Heft 3/2020 - Post-Anthropozän
Einst stellten sich koloniale ForscherInnen, SiedlerInnen und IngenieurInnen die „Wildnis“ als ein Gebiet jenseits ihrer herrschaftlichen Kontrolle vor. In dem Bestreben, dieses Gebiet zu eigenen Zwecken zu erobern, entfesselten sie jedoch eine Vielzahl unkontrollierbarer neuer Kräfte. Die von ihnen entwickelte und eingeführte Infrastruktur nährte beängstigende Daseinsformen, die sich weit außerhalb ihres Kontrollbereichs ausbreiteten. In dieser neuen Wildnis verlernen die BewohnerInnen der Erde, mit anderen zu koexistieren und verwüsten stattdessen lebenswerte Ökosysteme.
In dieser Zeit der Trauer um das, was Deborah Bird Rose den „zweifachen Tod“ nennt1 – den Tod der Möglichkeit, den wir auch als Aussterben bezeichnen –, verbreitet sich eine besondere Art von Wildheit, wobei es sich nicht um die generative Wildheit von Gebieten jenseits imperialer Zivilisation handelt. Imperiale und industrielle Transformationen der Landschaft begünstigen nicht menschliche KollaborateurInnen. Das Zusammenwirken mit den Menschen, ohne jedoch von diesen kontrolliert zu werden, macht sie zu Schrecken des Anthropozäns, einschließlich des Aussterbens. Einige dieser zweifach todbringenden KollaborateurInnen sind uns als „invasive Arten“ bekannt. Es handelt sich um Organismen, die, wenn sie durch menschliche Infrastrukturen an andere Orte gelangen, einheimische Ökosysteme auslöschen, die auf ihren Ansturm nicht vorbereitet sind. Andere KollaborateurInnen wiederum sind selbst einheimisch. Sie sind Gegenstand meiner Überlegungen hier.
Was veranlasst einheimische Pflanzen, Tiere oder Pilze, das gewohnte Miteinander aufzugeben und eine Schneise der Verwüstung in der Landschaft zu hinterlassen? Die Antwort ist einfach – auch wenn es schwer vorstellbar ist, innerhalb der geltenden Normen von Fortschritt und Zivilisation Lösungsansätze zu finden. Blind für das mehr-als-menschliche Zusammenwirken haben imperiale und industrielle Landschaftsprojekte die Voraussetzungen für die Beziehungen zwischen den Arten verändert und die neue Wildnis begünstigt.
Zum ersten Mal begegnete ich Merremia peltata, einer holzigen Kletterpflanze aus der Familie der Windengewächse, während eines Aufenthalts bei RegenwaldbewohnerInnen im indonesischen Teil Borneos. Balaran, wie sie dort genannt wird, hat riesige Blätter in der Größe menschlicher Gesichter und cremeweiße Blüten. Sie ist in den Wäldern fast aller Inseln Südostasiens heimisch. Ihr natürliches Verbreitungsgebiet erstreckt sich von Madagaskar bis nach Französisch-Polynesien. Im Regenwald von Borneo gesellt sie sich zu vielen anderen holzigen Ranken, kriecht an Baumstämmen empor, um ans Licht zu gelangen und ihre Blätter in den Baumkronen auszubreiten. Anders als den vielen anderen Kletterpflanzenarten, von denen sie mit Wasser, Früchten oder Heilmitteln versorgt werden, schenkten die in der Meratus-Region lebenden Dayak, bei denen ich mich aufhielt, balaran keine besondere Aufmerksamkeit.
