gezielt zu überlasten. Diese damals neuen Aktionen bereiteten den Weg für das erste eigens entwickelte Tool von NetzaktivistInnen, nämlich das Java-Applet FloodNet. Auch Gruppen wie Anonymous nahmen solche Taktiken später in ihr Arsenal auf.6 Erst unlängst bedienten sich US-amerikanische K-Pop-Fans ähnlicher Strategien, um solidarisch mit Black Lives Matter die Kanäle der US-Polizei mit Fan-Müll und Desinformation zu überfluten.7
Die Metapher des Samens erinnert auch an The Seeds of Marielle, eine Bewegung in Rio de Janeiro, die sich nach der Ermordung der Stadträtin Marielle Franco im März 2018 formierte und von queeren Schwarzen Politikerinnen geleitet wird. Es heißt, Franco wurde von jemandem getötet, der der Familie Bolsanaro 8 Arawak fügte hinzu, dass auch er 2019 einem Mordversuch entronnen sei.
Solche historischen Anschlüsse verweisen auf eine lange Geschichte politischer Kämpfe und Wechselbeziehungen. Arawak meinte, dass er familiäre Verbindungen zu Deutschland hat, die er nun reaktivieren könne. Auch sie seien wie ein Same in der Erde, der nur auf die passenden Bedingungen wartet um auszukeimen. All diese Geschichten, die sich im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu einem internationalen Festival der digitalen Kultur bzw. in einem Kunstwerk verdichteten, das als Expositur einer von Indigenen betriebenen Galerie im äußersten Norden Brasiliens gelten kann, hingen zusammen. Wir alle seien Teil globaler Bewegungen, hätten Privilegien und Chancen, die sich aus der Vernetztheit unserer Freundschaften und Kenntnisse ergäben. „Bereits im 16. Jahrhundert waren die Menschen der Welt miteinander verbunden, aber in einem anderen Tempo“, meinte Amazoner Arawak und erinnerte an den englischen Dichter und Entdecker Walter Raleigh, „einen Liebhaber von Queen Elizabeth“. Dieser brachte nicht nur den Tabak nach Europa, sondern auch die ersten Arawak. „Und wir werden auch weiterhin kommen“, versicherte er zum Schluss.
Übersetzt von Thomas Raab
[1] https://2020.transmediale.de
[2] https://www.luiza-prado.com/shorelines
[3] Audre Lorde, A Litany for Survival (1978); https://www.poetryfoundation.org/poems/147275/a-for-survival.
[4] http://www.jaideresbell.com.br/site/category/noticias/page/5/
[5] Vgl. http://www.bienal.org.br/post/8088.
[6] Vgl. https://anthology.rhizome.org/floodnet.
[7] Vgl. Justin McCurry, How US K-pop fans became a political force to be reckoned with, in: The Guardian, 24. Juni 2020; https://www.theguardian.com/music/2020/jun/24/how-us-k-pop-fans-became-a-political-force-to-be-reckoned-with-blm-donald-trump.
[8] Vgl. Sérgio Ramalho, Who Killed Marielle Franco? An Ex-Rio de Janeiro Cop With Ties to Organized Crime, Say Six Witnesses in Police Report“, The Intercept, 18 Januar 2019; https://theintercept.com/2019/01/17/marielle-franco-brazil-assassination-suspect/.