Mit Beginn der kommerziellen Abholzung im Regenwald hat sich jedoch alles geändert. Die Rodungsfirmen schlugen Schneisen für Straßen, fällten Bäume und gaben auf einen Schlag ganze Berghänge dem Sonnenlicht preis. Der Mutterboden wurde in die Flüsse geschwemmt, als die Berghänge ihrer lebendigen Materie beraubt wurden. Eine einzige Pflanze eroberte die mit einem Mal gelichteten Flächen: balaran. Sie überwucherte tote und absterbende Baumstämme und überzog die Berghänge. Gesunde Bäume, die der Rodung und der darauffolgenden Erosion auf wundersame Weise entgangen waren, wurden von balaran erstickt. Früher, als die Dayak noch kleine Parzellen anlegten, die sie nach wenigen Jahren wieder dem Wald überließen, sprossen fast augenblicklich Pionierpflanzen wie Haselwurzen, Feigengewächse und Bambuspflanzen, die rasch ein schattiges Habitat entstehen ließen, in dem kurz darauf wieder Bäume wuchsen. Einige Bäume blieben bei der landwirtschaftlichen Nutzung erhalten, andere trieben, obwohl sie gefällt worden waren, aus ihren Stümpfen Schösslinge. Der Sekundärwald enthielt viele Elemente des ursprünglichen Waldgefüges. Die kommerzielle Holzfällerei schuf dagegen dauerhafte Nicht-Wälder: Gebiete, in denen selbst anspruchslose Pionierpflanzen nicht Fuß zu fassen vermochten und die verbliebene Vegetation nicht überleben konnte. Wer gesehen hat, wie Kudzu im Süden der USA Straßen, Häuser und verlassene Farmen überwuchert, erkennt starke Ähnlichkeiten zu balaran. Balaran erstickt das Nachwachsen des Walds und erschafft eine dauerhafte Monokultur für sich selbst.
Vor einigen Jahren besuchte ich erstmals ein Dorf am anderen Ende Indonesiens, auf einer der Inseln vor Papua, so weit von Borneo entfernt wie nur möglich, aber immer noch im selben ausgedehnten Archipel. Raja Ampat ist ein Mekka für TouristInnen aus aller Welt, die in Scharen anreisen, um die Schönheit der Korallenriffe und Paradiesvögel zu bewundern. 2002 erhielten die Inseln den Status eines Regierungsbezirks, um dem wirtschaftlichen Potenzial der aufblühenden Tourismusindustrie Rechnung zu tragen. Dieser künftige Bezirk benötigte Finanzmittel, um seine Regierungsvorhaben umsetzen zu können, und ließ weite Teile der Inseln von kommerziellen Holzfirmen roden. Gewöhnliche TouristInnen, die in Motorjachten vorbeifahren, bemerken dies womöglich nicht, denn die abgeholzten Berghänge sind ziemlich grün. Aber was ist all das Grün? Merremia peltata.
So wurden in einem Dorf die Rodungen 2008 eingestellt, doch die abgeholzten Hänge sind immer noch vollständig von der Kletterpflanze überwuchert, und der Wald wächst kaum nach. Ganz anders in den ehemaligen Gärten: Dort stehen zehn Jahre später Bäume mit beindicken Stämmen. Unter den Bedingungen der kommerziellen Holzfällerei erstickt diese Kletterpflanze jedoch alles und verhindert ein Nachwachsen des Walds.
In Raja Ampat nennt man dieses Windengewächs wegen des weißen Pflanzensafts, den es absondert, wenn es angeschnitten wird, tali susu, „Milchranke“. Sie sei eine ganz gewöhnliche Waldkletterpflanze, sagten mir die Einheimischen. Sie mache keinen Ärger, solange der Wald intakt oder von kleinen Gärten unterbrochen sei. Nur groß angelegte Abholzungsaktionen verwandeln diese Kletterpflanze in ein ökologisches Monster, eine Kollaborateurin bei der Zerstörung von Lebensraum.
Die kommerzielle Abholzung ist nun, zumindest vorläufig, verboten. Doch auch andere Maßnahmen haben die gleichen Auswirkungen wie der kommerzielle Holzeinschlag. Der Straßenbau ist eine davon. Als die Regierung den Wald zerstückelte und Straßen baute – angeblich, um den Biodiversitätstourismus zu fördern, den genau diese Straßen zu zerstören drohten –, eilten von überall SiedlerInnen und UnternehmerInnen herbei, um davon zu profitieren. Sie machten Geschäfte mit den DorfvorsteherInnen vor Ort und holzten entlang der Straßen so viele Bäume ab wie möglich. Ihr Eifer führte zu Entwaldungen in einem Ausmaß wie zuvor durch die Holzfirmen. Tali susu übernahm das Kommando, umhüllte tote und verbrannte Baumstämme und legte sich wie eine dicke Decke über die einstigen Dorfgärten. Die Gärten und Bauernhöfe starben. Tali susu hatte sich selbst zur Monokultur gemacht.
Erst einmal auf tali susu aufmerksam geworden, sah ich sie nun überall: wie sie sich auf Baustellen und unbebauten Grundstücken in der Stadt ansiedelte, sich entlang von Straßen ausbreitete und die Überreste anthropogener Waldbrände überwucherte. Als ich über Merremia peltata zu lesen begann, stellte ich fest, dass sie Anlass zu umfangreichen Publikationen gegeben hatte. Indonesische BiologInnen machen sich Sorgen über das Eindringen der Merremia in bewaldete Nationalparks. Merremia folgt der sogenannten Waldfragmentierung, eine vorsichtige Umschreibung, unter der illegale Holzfällerei, Ackerbau und Straßenbau innerhalb der Parks zusammengefasst werden.2 Hat Merremia einmal Fuß gefasst, erklären die BiologInnen, sinke die Biodiversität.
Es gibt jedoch auch WissenschaftlerInnen, die Merremia verteidigen, und es ist nützlich, auch ihre Stimmen zu hören. In dem Dorf auf Samoa, das der Geograf William Kirkham untersuchte, schätzen kommerzielle Taro-FarmerInnen Merremia, da in ihrem Schatten kein Unkraut wächst, das sie sonst jäten müssten.3 (Es ist jedoch bezeichnend, dass die Bäuerinnen, mit denen er sprach, Merremia als üble Plage beschrieben.) Kirkham führte auf einem Stück Land in der Umgebung des Dorfs Vegetationsstudien durch. Er fand diverse Pflanzen, die mit Merremia leben konnten, darunter zwei, deren Blätter denen von Merremia in Form und Größe ähneln. Die drei überlebenden Arten, die er ausmachen konnte, schieben ihre Stängel durch die dichte Merremia-Decke, um ihre Blätter ans Sonnenlicht zu bringen. Dies legt nahe, dass Merremia bei genauerer Betrachtung nicht immer eine Monokultur ist, da diverse andere Pflanzen sich unter und durch ihre dichte Decke schlängeln können. Ausgehend von dieser Beobachtung argumentiert Kirkham, die Merremia-Plage sei die erste Phase der Walderneuerung auf Samoa. Tatsächlich verhindere ihr starkes Wachstum das Eindringen anderer, weitaus schädlicherer fremder Wildpflanzen.
Möglicherweise trifft das auf die geschädigten Landschaften zu, die Kirkham beschreibt: Merremia ist die bestmögliche Nachfolgerin. Diese Situation unterscheidet sich jedoch erheblich von der, die ich in Indonesien beobachtet habe, wo die dörfliche Feld-Wald-Wechselwirtschaft Teil eines Kreislaufs von Gärten und Wäldern war, in dem Pionierbäume rasch nachwuchsen. Der nachwachsende Wald durchlief keine Merremia-Phase, bis die massiven Eingriffe durch die kommerzielle Holzfällerei, durch großflächige Waldbrände und den Straßenbau den Weg für Merremia frei machten. Danach war ungewiss, wie lange es dauern würde, bis neuer Wald nachwächst. Die in diesen Gegenden übliche schnelle Regeneration des Walds war blockiert.
Es gibt auch Orte im Pazifik, wo die Einheimischen Merremia verabscheuen. In Vanuatu nahm eine Gemeindeinitiative den Kampf gegen die Kletterpflanze auf, die hier big lif heißt. „Big lif überwuchert jeden Baum im Wald“, sagt Chief Solomon Tavue aus dem Dorf Matantas in einem Videointerview, das die Initiative online gestellt hat.4 „Wenn big lif in die Baumkronen kriecht, zerbricht die Krone unter dem Gewicht der Kletterpflanze und der Baum stirbt“, erklärt Bill Tavue, ein lokaler Naturschutzwart. „Die Blätter von big lif breiten sich am Boden aus und finden neue Bäume, an denen sie emporklettern können. Dann kontrolliert big lif den Ort.“ Die DorfbewohnerInnen machten sich vor allem Sorgen, dass die Australischen Kastanien (Castanospermum australe) nicht blühen würden, wenn big lif sie überwuchert, denn die Früchte dieser Bäume lassen sich gewinnbringend verkaufen. Während der Aktion marschierten die DorfbewohnerInnen dicht nebeneinander über den Waldboden und hielten alle paar Schritte an, um den kreuz und quer über den Boden wuchernden Ranken Herbizide zu injizieren. Als big lif abstarb, kehrten bald darauf die Vögel in den Wald zurück. Die Bäume erholten sich. Die Australischen Kastanien blühten, die DorfbewohnerInnen konnten ihre Früchte ernten und das Schulgeld für ihre Kinder bezahlen. Es war nicht unmöglich, big lif zu besiegen, aber es war viel Arbeit. Die neue Wildnis tendiert in diese Richtung: Wird der Kipppunkt überschritten, ist es nicht so einfach, die lokalen Ökosysteme wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen.
Angesichts dessen, was mit Merremia passiert, lohnt es sich, die eingangs gestellte Frage zu wiederholen: Was veranlasst einheimische Pflanzen, Tiere oder Pilze, das gewohnte Miteinander aufzugeben und eine Schneise der Verwüstung in der Landschaft zu hinterlassen? Leider ist Merremia dabei nicht allein. Viele Lebewesen sind durch den Angebotscharakter ökologisch gedankenloser Infrastrukturen zerstörerisch geworden. Das betrifft zum Beispiel den „Übergang zur Qualle“, der viel häufiger stattfindet, als FischliebhaberInnen es gerne hätten. Unter bestimmten Bedingungen (Überfischung, Umweltverschmutzung, Einschleppung exotischer Quallen, Erwärmung der Ozeane und mehr) gehen die Fischbestände zurück, und die Meeresfauna wird immer mehr von Quallen dominiert. Laut Martin Vodopivec und seinen KollegInnen besteht eine Ursache für die starke Zunahme von Quallen in der zunehmenden Verbreitung künstlicher Meeresinfrastrukturen („ocean sprawl“) wie etwa Erdgasplattformen.5 Die weitläufigen Infrastrukturen unter der Meeresoberfläche regen die sonst in geringer Zahl vorkommenden Quallenpolypen zum Klonen an. Anstatt sich schnell zu schwimmenden Medusen zu entwickeln, vermehren sich die Polypen auf den marinen Infrastrukturen und bringen letztlich noch mehr Quallen hervor. Marine Infrastrukturen fördern demnach Quallenblüten.
Elaine Gan dokumentiert den Wandel, durch den die braune Spornzikade, ein einst harmloses, von Reissaft lebendes Insekt auf den Philippinen, kurz nach der Grünen Revolution, das heißt, nach der Einführung von synthetischem Stickstoffdünger, zur größten Plage auf den Reisfeldern wurde.6 Die braunen Spornzikaden saugten den mit Stickstoff angereicherten Saft des so gedüngten Reises auf. Die angereicherte Nahrung, aber auch der Mangel an Feinden, die durch Insektizide getötet worden waren, veränderten die Zikaden. Ihre Reproduktionsrate stieg, sie passten sich schneller an lokale Gegebenheiten an und lebten länger. Die Grüne Revolution brachte eigene Widersacher hervor, die sich ausbreiteten und die verbliebenen traditionell arbeitenden Farmen zerstörten. Insekten werden zur ernsten Bedrohung für die Landwirtschaft, wenn die Agrarindustrie sie dazu macht.
Quallen profitieren von Infrastrukturangeboten, braune Spornzikaden beziehen Nährstoffe aus industriell angereicherten Nutzpflanzen. Würde es zu weit gehen, wenn ich diese Beispiele mit der „Anreicherung“ unserer Nahrungsmittel durch all jene Toxine vergleiche, die durch die achtlose Infrastrukturentwicklung geschaffen wurden, welche die Industrialisierung seit ihren Anfängen kennzeichnet? Die Historikerin Kate Brown untersuchte nach der Tschernobyl-Katastrophe die Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf die Umgebung und stieß zu ihrer Überraschung auf einen kleinen Wirtschaftsboom in den nahe gelegen Gemeinden, der auf dem Export wilder Blaubeeren basierte, von denen viele ziemlich radioaktiv sind.7 Blaubeeren nehmen Cäsium-137 aus den mineralstoffarmen Böden vor Ort auf, und ExporteurInnen liefern sie in die ganze Welt – als gesundheitsförderndes Bioprodukt.
Wenn durch den globalen Transport sowohl Lebewesen als auch Gifte „unabsichtlich“ in der ganzen Welt verteilt werden, tragen sie oft zur neuen Wildnis bei. (Aber kann die mangelnde Aufmerksamkeit für diese nicht menschlichen Mitreisenden nach so vielen Untersuchungen wirklich als „unabsichtlich“ bezeichnet werden? Wäre nicht „absichtlich unaufmerksam“ eine weitaus treffendere Beschreibung?) Manchmal ermöglicht die Kreuzung mit den per Frachtverkehr eingeführten exotischen Varianten den einheimischen Organismen, in dem von mir erwähnten erschreckenden Sinne „wild“ zu werden. In ihren Ausführungen über das Schilf an den Gräben und Ufern Nordamerikas fragen sich Tom Bassett und Carol Spindel: „Wie konnte sich eine umgängliche einheimische Art, die mit anderen im Einklang lebte, so schnell in eine mächtige, aufdringliche Superpflanze verwandeln?“8 Es handelt sich hier um das gemeine Schilfrohr Phragmites australis, das sowohl in Nordamerika als auch Europa gedeiht. Allerdings gab es von diesem Schilf auf beiden Seiten des Atlantiks unterschiedliche Populationen, bis eine europäische Unterart im Ballastwasser europäischer Schiffe nach Nordamerika eingeschleppt wurde. Der Ballast wurde in den sumpfigen, amerikanischen Zielhäfen der Schiffe abgelassen. Von dort breitete sich die europäische Unterart aus und hybridisierte. Die neuen Kreuzungen verhalten sich ganz anders als das ursprüngliche amerikanische Schilfrohr. Sie verbreiten sich nicht nur viel schneller, sondern konkurrieren erfolgreich mit anderen Pflanzen, die sie vollständig aus den Gebieten verdrängen, in denen Phragmites Fuß gefasst hat. Wie Merremia beansprucht die Phragmites-Kreuzung diese Territorien für sich allein. Laut Bassett und Spindel ist die „verbesserte“ Phragmites „eine mächtige Kämpferin mit verschiedenen Superkräften … Die Menschen mähen und vergiften sie, aber wie Rasputin kehrt diese Pflanze immer wieder zurück.“
Die schrecklichste Geschichte habe ich für den Schluss aufgehoben. Es ist die Geschichte des Pilzes Batrachochytrium dendrobatidis, gemeinhin bekannt als Chytridpilz oder BD. Er tötet nicht nur einzelne Frösche, sondern rottet weltweit verschiedene Froscharten aus. Fast alle WissenschaftlerInnen, die sich mit BD befassen, vertreten die Ansicht, dass die von ihm ausgelöste Erkrankung durch den globalen Handel zur Epidemie wurde, insbesondere durch den Versandhandel mit marktgängigen Froscharten, die den Pilz in sich tragen, aber nicht daran sterben.9 Einige weisen zudem darauf hin, dass aus diesem Handel ein globaler, hypervirulenter BD-Stamm hervorgegangen sei.10 Durch den Transport sowohl der Frösche als auch des Pilzes, der sie weltweit in großen Zahlen tötet, scheint sich der Handel als Nährboden für Virulenz erwiesen zu haben. Durch den Handel werden nicht nur Dinge von A nach B bewegt, er kann auch dafür sorgen, dass einheimische Krankheiten wild werden.
Was veranlasst einheimische Pflanzen, Tiere oder Pilze, das gewohnte Miteinander aufzugeben und eine Schneise der Verwüstung in der Landschaft zu hinterlassen? Wenn das Anthropozän die Epoche ist, in der Eingriffe durch den Menschen zur gefährlichsten Kraft auf der Erde geworden sind, dann ist diese „neue Wildnis“ ein wesentlicher Teil davon. Uns obliegt nicht nur, mehr über sie zu erfahren, sondern ihre Schrecken und ihr trügerisches Verhalten auch zu spüren. Betrachte ich Merremia, fühle ich mich von ihrem Blättervorhang wie erstickt. Doch Merremia auszulöschen, würde das Problem nicht einmal annähernd lösen. Wenn es nicht Merremia ist, wäre es ein anderes Gewächs. Ich mache nicht die Pflanze verantwortlich. Es sind die absichtlich unaufmerksamen industriellen und imperialen Praktiken, die die neue Wildnis durch ihren Angebotscharakter geschaffen haben. Können wir das ändern? Sagen Sie es mir …
Erstmals veröffentlicht von Little Toller Books/The Clearing (Dezember 2018) auf https://www.littletoller.co.uk/the-clearing/. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von The Clearing und Anna Tsing.
Ich danke Jennifer Deger, Alder Keleman und Feifei Zhou, mit denen zusammen ich das Projekt Feral Atlas: the more-than-human Anthropocene kuratiere, ein digitales Archiv, Spiel und Recherche- und Unterrichtswerkzeug zur Dokumentation dessen, was ich hier als „die neue Wildnis“ bezeichne; siehe https://feral-atlas-staging.netlify.app/.
Übersetzt von Gülçin Erentok
[1] Vgl. Deborah Bird Rose, Multispecies knots of ethical time, in: Environmental Philosophy 9(1), 2012, S. 127–140.
[2] Vgl. Jani Master/Sri S. Tjitrosoedirdjo/Ibnul Qayim/Soekisman Tjitrosoedirdo, Ecological impact of Merremia peltata (L.) Merrill invasion on plant diversity at Bukit Barisan Selatan National Park, in: Biotropia 20(1), 2013, S. 29–37.
[3] Vgl. William Kirkham, Valuing invasives: understanding Merremia peltata invasion in post-colonial Samoa, PhD Dissertation, University of Texas, Austin, 2005.
[4] https://www.youtube.com/watch?v=Au2lWVhPBp8.
[5] Vgl. Martin Vodopivec, Alvaro Peliz und Alenka Malej, Offshore marine constructions as propagators of moon jellyfish dispersal, in: Environmental Research Letters 12(8), 2017; https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/aa75d9/pdf.
[6] Vgl. Elaine Gan, An unintended race: miracle rice and the Green Revolution, in: Environmental Philosophy 14(1), 2017, S. 61–81.
[7]. Vgl. Kate Brown, Radioactive blueberries, in: Anna Tsing/Jennifer Deger/Alder Keleman/Feifei Zhou (Hg.), Feral Atlas: the more-than-human Anthropocene, digitales Projekt, in Vorbereitung; https://feral-atlas-staging.netlify.app/.
[8] Vgl. Tom Bassett/Carol Spindel, Entangled species: Phragmites and humans in North America, in: Feral Atlas: the more-than-human Anthropocene, digitales Projekt, in Vorbereitung; https://feral-atlas-staging.netlify.app/.
[9] Matthew Fisher/Trenton Garner/Susan F. Walker, Global Emergence of Batrachochytrium dendrobatidis and Amphibian Chytridiomycosis in Space, Time, and Host, in: Annual Review of Microbiology, 63, 2009, S. 291–310.
[10] Vgl. Rhys A. Farrer/Lucy A. Weinert/Jon Bielby/Trenton W. J. Garner/Francois Balloux/Frances Clare/Jaime Bosch/Andrew A. Cunningham/Che Weldon/Louis H. du Preez/Lucy Anderson/Sergei L. Kosakovsky Pond/Revital Shahar-Golan/Daniel A. Henk/Matthew C. Fisher, Multiple emergences of genetically diverse amphibian infecting chytrids include a globalized hypervirulent recombinant lineage, in: PNAS, 15. November 2011, 108(46), S. 18732–18736.